Richard Mackenrodt

Mein Leben davor


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Boden lag. Leck mich am Arsch, war das romantisch.

      »Setz dich zu mir«, sagte sie. Ich ließ mich auf die Matratze nieder und achtete darauf, ihr noch nicht zu nahe zu kommen. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie sich eine Zigarette drehte.

      »Du rauchst?« fragte ich.

      »Nur manchmal«, antwortete sie und lächelte mich offen an. Ich hatte Mühe, ihrem Blick stand zu halten. Sie trug ein T-Shirt. Nicht mehr das mit dem weiten Ausschnitt von heute Mittag, aber dafür lag dieses hier hauteng an ihrem Körper. Ihr Rock war etwas hochgerutscht, so dass ein Knie zu sehen war. Ich spürte eine Aufwallung in meiner Hose und hoffte, dass nichts davon zu sehen war. Was erwartete sie jetzt von mir? Wie sollte ich mich benehmen? Erst mal abwarten, ganz ruhig, es wird sich alles ganz von selbst ergeben. Sie fragte, wie schlimm meine Schmerzen waren.

      »Sie werden übler«, erwiderte ich, »weil die Medikamente nicht mehr wirken.«

      »Tut es immer weh?«

      »Rund um die Uhr.

      »Kannst du überhaupt schlafen?«

      »Wahrscheinlich weil ich vom Schmerz so erschöpft bin.«

      »Ich bewundere«, sagte sie lächelnd, »wie du das aushältst. Ohne zu jammern.«

      »Jammern ist Scheiße«, sagte ich. »Davon wird’s auch nicht besser.«

      »Das hier könnte helfen«, verkündete sie und hielt empor, was sie gerade gedreht hatte.

      »Eine Zigarette? Ich weiß nicht, ob Nikotin so viel bringt.«

      Paula grinste. »Das ist keine Zigarette.«

      ***

      Der Joint packte meinen Schmerz in Watte. Ich lag grinsend in der Ecke und tat etwas völlig Schwachsinniges: Ich dankte ihm für diese Erfahrung. Und dafür, dass er mich mit Paula zusammen geführt hatte. Natürlich dachte ich das nur, ich sprach es nicht aus! Obwohl ich mir da, wenn ich jetzt darüber nachdenke, nicht mehr wirklich sicher bin. Ich hatte das Bedürfnis, den süßlich stinkenden Glimmstengel zu streicheln wie einen braven Hund und ihm ein Leckerli zu geben. Mit anderen Worten: Der erste Joint meines Lebens hatte durchschlagende Wirkung. Auf einmal war der Schmerz nur noch eine dunkle Ahnung, ein schwacher, feiger Kerl, der sich in den letzten Winkel meines Schädels zurück gezogen hatte, vermutlich um dort einsam und alleine einen unbeachteten Tod zu sterben. Feiner Hund, ja, komm her, bring das Stöckchen – sooo ein feiner Hund!

      Als ich aufwachte, lag ich auf der schmutzigen Matratze. Draußen war es schon fast dunkel. Von Paula keine Spur. Ich war noch etwas benebelt, aber schon wieder klar genug, um den Schmerz wahr zu nehmen als das, was er war – der mächtige Feind hatte sich nicht lange zurück drängen lassen, spielte schon wieder mit seinen Muskeln und genoss es mich zu quälen. Meine Augenlider waren schwer wie Kanaldeckel, aber ich konnte hier nicht noch länger liegen bleiben. Das Aufstehen war eine Tortur, irgendwie schleppte ich mich trotzdem aus der Hütte und sah mich um. Paula hatte mich alleine hier liegen lassen. Anstatt sie zu verführen war ich eingeschlafen. Nicht zu fassen. Ich hatte es voll versaut. Sie war zu Hause, das sah ich am Licht, das in ihrem Zimmer brannte. Ich suchte nach einem Stein, der klein genug war, warf ihn gegen die Fensterscheibe und wartete. Nichts. Ich nahm einen größeren. Der Stein rutschte beim Wurf ein wenig ab. Trotzdem traf ich erneut eine Fensterscheibe – nur war es die falsche. Nämlich die des Wintergartens. Es klirrte, aber zum Glück ging nichts zu Bruch. Die Tür des Wintergartens öffnete sich, und da stand Paulas Vater, ein großer, breitschultriger Mann Mitte 40, der nicht mehr viele Haare hatte. In strengem Ton wollte er wissen, wer ich war und was ich hier zu suchen hatte. Mein Gehirn arbeitete noch nicht wieder richtig. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also schwieg ich. Regungslos stand ich da, ein dünner, bekiffter, 16-Jähriger auf einem fremden Grundstück in der Abenddämmerung. Paulas Vater wiederholte seine Aufforderung, meine Identität preis zu geben.

      »Ich… war hier…«, stotterte ich.

      »Falsch«, sagte er, »du bist immer noch hier.«

      »Ich… schwitze«, war mein völlig hirnrissiger Beitrag zum Gespräch.

      »Wer auch immer du bist: Du machst jetzt, dass du weg kommst, oder ich ruf die Polizei.«

      Obwohl seine Worte unmissverständlich waren, erreichten sie mich nicht wirklich, sie waren wie kleine Gummibälle, die an mir vorbei hoppelten, im Gras liegen blieben und mich überhaupt nichts angingen. Auf einmal fand ich das alles hier unglaublich witzig. Worte, die in Wirklichkeit Bälle waren! Ich musste grinsen und konnte mir ein leises Kichern nicht verkneifen. Es war unübersehbar, dass Paulas Vater jetzt langsam wütend wurde, aber das machte die Sache nur noch komischer. Ich hielt mir die Hand vor den Mund, um nicht laut los zu prusten. Er kam auf mich zu, mit festen Schritten und ganz schlechter Laune. Der Mann war ja echt zum Schießen komisch! Konnte man den mieten? Da öffnete sich im ersten Stock, dort wo das Licht brannte, ein Fenster, und der Kopf von Paula beugte sich hinaus. »Papa«, rief sie, »das ist Alex, er ist okay.« Ihre Stimme klang ganz ruhig, ich konnte nur in ihren Augen sehen, dass sie in Alarmbereitschaft war und den Schaden zu begrenzen versuchte.

      »Du kennst ihn?« wollte ihr Vater wissen.

      »Er geht in meine Klasse. Der Junge, der mitten im Schuljahr gewechselt hat.«

      »Hat er die Schule gewechselt, weil er nicht alle beisammen hat?«

      »Er ist gekommen, um sich mein Mathe-Heft auszuleihen«, sagte sie und sah mich dabei auffordernd an.

      »Ja, genau«, sagte ich. Obwohl ich den ganzen Vorgang noch immer rasend lustig fand, riss ich mich zusammen, weil ich merkte, dass Paula mich ohne Worte darum bat. Sie verschwand vom Fenster, und Sekunden später kam sie mit dem Heft aus dem Wintergarten, vorbei an ihrem Vater, der mich in der Zwischenzeit nicht aus den Augen gelassen hatte. Paula schob mich am Haus vorbei in Richtung Straße.

      »Dein erster Joint, hm?« raunte sie mir zu, sobald wir den Sichtkontakt zu ihrem Vater verloren hatten. »Tut mir leid, dass ich nicht da war, als du aufgewacht bist. Hätte mir denken können, dass du neben der Kappe bist.«

      »Was soll ich mit dem Mathe-Heft?« war alles, was ich beizusteuern in der Lage war.

      »Das nimmst du mit nach Hause, und morgen bringst du es mit in die Schule. Ist nur ein Alibi, damit mein Vater nichts merkt.« Sie blieb stehen und wollte sich mit einem Lächeln von mir verabschieden. Aber das Marihuana in meinem Blut ließ mich todesmutig werden, und ich fragte sie: »Kann ich dich küssen?«

      »Ich bin mir sicher, dass du das kannst. Aber wenn du es versuchst, knalle ich dir eine, und das würde bestimmt weh tun.«

      »Schmerz ist mein ständiger Begleiter«, sagte ich.

      Sie gab mir einen freundschaftlichen Klaps auf den Oberarm. »Schlaf dich aus, Alex«, sagte sie. »Du siehst echt Scheiße aus.« Damit drehte sie sich um und ging. Ich blickte ihr hinterher, aber als ich sah, dass ihr Vater inzwischen in der Haustür stand, hielt ich es für klüger, mich abzuwenden und den Heimweg anzutreten. Ich war verwirrt und verstand noch nicht, was in den letzten Stunden geschehen war. Aber eins wusste ich mit absoluter Sicherheit: Schmerz ist mein ständiger Begleiter war mit Abstand das Coolste, was ich jemals von mir gegeben hatte.

      ***

      Der Joint war wirksamer gewesen als all die Schmerzmittel der vergangenen Monate, und deswegen sprach ich meinen behandelnden Arzt darauf an. Zuerst tat er, als hätte er nicht zugehört. Als ich nicht locker ließ, sah er mich an, als hätte ich in die Ecke seines Behandlungszimmers gepisst.

      »Alex«, sagte er, »mach keinen Blödsinn.«

      »Ich mach doch gar nichts. Ich wollte nur wissen…«

      »Ich kann dir kein Cannabis verschreiben. Das fällt unters Betäubungsmittelgesetz.«

      »Ich war in der Bibliothek«, sagte ich. »In einem Buch stand, dass man Tetrahydrocannabinol – das ist der Wirkstoff im Cannabis…«

      »Ich weiß, was das ist«, unterbrach er mich.