Richard Mackenrodt

Mein Leben davor


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»Du bist nur ein paar Jahre älter als ich.«

      Michael lächelte, ja strahlte fast. »Ich hab einfach die Richtige gefunden. Jetzt ist sie auch noch schwanger. Da gab es keine zwei Meinungen mehr.«

      »Du wirst schon Vater?«

      »Oh, Vater bin ich schon. Da war ich kaum älter als du. Ein Versehen. Die Kleine kommt schon bald in die Schule.« Er zog ein Foto heraus und zeigte mir seine kleine, blondgelockte Tochter.

      »Echt süß.«

      »Sowas kommt dir vor wie vom anderen Stern, oder? Ging mir damals auch so. Aber das Leben fragt nicht lange, es zieht die Dinge einfach durch. Dann musst du sehen, was du draus machst.«

      »Weißt du«, fragte ich, »warum ich so oft auf die Wand eingeschlagen hab? Weil der Schmerz in den Händen so stark war, dass er mich vollständig abgelenkt hat vom Schmerz in meinem Kopf. Das hat mich irgendwie berauscht. Das wollte ich noch öfter haben. Wenn du nicht gekommen wärst, hätte ich mich da drin in dem Klo an die Wand geknüppelt bis zur Bewusstlosigkeit.«

      Michael nickte: »Weißt du, was ich mache, wenn ich mich von irgendwas ablenken will?«

      »Keine Ahnung. Du küsst deine Frau. Kaufst deiner Tochter ein Eis. Gehst ins Kino.«

      »Ich mache Sport.«

      »Was für welchen?«

      »Ich laufe. Je größer das Problem, desto länger die Strecke. Dabei komme ich auf völlig andere Gedanken. Wenn ich danach unter der Dusche stehe, bin ich entspannt, und manchmal lösen die Dinge sich auf einmal wie von selbst.«

      »Mit Sport hatte ich’s noch nie besonders.«

      »Ist nur so eine Idee.«

      »Außerdem, sieh dich mal um: Was für Sport soll ich hier machen? Liegestützen? Situps?«

      »Warum nicht?« antwortete Michael. »Ist für den Anfang schon mal besser als nur rum zu hängen.«

      »Hm.«

      Und wenn dir das nicht reicht…«

      »… dann was?«

      »Dann gibt es hier im Haus ein Fitnessstudio.«

      »Im Ernst?« Das hatte ich nicht gewusst.

      »Geräte. Laufband. Ergometer. Alles da.«

      »Super. Nur lassen sie mich da nicht hin.«

      »Ich könnte ein gutes Wort für dich einlegen.«

      ***

      Michael hatte nicht übertrieben, das Fitnessstudio im zweiten Stock der Klinik war wirklich nicht übel. Natürlich musste mich ein Pfleger beim Training beaufsichtigen, das machte Michael selbst. Ich hatte inzwischen keinen Gips mehr an den Händen, aber die Finger waren nach wie vor geschient, an Übungen mit den Händen war also nicht zu denken, und ich widmete mich den Geräten für die Beine. Eine tolle Figur machte ich nicht gerade, denn ich war nicht nur völlig untrainiert, sondern stand auch noch unter Beruhigungsmitteln und Psychopharmaka, die alles andere als leistungsfördernd waren. Ich probierte eine Runde auf dem Laufband, auch wenn ich mir nichts davon versprach, denn Laufen hatte ich immer für die ödeste aller Sportarten gehalten, weil man ständig nur einen Fuß vor den anderen setzen musste und nichts passierte. Ich stellte eine mittlere Geschwindigkeit ein und trabte ein paar Minuten vor mich hin, bis Michael die Geschwindigkeit erhöhte.

      »Schaffst du das auch noch?«

      »Kein Thema.«

      »Und das?« Er stellte das Gerät noch eine Stufe höher.

      »Willst du mich beleidigen? Bei dem Tempo kann ich frühstücken und Zeitung lesen.«

      »Alles klar«, sagte Michael und erhöhte um eine weitere Stufe. Das Spiel trieben wir so lange, bis ich alles geben musste, um das Tempo zu halten und nicht hinten runter zu fliegen. Nach einer Weile wollte er die Geschwindigkeit um eine Stufe drosseln, aber ich drückte seine Hand beiseite.

      »Nicht«, sagte ich.

      Michael lachte. »Du sollst trainieren, nicht kollabieren.«

      »Ich schaff das«, keuchte ich. Mein Shirt war längst nass, die Beinmuskeln brannten. Das erzeugte eine ähnliche Wirkung wie die Finger, die ich vor einigen Tagen gegen die Wand gedonnert und dabei gebrochen hatte: Der Schmerz in meinem Kopf verblasste, weil der in den Beinen so stark und die Anstrengung so groß war! Das Gefühl machte mich fast ein bisschen high, ich konnte nicht genug davon bekommen. Ein paar Minuten später konnte ich aber trotzdem nicht mehr und musste aufhören. Aber ich hatte eine völlig neue Erfahrung gemacht: Totale Erschöpfung schob IHN, den Schmerz in meinem Kopf, in den Hintergrund! Ich setzte mich auf einen Ruhesessel, japste nach Luft und musste dabei lachen, was dazu führte, dass ich mich verschluckte und husten musste.

      »Nicht übertreiben, Marathonmann«, sagte Michael und klopfte mir auf die Schulter.

      »Das brauch ich jetzt jeden Tag!« rief ich. »Jeden verschissenen Tag!« Wir mussten beide lachen, bis mir auch noch der Bauch weh tat.

      Ich konnte den Chefarzt dazu bewegen, meine Medikamente herab zu setzen. Am nächsten Morgen, gleich nach dem Frühstück, stand ich wieder auf dem Laufband, bereit, heute noch mehr zu geben als gestern. Ich hatte zwar höllischen Muskelkater, aber das war mir egal. Nach einer Dreiviertelstunde war ich kurz vor dem Zusammenbruch, und Michael musste das Band abstellen. Ich trank zwei Flaschen Wasser, dann setzte ich mich aufs Ergometer und fing an, in die Pedalen zu treten. Bisher hatte ich diese Dinger verachtet, jetzt sah ich das anders. Eine halbe Stunde Vollgas, und es zog so sehr in den Waden, dass ich einen Krampf bekam und aufhören musste. Ich lag auf dem Boden wie ein Käfer, und irgendwie war ich glücklich, denn ich hatte einen Weg gefunden, aus eigener Kraft gegen den Schmerz zu kämpfen. Dafür brauchte ich niemanden, der sich zur Verfügung stellte, das konnte ich ganz alleine.

      Ich trainierte eine Woche lang, jeden Tag zwischen fünf und acht Stunden. Die meiste Zeit war ich völlig erschöpft, und nachts schlief ich so tief wie ein Baby. Bereits in dieser Anfangszeit spürte ich, dass unter der Erschöpfung etwas anderes heran zu wachsen begann. Ich wusste noch nicht, was es war, aber ich spürte, dass es mein Leben von Grund auf verändern würde. Die Medikamente trübten meinen Blick nicht mehr, ich war hellwach und klar. Mein Körper wurde sehnig und kantig, meine Stimme kräftiger, mein Auftreten selbstbewusster. Das einzige Problem war, dass ich von Tag zu Tag sehnsüchtiger durchs Fenster nach draußen blickte, und wenn wir mittags eine Stunde lang auf den Hof durften, sog ich die Luft ein wie eine Köstlichkeit. Ich ließ mir einen Termin geben beim Klinikchef. Zu meiner Überraschung empfing er mich praktisch sofort und fragte freundlich, was er für mich tun könne.

      »Ich trainiere seit einer Woche jeden Tag auf dem Laufband«, begann ich.

      »Ich weiß«, sagte er. »Michael hat mir erzählt, wie aktiv Sie geworden sind.«

      Er war mir wohlgesonnen, das spürte ich. Also wagte ich mich ein Stück weiter nach vorne. »Das Laufen ist für mich eine hervorragende Therapie. Es lenkt ab von meinem Schmerz.« Ich tippte mir mit der geschienten Hand an den Kopf. »Das Dumme ist nur: Auf dem Laufband auf die Mauer starren ist auf Dauer unglaublich langweilig.«

      »Wie wäre es mit einem Fernseher?« fragte er. »Ein wenig Unterhaltung, würde das helfen?«

      »Ich glaube nicht«, sagte ich, »dass ich Lust hätte, mich beim Laufen auf eine Fernsehsendung zu konzentrieren. Und die Glotze nervt mich ja schon zu Hause bei meinen Eltern. Ich hätte eine ganz andere Bitte.« Ich glaube, er ahnte bereits, was kommen würde, aber er sah mich an, als hätte er keinen Schimmer. »Ich möchte draußen laufen. Michael hat mir von einer Runde erzählt, die ungefähr zehn Kilometer lang ist und an einem Seeufer entlang führt. Er würde mich bei den Läufen begleiten.«

      Der Klinikchef nickte leicht, und ich dachte schon, er würde Ja sagen. »Herr Magnusson, ich kann Ihren Wunsch sehr gut verstehen«, sagte er. »Ich kann ihn nur leider nicht erfüllen.«

      »Hören Sie, ich