Richard Mackenrodt

Mein Leben davor


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Wieso?« Ganz bestimmt glotzte ich sie noch dämlicher an als zuvor.

      »Kannst du dir das nicht denken?«

      Nein, das konnte ich nicht, und das sagte ich ihr auch. Sie sah mich an, als hoffte sie, einen Hinweis auf irgendeine Art von Intelligenz in meinen Augen zu finden.

      »Hat er sich blöd benommen, oder was? Ich meine, er hat doch sicher keine andere.« Auf einmal leuchtete in mir – wie ein Wetterleuchten am Horizont – die vage Hoffnung auf, ich könnte mit Paula, jetzt, wo sie nicht mehr mit Tim zusammen war, hin und wieder ins Bett gehen.

      Aber dann sagte sie: »Ich hab mich von ihm getrennt, weil ich mich in einen anderen verknallt hab.«

      »In wen?« fragte ich. Schon war sie wieder futsch, die vage Hoffnung. Und ich fragte mich, warum sie mir das alles überhaupt erzählte. Warum war es so wichtig, mir die Einzelheiten ihres Liebeslebens schonend beizubringen? Sie war mir doch zu nichts verpflichtet.

      »In dich, du Blödmann«, sagte sie, und bevor ich auch nur realisieren konnte, was sie gesagt hatte, war sie schon im Haus verschwunden und hatte die Türe geschlossen. Mein Herz fing an zu rasen. Hatte ich geträumt, oder hatte sie das eben wirklich gesagt? Der Nachhall ihrer Worte war eindeutig. Ich hatte mich nicht verhört. Es konnte aber sein, dass sie es ironisch gemeint hatte, wie das mit dem Fahrrad und der Zwei in Geschichte. So war es bestimmt! Paula hatte einen Hang zur Ironie, vor allem dann, wenn der andere auf der Leitung stand und nichts kapierte. Und was sollte ich jetzt machen? Zeigen, dass ich wenigstens das gerafft hatte, und nach Hause gehen? Ich weiß nicht warum, aber ich ging zur Tür und klingelte. Der Klingelton war noch nicht verhallt, als die Tür aufgerissen wurde und Paula in meine Arme flog. Sie umschlang mich und hielt sich an mir fest.

      »Wenn du jetzt nach Hause gegangen wärst«, sagte sie leise, »ich glaub, dann wär ich gestorben.«

      ***

      Ich habe nie wirklich kapiert, warum Paula sich in mich verliebt hat. Auch in unserer Klasse traf ihre Entscheidung auf Unverständnis. Tim war cooler als ich, größer, athletischer, sah besser aus. Er war stellvertretender Schulsprecher der Mittelstufe und spielte Fußball in der B-Jugend des TSV 1860. Tim war definitiv einer der begehrtesten Jungs der ganzen Schule. Lag es daran, dass Paula gerne gegen den Strom schwamm? War es ihr zu leicht und bequem, das Mädchen an Tims Seite zu sein? Zog es sie deswegen zu einem Außenseiter wie mich? Oder war es eher so, dass sie sich verpflichtet fühlte, weil sie wusste, wie sehr sie mir helfen konnte? Litt sie unter einer Art Helfersyndrom? Vielleicht war sie insgeheim aber auch egoistischer, als ich dachte, und vor allem deswegen mit mir zusammen, weil sie die Macht genoss, die sie über mich hatte. Denn nur mit ihr ging es mir gut. Musste sie zu einem Familientreffen und war ein paar Tage nicht in der Stadt, litt ich wie ein Hund. Hatte sie eine Grippe, und wir konnten nicht miteinander schlafen, machte mich das fertig. Ich war aber nicht so verrückt, ihr jemals eine jener Fragen zu stellen. Nichts, absolut nichts wollte ich tun, das unser Zusammensein hätte gefährden können. Wir schliefen jeden Tag miteinander, mindestens drei- oder viermal. Die Schmerz stillende Wirkung unserer Liebesspiele nutzte sich nicht ab, nicht im Geringsten. Ich kann allen Schmerzpatienten dieser Welt nur zurufen: Werft alle Medikamente und Drogen auf einen Haufen, zündet ihn an, und dann zieht euch aus und habt wilden, hemmungslosen und alles durchdringenden Sex miteinander!

      Es geschah etwas Erstaunliches. Ich gewann an Selbstvertrauen, machte im Unterricht den Mund auf, und einmal schlichtete ich sogar mit lauter Stimme einen Streit auf dem Schulhof, als zwei Achtklässler aufeinander losgingen. Auch mein Image in der Klasse veränderte sich, und das nicht nur, weil Paulas Glanz auf mich abfärbte. Die Mitschüler begannen mich zu respektieren. Die Lehrer redeten mich anders an. Es waren oft nur Winzigkeiten, die den Unterschied ausmachten – ein Blick, ein Lächeln, eine spezielle Wortwahl. Da wurde mir klar: Wenn sogar mein Leben sich so sehr verändern konnte, waren wir alle nur einen ganz kleinen Schritt davon entfernt, dass unser Leben sich von einem Trümmerhaufen in etwas verwandelte, das funktionierte. Ich ließ mein Haar wachsen, und bald reichte es mir fast bis auf die Schultern. Paula mochte das, sie fand, so sah ich aus wie ein Rockstar. Ich war nicht mehr so blass, mein Rumpf wurde muskulöser. Der Einzige, der seine Meinung über mich nicht änderte und mich genauso wenig leiden konnte wie am ersten Tag, war Paulas Vater, aber das konnte ich verschmerzen. Ich schätze, ich war einfach viel zu oft Gast in seinem Haus, ohne dass er mich eingeladen hatte.

      ***

      Ich bemerkte nicht, dass sich zwischen Paula und mir etwas veränderte. Jedes Mal, wenn wir miteinander schliefen, genoss ich so sehr das Verschwinden meines Schmerzes, dass ich nicht mehr auf sie achtete. Es entging mir, dass sie sich danach immer öfter von mir abwandte, dass wir weniger miteinander sprachen und sich ein unsichtbarer Schleier über sie legte. Darum überraschte es mich, als ich ihr die Bluse aufknöpfen wollte und sie meine Hände von sich schob. Das hatte sie noch nie gemacht.

      »Ich will nicht«, sagte sie.

      Ich war ein wenig verwirrt. »Aber ich habe Schmerzen.«

      »Bin ich deine Fickmaschine?« Sie sah mir in die Augen.

      »Was? Aber nein!«

      »Doch.«

      »Bist du nicht.«

      »Doch, bin ich.«

      »Ich lieb dich, Paula. Hey, das weißt du doch.«

      »Du liebst mich, weil ich eine so verdammt gut geölte Fickmaschine bin.«

      »Nein!«

      »Die du anwerfen kannst, wann du willst. Die man nie auftanken muss und die sich nie darüber beschwert, dass sie mehr ficken muss als jede Hafennutte.«

      »Paula, bitte! Hör auf, so zu reden!«

      »Wenn’s doch die Wahrheit ist.« Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und starrte aus dem Fenster. Ich ging zu ihr und legte ihr von hinten vorsichtig die Hände auf die Schultern.

      »Wir müssen heute nicht miteinander schlafen«, sagte ich sanft. Aber in meinem Inneren regte sich eine ganz andere Stimme, die sehr viel schärfer sprach: Doch, verdammte Scheiße, müssen wir! Weil ER in meinem Schädel tobt! Weil ich sonst verrückt werde vor Schmerz! Ich drehte langsam den Drehstuhl, so dass sie in meine Richtung blickte. Als sie den Kopf zu mir hob, sah ich, dass sie weinte.

      »Doch«, sagte sie mit fast tonloser Stimme, »wir müssen. Weil das Teil unserer Vereinbarung ist.«

      »Wir haben überhaupt keine Vereinbarung.«

      »Sie ist nur nie ausgesprochen worden. Aber es gibt sie, das wissen wir doch beide. Wir schlafen immer miteinander. Ich fahre mit meinen Eltern nicht mehr in die Ferien, weil ich dich nicht so lange ungevögelt lassen will. Wenn ich krank bin, habe ich ein schlechtes Gewissen. Wenn du krank bist, schläfst du trotzdem mit mir, ganz egal, ob ich das eklig finde oder nicht.«

      »Es stimmt«, sagte ich. »Natürlich bin ich verrückt danach. Es verwandelt mich von einem Zombie zu einem Menschen. Aber wenn du dich deswegen schlecht fühlst…«

      »Was dann?« Sie wischte sich die Tränen vom Gesicht und musterte mich aufmerksam. »Willst du dann seltener Sex haben?«

      »Wenn wir was ändern müssen, damit es für dich passt, dann tun wir das.«

      »Klingt nach Koalitionsvereinbarungen zwischen zwei Regierungsparteien.«

      Ich zog mir einen Stuhl heran und setzte mich vor sie. »Paula, was immer auch nötig ist, ich mach’s.«

      Sie sah mich lange an. Ich gab mir jede erdenkliche Mühe, optimistisch und aufbauend drein zu schauen. Ich griff nach ihrer Hand und umschloss sie mit meinen. Dadurch verstärkte sich mein Verlangen nach ihr. Und da war der Schmerz. Ich wusste, wo die Erlösung war, aber sie wollte sie mir nicht geben. Was war so schlimm daran, mir ihren Schoß zur Verfügung zu stellen, wenn es für mich doch so viel bedeutete? Konnte sie ihre Befindlichkeit nicht einfach zurückstellen? Und konnten wir diese Diskussion nicht einfach nach dem Sex führen, verdammt noch mal? Hatte ich nicht das verfluchte Recht, sie zu ficken? So, wie ein Verhungernder das Recht hat, einem Reichen ein