Joachim Kath

Der Intellektuelle, der klug genug war, sich nicht dafür zu halten


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klingt alles sehr vorsichtig und nicht besonders kritisch für einen Intellektuellen“, versuchte ich den Professor aufzustacheln.

      Er nahm einen Schluck von dem ausgezeichneten marokkanischen Wein und ließ ihn genießerisch durch die Kehle rinnen. Erst dann begann er mit Bedacht: „Ich kenne dieses Land seit Jahrzehnten und war immer mal wieder hier. Es ist für mich nicht möglich, zu verifizieren, was die Opposition im Exil berichtet. Wie gravierend die Repressionen waren, ob es Folter gab, wie viele Menschen spurlos verschwanden. Selbstverständlich bin ich grundsätzlich gegen jede Art von Unterdrückung und Gewalt, nur als Tourist liest man höchstens darüber und bekommt im Land selbst davon nichts mit. Es ist nicht möglich, sich sein eigenes Bild zu machen. Schon gar nicht, wenn man nicht arabisch spricht.

      Die Landschaft und die Menschen finde ich großartig. Marokko ist als Reiseland sehr sehenswert. Es gibt einen vorzüglichen Wein, die Weinberge haben noch die Franzosen angelegt und die verstehen bekanntlich das Winzerhandwerk. Die Königsstädte Rabat, Fès und Marrakesch oder eine Fahrt durch das wildromantische Atlasgebirge bis hinein in die Sahara gehören zu meinen beeindruckensten optischen Erlebnissen. Es ist, den Tourismus weggedacht, fast noch eine Reise in 1001 Nacht mit Märchenerzählern und Schriftgelehrten, die anderer Leute Post auf der Straße erledigen und mit Schlangenbeschwörern sowie Heilkundigen, die vor der gaffenden Meute Zähne reißen.

      Ich war vor mehreren Jahrzehnten zum ersten Mal in diesem Land. Damals bin ich von Marrakesch aus mit dem Bus bis nach Quazazarte gefahren. Ich hatte mir extra ein Ticket 1. Klasse geleistet, wie sich herausstellte, war es der Sitz hinter dem Fahrer. Im Heck wurde das Publikum immer bunter, am Ende bestand es aus Ziegen und Hühnern. Der alte Bus schnaufte die Serpentinen hoch und runter ging es dann in einer lebensgefährlichen Schussfahrt unter ständigem Hupen. Die Bremsen wurden dagegen nie betätigt. Jedenfalls kam es mir bei dieser Höllenfahrt so vor. In jedem Dorf wurde angehalten. Wer einkaufen wollte, stieg aus um das an Haken hängende Fleisch zu befühlen und die Fliegen zu verscheuchen, während im Gegenzug einige blinde Bettler den Bus erklommen und sich tastend durch den Mittelgang bewegten. So ging die Fahrt stundenlang, bis endlich nach ungezählten Stopps unter dem Gejohle der gesamten Passagiere der erfolgreiche Kauf eines Huhnes gefeiert werden konnte.

      Diese unmittelbaren Eindrücke ursprünglichen Lebens haben Sie natürlich nicht in Agadir, der ganz auf europäische Touristen eingerichteten, neuen Stadt. Hier sind tatsächlich ganzjährig das Meer mit dem breiten Sandstrand und praktisch das gesamte Jahr über, bis auf Juli und August, wo es zu heiß ist, Tennis und Golf die drei Attraktionen“, sagte Jonathan Seyberg.

      Ich wunderte mich, dass er überhaupt nicht von seinen sportlichen Aktivitäten sprach und brachte deshalb das Thema selbst darauf, denn ich wollte ihn endlich spielen sehen. „Morgen soll im Kasbah Club das Gästeturnier losgehen“, sagte ich, weil ich ein Plakat mit der Ankündigung gesehen hatte. Seit Kindesbeinen an war ich ein Sportfan. Keiner von der ausübenden Sorte, sondern eher Zuschauer und Statistiker. Genaugenommen konnte ich die Wimbledon-Sieger seit 1892 aufzählen, aber auch die Fußball-Weltmeister und Olympiasieger. Natürlich hatte das keinen praktischen Nutzen außer den, dass ich gelegentlich Sportglossen schrieb, unter mehreren Pseudonymen, schon weil niemand den Redaktionen im Mutterland des Sports glaubwürdig erschien, der vorgab, in der großen weiten Welt des Sports so gut wie alles zu wissen. Da waren sie sehr speziell.

      Manche sehen so unsportlich wie Sofakissen aus, werden aber zu Kugelblitzen, sobald ein Ball in Sichtweite kommt. Mir hätten alle in jungen Jahren eine steile Laufbahn als Profi zugetraut, solange ich auf einem Stuhl saß. Ich sah wirklich extrem sportlich aus. Doch das Antizipationsvermögen war in unserer Familie ungefähr so ausgeprägt wie bei griechischen Statuen. Niemand konnte sich das medizinisch erklären, aber unsere Nervenbahnen schienen überall außerhalb des Gehirns unterbrochen zu sein, besonders in den Armen und Beinen.

      „Das Turnier morgen organisiert ein steinalter Franzose, der hier vor dreißig Jahren hängen geblieben ist. Er sieht seit Jahren genauso aus wie immer. Der lässt einfach die Schläger der Teilnehmer auf einen Haufen werfen und zieht dann nach Gutdünken einen nach dem anderen hervor. Ich weiß nicht, ob er sich merkt, wem welcher Schläger gehört. Manchmal lässt er Prince gegen Price spielen, oft aber auch Head gegen Wilson. Ich denke, er hat da kein System. Nur wenn Babolat kommt, wird er schon mal hellwach, und wenn dann Lacoste dran ist, was selten genug vorkommt und viel seltener als bei den Hemden, dann ruft er immer: „Attention, s’il vous plait!“ Angeblich hat er noch selbst gegen Henri Lacoste persönlich gespielt, oder ihn spielen sehen, den sie das Krokodil nannten. So entstehen Weltmarken!“

      „Es ist also reiner Zufall, gegen wen Sie antreten!“ stellte ich trocken fest.

      „Grundsätzlich schon, aber zu rund 90 Prozent ist es hier in Agadir ein französisch sprechender männlicher Mensch unter siebzig Jahren.“

      „Bon Chance!“ versuchte ich mich romanisch.

      „Ich bin kein in seinem Selbstverständnis erschütterter moderner Mann. Es kommt mir gar nicht so sehr auf den Erfolg an. Erfolg ist so ziemlich das abgenutzteste Wort, das ich kenne. In dem vergangenen Vierteljahrhundert habe ich es täglich oft mehrmals als Programm vernommen. Alle meine Bratungsklienten wollten Erfolg haben und ich habe sie in diesem Bestreben tatkräftig unterstützt. Doch sie sahen den Erfolg meistens nur betriebswirtschaftlich, als Unterschied zwischen Erlös und Kosten, also Ertrag und Aufwand. Das ist mir heute eine viel zu enge Betrachtungsweise. Der zahlenmäßig ausgedrückte Erfolg oder Misserfolg, sagen wir mal, ob ich einen Satz 6:0 gewinne oder 0:6 verliere, beziffert nicht meine Freude an diesem Spiel. Die Herausforderung besteht in der ständigen Wahrscheinlichkeit des Scheiterns und dem Erleben des Momentums eines ganz speziellen Glücksgefühls, dass sich mit jedem gelungen Schlag wiederholt. Wenn ich gegen einen wahren Meister ungefähr eine Stunde durchhalte, bis er die zwei Sätze gewonnen hat, sind mein Erlebnis und das Ergebnis positiver als wenn ich gegen einen blutigen Anfänger leichtes Spiel habe.

      Damit will ich ausdrücken: Erfolg ist relativ! Meistens sind die herausposaunten Erfolgsmeldungen reiner Zweckoptimismus. Der wirkliche Sieger gibt sich bescheiden. Ich weiß, das ist altmodisch, aber es gibt eine Erfolgsethik. So etwas wie die philosophische Beurteilung des menschlichen Handelns nach seiner Wirkung. Und wenn ich genau hinschaue, was ich gelegentlich tue, sind viele der von euch Schreiberlingen hochgejubelten Supererfolgreichen bedauernswerte Neurotiker, die als Neidobjekte am allerwenigsten taugen.“

      „Wollen Sie denn nicht gewinnen?“ fragte ich scheinheilig.

      „Natürlich gehe ich auf den Platz um zu gewinnen. Alles andere wäre grob unsportlich. Doch ich muss nicht um jeden Preis gewinnen. Mir ist vor allem wichtig, auch bei einem turmhoch überlegenen Gegner locker zu bleiben. Es ist leichter gesagt als getan. Doch es ist auf dem Tennisplatz deshalb leichter als im richtigen Leben, weil er überschaubarer ist und sich nicht verändert. Ich liebe Klarheit und Eindeutigkeit.

      Am nächsten Tag lief alles so ab, wie Jonathan Seyberg es beschrieben hatte. Nur das der alte Franzose René einen Schwächeanfall erlitten hatte und sein marokkanischer Assistent die Ziehung vornahm, der es ihm aber nicht recht zu machen schien. Der Greis hockte auf den weißgetünchten Steinstufen der kleinen Tribüne unter einem schattenspendenden Baum und schrie und gestikulierte. Niemand verstand ihn, niemand hörte mehr auf ihn. Er trug einen grasgrünen Trainingsanzug. Über das erste Match von Jonathan gibt es wenig zu berichten. Er verlor sang- und klanglos gegen einen baumlangen Wallonen, französisch sprechend, stimmte immerhin wie vorausgesagt. Aber sonst verhielt sich sein Gegner ziemlich unorthodox. Er baute sich einfach, nachdem er spitz bekommen hatte, dass Jonathan seine Schläge nicht voll durchzog, etwa in Höhe der Aufschlaglinie auf und vollierte fast alles, was kam. Bis auf die Aufschläge, die bekanntlich im Feld aufspringen müssen. Der Professor versuchte es mit Passierschlägen und Lobs. Doch erstere waren nicht scharf genug und letztere zu kurz. Der Riese stand im Niemandsland, exakt auf der für den Rückschläger schlechtesten Position und retournierte, was er mit seinen windmühlenflügellangen Armen erreichen konnte. Er war sehr sicher über Kopf, legte sich beim Schmetterball mächtig ins Kreuz, bewegte sich ansonsten aber wenig, weil er es auch gar nicht musste.

      „Ich hatte das Gefühl, gegen eine lebende Gummiwand zu spielen“, sagte Jonathan lächelnd,