Jo Jansen

Nach(t)Klang


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trotzig das Kinn vor.

      Ach Mama, was ich noch fragen wollte – Hast du das Rezept von Omis Keksen?“

      „Nein. Ich hab die Kekse nie gemocht.“

      „Und ich hab sie geliebt, aber nie danach gefragt“, Daniel schluckte. „Nun ist es zu spät.“

      Wenn Daniel an den nächsten Tagen von der Arbeit kam, fand er immer wieder Krümel seiner Lieblingskekse im Haus. Er konnte sich das nicht erklären, vermutete zunächst, dass er Mäuse als Untermieter hätte. Das würde zumindest erklären, warum er sich manchmal einbildete, oben im Schlafzimmer leise Schritte zu hören. Aber würden Mäuse die Krümel nicht fressen, anstatt sie zu verstreuen? Außerdem war die einzige Dose, in der sich noch eine Handvoll Kekse befanden, fest verschlossen. Trotzdem lagen an einem Abend Kekskrümel auf dem Teppich. Am nächsten Abend im Flur. Am übernächsten Abend auf der Treppe zum Obergeschoss. Und der Duft von Nonchalance wollte einfach nicht verfliegen, er schien überall im Haus zu sein. Und nicht nur dort. Gestern hatte sein Lehrmeister Daniel gefragt, was er für ein seltsames Aftershave benutze.

      Es kam der traurige Abend, an dem ein Brief der Bank im Postkasten lag. Daniel solle sich bis Ende des Monats entscheiden, ob er das Haus verkaufen wolle, da man keine Möglichkeit sähe, ihn in den Kreditvertrag eintreten zu lassen. Ansonsten drohe Zwangsversteigerung. Es schien eine seltsame Fügung des Schicksals zu sein, dass ausgerechnet an diesem Abend Daniel die Dose öffnete und feierlich den letzten Keks in die Hand nahm.

      „Danke Omi“, sagte er und spürte, wie seine Augenwinkel feucht wurden. Er saß in dem alten Ohrensessel und sah hinüber zum Sofa. Warum war dort schon wieder eine Sitzkuhle auf der rechten Seite, so wie neulich, beim Besuch des Maklers – der sich übrigens nicht wieder gemeldet hatte. Und Kekskrümel! Diesmal waren es richtig viele Krümel. Nicht nur auf dem Sofa, sondern die Krümelei zog sich wie eine Spur über den Teppich, durch den Flur, die Treppe hinauf bis ins Schlafzimmer und dort zum alten Nähtischchen der Omi mit seinen großen und kleinen Schubladen. Das hatte Daniel bisher noch nicht angefasst, denn es war gefüllt mit Nähgarnrollen, Sternzwirn in allen Farben, Nadeln, Stopfgarn, Knöpfen … So manchem Mal hatte die Omi dort gesessen und flink einen Knopf angenäht oder ein Loch gestopft. Kann ich vielleicht noch mal gebrauchen, hatte Daniel gedacht und über sich selbst lachen müssen. Er konnte weder nähen noch stopfen, aber schien immerhin etwas von der Omi-Mentalität geerbt zu haben. Jetzt öffnete er vorsichtig eine Schublade nach der anderen. Zuerst die kleinen, die rechts und links angeordnet waren. Zuletzt die mittlere und größte von allen. Sie war voller Kekskrümel. Darunter lagen kleine Flicken und Stoffreste, fein säuberlich gefaltet und geschichtet. Daniel hob sie an und entdeckte am Boden der Schublade eine flaches Holzkästchen. Er zog es heraus und öffnete es. Zuoberst lag ein Zettel. Darauf enge Zeilen, geschrieben in einer altmodischen, verschnörkelten Handschrift, die ihm sehr vertraut war. Daniels Herz schlug heftig, als er zu lesen begann:

      Daniel, mein Herzblatt,

      wenn Du dies liest, werde ich nicht mehr am Leben sein. Bitte sei nicht traurig, denn ich hatte ein schönes Leben und viel Freude an Dir, meinem Enkel. Darum habe ich immer gesagt, Du sollst einmal mein Häuschen bekommen. Ich weiß, dass am Haus viel zu reparieren ist, bis Du hier einmal mit Frau und Kindern glücklich sein kannst. Das kostet Geld – das Du nicht hast und das ich nie hatte. Darum habe ich vor einigen Jahren eine Hypothek auf das Häuschen aufgenommen und das Geld hoffentlich gut investiert. Ich habe zu der Wiese vor der ehemaligen Stadtmauer, die bereits meinem Großvater gehörte, noch die Nachbarwiesen dazu gekauft, die brach lagen. Inzwischen steht dort das Einkaufszentrum, das Jahr für Jahr eine ordentliche Pacht für das Grundstück einbringt. Das Geld fließt auf das unten angegebene Bankkonto. Es sollte reichen, den Kredit bei der Bank zurückzuzahlen und das Haus nach Deinen Wünschen zu renovieren. Ich hab dich lieb und werde versuchen, auch vom Himmel aus immer ein Auge auf Dich zu haben. Das ist fast alles, was ich für Dich tun kann. Außer einem – Dir das Rezept für die von Dir so geliebten Kekse zu verraten:

      3 Pfund Mehl, ½ Pfund Butter, 6 Eier, 1 Pfund Zucker, 2 Päckchen Backpulver, abgeriebene Schale und Saft einer Zitrone.

      Die Zutaten gut verkneten und kleine Häufchen auf ein Backblech setzen. Bei nicht zu starker Hitze (ca. 150 Grad) backen, bis die Kekse golden sind.

      In Liebe

      Deine Omi

      Ausweglos

       1

      Pia erwachte. Es war stockdunkel, ihre Zunge fühlte sich trocken und pelzig an. Sie musste unbedingt einen Schluck Wasser trinken. Pia drehte sich, um zum Nachtschrank hinüberzulangen. Genauer gesagt, versuchte sie es.

      Rumms … stieß sie sich den Kopf. Sie stöhnte leise, hinter ihrer Stirn pochte es. Sie wollte mit der Hand nach der schmerzenden Stelle am Kopf tasten und stieß auch dabei auf ein Hindernis.

      „Jakob?“

      Der Ruf klang seltsam dumpf. Angst kam in ihr hoch. Nein, sie lag nicht in ihrem Bett, nicht neben ihrem Mann. Wo war sie? Vorsichtig streckte sie die Arme aus, nur, um kurz darauf an beiden Seiten an eine Barriere zu stoßen. Was war das? Links, rechts – wie eingemauert! Ihr Atem ging schneller, die Angst wurde zur Panik. Pias Hände tasteten weiter. Über ihr und neben ihr waren nur wenige Zentimeter Raum. Sie fühlte Holz. Bitte, bitte, ich will aufwachen!

      Pia tastete ihren Körper ab. Sie trug ihre Unterwäsche, darüber die dreiviertellange Jeans und ein T-Shirt. Sie bewegte ihre Zehen. Ihre Füße waren nackt. Wo waren ihre Schuhe? Wo WAR SIE?

      „Hallo?!“

      Der dumpfe Klang ihrer eigenen Stimme verstärkte ihre Panik. Pia schlug mit der flachen Hand auf das Holz.

      Nichts geschah. Sie schlug noch einmal. Es klang dumpf, wie Stein.

      „Scheiße!“

      Wut mischte sich mit ihrer Angst.

      „Neiiiiin!“

      Pia setzte auch ihre Beine ein. Trampelte wie wild und stieß doch nur mit Knien und Füßen gegen Holz. Das tat weh, und es brachte gar nichts, außer Schmerzen.

      Tränen rannen ihr übers Gesicht. Was, wenn ich hier nie wieder herauskomme?

      Heftige Schluchzer schüttelten sie.

      Ein plötzlicher Gedanke ließ Pia jäh innehalten.

       Was, wenn mir die Luft ausgeht? Muss ich dann jämmerlich ersticken?

      Sie zwang ihren Atemzügen einen ruhigen gleichmäßigen Rhythmus auf. Ein … aus … ein … aus …

      Ein letzter Schluchzer wirkte wie ein Schalter, den sie in ihrem Kopf umlegte.

      Denk logisch!, befahl sie sich.

      Die erste Frage lautete: Wo bin ich?

      Auch wenn sie nichts sehen konnte, lag die Antwort klar auf der Hand. Über ihr, unter ihr und neben ihr war Holz. Sie befand sich in einem Sarg!

      Bilder aus Gruselgeschichten und Horrorfilmen flammten in ihrem Kopf auf. Lebendig begraben! Nein, so etwas passiert nicht im wirklichen Leben. Nicht ihr, Pia Claas. Sie trommelte mit Händen und Füßen gegen die hölzernen Wände ihres Gefängnisses.

      „Ich will hier raus!“

      Nichts passierte.

      Ruhig. Bleib ruhig, befahl sie sich selbst und schluckte schwer.

      Pias Finger und Zehen wanderten, die Kiste genauer zu erkunden. Sie tastete das Holz zentimeterweise ab. Direkt neben ihrem Kopf gab es eine Vertiefung. Quadratisch, vielleicht zehn mal zehn Zentimeter. Hier klang es anders, irgendwie hohl. Gab es nicht sogar einen Millimeter nach, wenn sie dagegen drückte? Vielleicht war es eine Art Klappe, die sie öffnen konnte? Pia presste ihre Finger mit aller Kraft dagegen.

      Nichts