Die verstehen grundsätzlich von dem, was sie lehren, nicht die Bohne. Nicht einmal theoretisch. Aber sie sind hochangesehen und im ernst, von ihnen können Sie getrost einen Gebrauchtwagen erwerben. Sie würden bestimmt nur unabsichtlich von denen übers Ohr gehauen. Einen Tacho zurückdrehen, nein, so etwas machen die nicht.
Der Status und alles drum herum werden viel zu wichtig genommen. Die Intellektuellen müssen verstärkt eine Balance zwischen Wissensanwendung und belastbarer Körperlichkeit hinbekommen, sonst überschätzen sie sich maßlos und sind nicht mehr glaubhaft. Ohne eine solche Bodenhaftung werden sie in Zukunft kaum lösungsorientiert und evidenzbasiert arbeiten können. Wie man an den vielen Experten mit ihren falschen Prognosen gerade bei den nicht enden wollenden Krisen augenfällig wahrnehmen kann. Ich würde gerne das höchste natürliche Ziel des Menschen aus philosophischer Sicht erreichen: Die Glückseligkeit! Möglichst zu Lebzeiten. Also noch weitaus unangepasster werden als ich bin. Sinnlich und geistig mit meinem Schicksal einig zu sein, ist mein Traum.“
„Deshalb wollen Sie jetzt Tennis spielen?“
„Auf einen kurzen Nenner gebracht: Ich will das Leben spüren!“
„Sind Sie denn ein guter Tennisspieler?“
„Ich weiß es noch nicht, weil ich keinen Vergleich habe. Kaum vorstellbar, dass ich jemals Mitglied im Lawn Tennis Club von Wimbledon werde, denn der leichteste Weg dort hineinzukommen ist ein Wimbledon-Sieg, wie man jedes Jahr im Sportteil der besseren Zeitungen lesen kann. Ich weiß nicht, ob Sie schon bemerken konnten, dass es beim Tennis um ein Duell geht mit bemerkenswert geringer Verletzungsgefahr, sozusagen um eine medievale Metapher und aktive Meditation?“
„Haben Sie überhaupt schon mal gespielt?“
Jonathan Seyberg lachte fröhlich.
Ich schämte mich sofort wegen der blöden Frage. Natürlich wird er.
„Bei allem, was ich gerne tue, bin ich Autodidakt. Die Lehrer vermiesen manches. Niemand kann einem die Dinge, die man besonders gut können will, letztlich wirklich beibringen. Gottlob können die kleinen Kinder schon laufen, bevor es ihnen ihre Eltern lehren. Es geht immer ganz plötzlich. Ich glaube an Instinkte.“
„Sie haben tatsächlich noch nie einen Schläger in der Hand gehabt und wollen jetzt mit über Fünfzig, wahrscheinlich weil es im Fernsehen immer so leicht aussieht, auf Anhieb Grand-Slam-Sieger werden“, stichelte ich.
„Im Fernsehen sieht immer alles leicht aus, neuerdings sogar die Kriege, die sicherlich manche Leute für Videospiele halten. Aber alles, was kinderleicht aussieht, gerade auch im Sport, ist besonders schwierig“, sagte er ernst.
Wir vertieften das Thema an jenem Abend nicht weiter, aßen zum Abschluss des Dinners, zu dem er mich eingeladen hatte, wie ich erfreut erfuhr, noch unser obligatorisches Mousse au Chocolat und verabschiedeten uns.
Auf dem Heimweg sah und spürte ich nichts von dem, was um mich herum geschah. Hörte nicht den brausenden Verkehr, achtete nicht auf die blinkenden Lichter. Jedenfalls kam es mir hinterher so vor. Doch, der Mann war schon sehr beeindruckend. Ich wollte ein Buch über ihn schreiben. Ein Intellektueller, der nur noch Tennis spielen will. Ich war mir nicht sicher, ob er nur gescherzt hatte. Eine falsche Spur gelegt. Doch die Story ließ mich seit diesem Abend nicht mehr los.
Ich begann darüber nachzudenken, wie der Titel und der Anfang aussehen könnten. So wie tatsächlich alles begann oder doch lieber ganz anders. Jonathan Seyberg war ein fast stereotyper Erfolgsmensch bis zu dem Tag, als er sich entschloss, sein bisheriges Leben vollständig umzukrempeln und sich auf die eine einzige Sache zu konzentrieren, die ihm am meisten Spaß machte: Tennis! Würde ich ihn, seine Person und Gegenwart brauchen, um diesen Roman zu schreiben? Oder ist nicht die Frage, ob ein Mann heute noch zu sich finden kann, an sich interessant genug? Kann er das tatsächlich noch in unserer digitalisierten, emanzipatorischen, konsumorientierten Welt? Kann er sein Ich und Selbst wahrhaftig leben? Gelingt es ihm, den Pessimismus des Intellekts mit dem Optimismus des Willens zu verbinden? Kann er glücklich sein?
Als ich Jonathan Seyberg meine Visitenkarte gab, nein, ich überreichte sie, denn was meinen Namen trug war mir fast heilig, und um seine bat, sagte er völlig ungeniert: Ich habe mir nie eine Karte drucken lassen, weil ich immer selbst da war, wenn es zu diesem Ritual des Austausches kam. Es mag praktisch sein, besonders für Japaner und Leute mit komplizierten Titeln. Ich erwarte eigentlich, dass man sich meinen Namen merken kann oder wenigstens bei Wikipedia googelt und so auf Informationen stößt, vielleicht sogar auf meine Homepage findet. Rufen Sie mich doch einfach in Cambridge an, sie wissen schon, nicht hier auf der Insel, sondern jenseits des Ozeans in Massachusetts.
Je länger ich darüber nachdachte, desto sicherer wurde ich, dass ohne den Typ die Geschichte nicht lief. Ich wusste einfach zu wenig über diesen Sport. Eine tolle Sache, diese spleenige Tennis-Idee. Bestimmt hatte er mich an der Nase herumgeführt. „Journalisten sind die schlechtesten Menschenkenner, die es gibt“, hatte er mir beim Abschied noch mit auf den Weg gegeben. Und ungefragt gleich die Begründung mitgeliefert: „Ich kenne viele international berühmte Geldsäcke persönlich, genau die Burschen, die ihr immer interviewt und gelegentlich preiskrönt als Person des Jahres von irgendetwas. Also, was so über die in den Medien berichtet wird, ist fast immer total falsch und beim kleinen verbleibenden Rest haarscharf daneben. Niemals ist auch nur ein wahres Wort dran, wenn ihr über die Motive für edle Taten aller Art schreibt. Alles nur Public Relations, das Synonym für faustdicke Lügen.“
Ich brauchte einige Zeit um mich zu sammeln und hatte auch erst noch einige Artikel fertig zu stellen, für die es Termine gab. Doch dass ich ihn anrufen würde, war klar. Schon in der nächsten Woche. Wie war das noch mal mit der Zeitverschiebung? Sechs Stunden waren wir früher als die amerikanische Ostküste. Über Harvard hatte ich mir längst seine Privatnummer besorgt. Es gibt da ein öffentliches Register, in das man nur den Vor- und Nachnamen eintippen muss. Ganz einfach. Es gibt an der Universität sogar geführte Besichtigungstouren und eine eigene Polizei-Abteilung, bei der man seinen Laptop und sein Fahrrad registrieren kann. Ganz interessant für mich als Journalist war die Aufzählung sogenannter sensitiver Straftaten: Vergewaltigung und sexuelle Nötigung, Schlägerei, häusliche Gewalt, Verbrechen aus Hass, Belästigung und Diebstahl der Identität. So ganz friedlich klang mir das allerdings nicht. Schien ein ziemlich gefährlicher Ort zu sein so ein Campus. Nun, ich hatte auch nicht vor, dort hin zu fliegen und die Uni, die in ihrem Wappen den Namen der römischen Göttin der Wahrheit „Veritas“ führt, in Augenschein zu nehmen.
„Langeweile“, hatte der Professor in seiner unnachahmlichen Art formuliert, „ist der Zustand, der durch die Dehnung des Zeiterlebens gekennzeichnet ist. Gleichförmig wiederkehrende Reize, die schließlich nicht mehr als solche wahrgenommen werden, führen zur Erlebnisarmut, die ein Gefühl der Unausgefülltheit hervorruft. Der neurotische Ausweg, der Muße nicht fähig zu sein, ist der Zeitvertreib. Die als Langeweile erlebte Zeitdehnung wird künstlich geschrumpft, indem sie mit vermeintlichen Erlebnissen überfrachtet wird. Gerade in der Freizeit und im Urlaub. Dem technischen Fortschritt folgend, alles müsse schneller gehen, um mehr Zeit zu haben, wird die eingesparte Zeit ebenfalls mit großer Hektik beschleunigt, indem sie reizüberflutet wird.“
Ich hatte mich so in meine Notizen vertieft, dass ich sein schwaches, amerikanisch-optimistisches Hallo fast überhörte. „Hallo, Mr. Seyberg“, stotterte ich. „Natürlich können wir jetzt die Wetternachrichten austauschen wie in den meisten Transatlantikgesprächen und auch die Ortszeiten vergleichen, aber um was geht s wirklich?“
„War das mit dem Tennisspielen ernst gemeint?“
„Lieber Freund“, hörte ich am anderen Ende der Leitung vergnügt, „Cicero und der lebte immerhin 106 – 43 vor Christus, hat einmal gesagt: Die Seele sehnt sich immer danach, etwas zu tun.“
„Ihre Seele also? Die Seele ist es, die Sie antreibt!“ rief ich spontan in die Muschel.
„Nun“, sagte er, „der Mensch hat als einziges Lebewesen die Sprache und die Möglichkeit, sein Leben zwischen Geburt und Tod, aber auch darüber hinaus – zumindest im Seelischen – selbst zu gestalten. Trotzdem ist der Mensch unendlich anfälliger als das Tier. Weil