Herbert Speer

Zlatorog


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„Echt?“, fragte Michael. „Wow, das ist stark. Das muss ich ausprobieren!“

      Sophie verstaute den Reiseführer in ihrer Handtasche und griff nach dem Fotoapparat.

       „Lächeln“, sagte sie zu ihren Eltern und drückte ab. Dann drehte sie sich um und knipste ihren Bruder, wie er die Hand ins Wasser hielt. Als nächstes war der Bootsmann dran, der sie mit kräftigen Ruderstößen der Insel näher brachte.

       Nach etwa einer halben Stunde Fahrt legten sie an. Die letzten Minuten waren die spannendsten gewesen, denn da war die Kirche immer riesiger vor ihnen erschienen und erst kurz vor der Landung wurde ihnen bewusst, wie groß sie eigentlich war und wie hoch oben sie lag. Denn obwohl die Insel winzig klein war, ragte sie doch steil aus dem Wasser.

       Der Bootsmann vertäute die Gondel und wies die Gäste darauf hin, dass er in einer halben Stunde wieder ablegen werde.

       „Nur eine halbe Stunde?“

      Kai klang enttäuscht.

       „Ich hatte gehofft, etwas mehr Zeit zu haben.“

       „Ach, ist doch egal. Dann beeilen wir uns einfach.“

      Michael blickte seine Eltern Erlaubnis heischend an und als diese nickten, lief er los. Kai folgte ihm, in einigem Abstand auch Sophie, die sich erst gründlich umsah. Das Erste, das ihr auffiel, war, dass die Insel dicht bewaldet war. Das Zweite war, dass es einen Uferweg gab. Doch die Jungs hatten einen anderen Pfad eingeschlagen, einen, der sie einen Hang hinauf zum Fuß einer langen steilen Treppe führte.

       „Wartet mal auf mich!“

      Michael und Kai waren schon fast oben angelangt. Sophie zählte die Stufen. Es waren neunzehn bis zum ersten Absatz, dann noch einmal neunzehn und noch einmal. Zum Abschluss kamen zwanzig Stufen. Außer Atem kam sie oben an, wo die beiden Jungen schon standen. Zorro stand schwanzwedelnd neben den Jungen. Er hatte die Treppe am schnellsten erklommen.

       „Und wo ist jetzt die Kirche mit der Wunschglocke?“

      Sophie sah sich fragend um.

       „Gleich hier vorne.“

      Michael stürmte schon weiter.

       „Vorwärts! Ich will endlich meinen Wunsch loswerden.“

      Kai folgte dem Freund auf dem Fuße. Dann kamen Zorro und Sophie.

       Die Kirche war nicht sonderlich groß, doch sie war sehr hoch. Es herrschte eine feierliche Stille, die nur durch das Klicken der Fotoapparate der anwesenden Touristen gestört wurde. Michael und Kai hatten schon den vorderen Teil der Kirche erreicht, wo nahe des Altars ein Seil von der Decke herabbaumelte. Kai hängte sich als erster daran. Er schwankte hin und her. Doch die Glocke wollte einfach nicht läuten.

       „Lass mich mal ran!“

      Kai ließ erschöpft los und machte Platz für seinen Freund. Michael packte zu und zog so kräftig er nur konnte. Dann wartete er einen Moment und tatsächlich begann sich die Glocke, die man nicht sehen konnte, da sie sich oberhalb der geschlossenen Decke befand, zu rühren.

       Michael grinste zufrieden und forderte Sophie auf, es auch einmal zu versuchen. Er war überzeugt davon, dass sie es nicht schaffen würde, nachdem ja bereits Kai gescheitert war und der war immerhin ein Junge. Doch Michael irrte sich. Sophie hatte keine Mühe damit, die Glocke zum Klingen zu bringen.

       „Es kommt nicht auf Kraft an“, sagte sie zu ihrem Bruder, „sondern auf Köpfchen!“

      Während sich die Eltern an dem Seil versuchten, sah sich Sophie in der Kirche um. Über dem Eingang prangte ein von Engeln gehaltenes Wappen. Daneben hingen Gemälde an der Wand. Über all dem erstreckte sich die Empore mit einer mächtigen Orgel.

       Sophie trat in den Vorraum und von dort in einen kleinen hellen Nebenraum. Hier waren auf Tischen Modelle der Insel dargestellt, welche die verschiedenen Baustufen der Kirche zeigten. Wieder im Freien, entdeckte sie einen kleinen Kiosk mit Andenken.

       „Dober dan“, sagte sie zu der Verkäuferin, die freundlich zurück grüßte.

       Sophie betrachtete die Auslage. Neben unzähligen Postkarten gab es bedruckte T-Shirts, Motivteller und allerlei Krimskrams.

       „Haben Sie einen bestimmten Wunsch?“, fragte die Frau in einwandfreiem Deutsch. Sophie fühlte sich geschmeichelt. Allerdings nicht deswegen, weil sie auf deutsch angesprochen wurde, sondern weil die Frau sie gesiezt hatte.

       „Ich weiß noch nicht. Ich suche ein kleines Andenken... an diese Insel... an die Glocke...“

       „Da haben wir etwas. Hier!“

      Die Verkäuferin reichte Sophie ein kleines Schächtelchen.

       „Öffnen Sie es.“

      Sophie tat es und zog eine vergoldete Glocke hervor, auf der in geschwungener Schrift das Wort „Bled“ stand. Mit einem Bändchen war noch ein kleines Heft daran befestigt, auf dessen Titelseite die Insel samt Kirchturm abgebildet war. Über dem Bild stand „Bled“, darunter „Slovenija“.

       „Ja, die gefällt mir, die nehme ich.“

      Sophie zog ein paar Euromünzen hervor, die sie von ihren Eltern erhalten hatte, und reichte sie der Verkäuferin. Mit „Nasvidenje“ verabschiedete sie sich.

       Kaum hatte sie sich umgedreht, entdeckte sie auch schon Michael und Kai. Die beiden saßen auf einer weißen Parkbank und lutschten Eis. Michael ereiferte sich gerade lautstark.

       „Ich habe mir gewünscht, dass Bayern zehnmal hintereinander Meister wird.“

       „Aber Michael“, schaltete sich Sophie sofort ein. „Du darfst deinen Wunsch doch nicht aussprechen!“

       „Was? Wieso denn nicht?“

      Michael sah seine Schwester entrüstet an.

       „Na, weil er dann nicht mehr in Erfüllung gehen kann!“

       „Warum denn nicht?“

       „Weil das mit Wünschen nun mal so ist! Man muss sie für sich behalten, nur dann können sie wirken.“

      Michael machte ein betretenes Gesicht und bekam den Mund nicht mehr zu. Kai musste lachen.

       „Dann wird Bayern vielleicht gar nicht mehr Meister!“

       „Ich finde das gar nicht lustig“, gab Michael zurück. „Was hast du denn da?“

       „Das ist ein Modell der Wunschglocke!“

      Sophie setzte sich zwischen die beiden Jungs und zeigte stolz die kleine Glocke.

       „Wow! Ist ja stark! Was steht denn in dem Heft?“

       „Ich lese es euch vor: Die sogenannte ‚Wunschglocke‘ wurde in der jetzigen Form im Jahre 1534 von Franziskus Patavinus gegossen. Auf dem Bleder Schloss lebte ungefähr zu dieser Zeit eine untröstbare junge Witwe. Ihr Ehemann wurde von Räubern erschlagen und sein Leichnam in den See geworfen. Sie nahm alles Gold und Silber, das sie hatte, und ließ eine Glocke für die damalige Kapelle auf der Insel gießen. Aber die Glocke kam nicht dorthin. Sie wurde, samt dem Boote und den Fuhrleuten, in einem schrecklichen Sturm im See begraben. Sie ertönt aber manchmal aus der Tiefe des Sees...“

       „Aber wir haben sie doch gerade erst geläutet, da kann sie doch nicht auf dem Grund des Sees liegen“, protestierte Michael.

       „Die Geschichte ist ja auch noch nicht zu Ende. Hört nur weiter zu: Die verzweifelte Witwe spendete all ihr Hab und Gut für den Bau einer neuen Kirche auf dem See, verließ das Schloss und reiste nach Rom ab, wo sie in ein Kloster eintrat, das sie bis zu ihrem seligen Ende nicht verließ. Nun weihte der Papst eine neue Glocke und sandte sie auf die Bleder Insel. Jedermann, der diese ‚Wunschglocke‘ ertönen lässt und einen Wunsch an die ‚gnadenvolle Frau im See‘ richtet, dem geht eine Bitte in Erfüllung.“

       „Na also!“

       Michael stand auf und zeigte ein triumphierendes Lächeln.

       „Was ‚na also‘?“, fragte Sophie.

       „Da steht nichts von wegen, dass man seinen Wunsch nicht aussprechen darf. Also geht er doch in