Richard Mackenrodt

Mein Leben davor


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Riesenschweinerei anrichten, aber der Abschied vom Leben würde damit nicht gelingen. Was sollte ich tun? Die Klinik war nur zwei Stockwerke hoch, es machte keinen Sinn, aus dem Fenster zu springen. Erhängen? Vielleicht mit einem Kabel. Der Schmerz wütete in meinem Kopf. Ich schloss die Augen und ballte die Faust. So fest, dass die Hand anfing weh zu tun. Dann holte ich aus und schlug mit der Faust gegen die Wand, mit voller Wucht und aller Kraft. Ich schrie auf vor Schmerz. Ja, Schmerz! Und endlich mal ein anderer als ewig nur der verhasste Drecks-Schmerz in meinem Kopf! Das war gut! Wieso war ich darauf nicht früher gekommen? Ich holte noch einmal aus und hämmerte die Faust erneut gegen die Wand. Ich spürte, wie Knochen knackten, und konnte es auch hören. Und, Scheiße noch mal, aller guten Dinge waren drei! Jawoll! Rauf auf die Wand! Jetzt die andere Hand! Baammm!! Und nochmal! Und nochmal! Ich schrie so laut, dass es nur wenige Sekunden dauerte, bis ein Pfleger gegen die Kabinentür hämmerte.

      »Wer ist da drin?! Aufmachen!«

      »Ich bin Alex Magnusson, und ich habe mir gerade die Finger zu Klump gehauen!«

      »Mach die Tür auf, sofort!«

      »Geht nicht, Arschloch, ich kann meine Finger nicht bewegen. Und dasselbe mach ich jetzt mit meinem Kopf!« Ich stand auf und wollte meinen Worten Taten folgen lassen, aber da hatte er schon mit einem kleinen Spezialschlüssel die Tür geöffnet und riss sie auf. Er sah meine verkrümmten, Blut unterlaufenen Finger, das Messer auf dem Boden und, wie ich annehme, ein irres Flackern in meinen Augen. Ich kannte ihn vom Sehen, wusste aber nicht, wie er hieß, ein Typ Mitte 20. Er wollte mich festhalten. Ich rammte ihm die Faust ins Gesicht und empfand den erneuten, scharfen Schmerz, als meine gebrochenen Finger sein Auge trafen, als grimmige Wohltat. Ich war bereit, alles zu zerstören, was ich hatte, was ich war. Alles sollte in Fetzen gerissen werden. Nichts sollte übrig bleiben. Unter der Wucht meines Schlages taumelte er gegen die offene Tür. Er war benommen, aber nur für einen Moment, dann riss er die Hände hoch, als Deckung, und ich hatte keine Chance mehr. Mit einem geübten Griff hatte er mich, und mein Oberkörper wurde nach vorne gezogen wie die Klinge eines Taschenmessers, das man zusammen klappte. Er war nun hinter mir und schob mich aus der Kabine. Drei weitere Pfleger kamen angelaufen. Zwei packten meine Füße und hoben sie hoch. Zu viert trugen sie mich den Flur entlang, ich strampelte wie ein wildes Tier, das nicht zum Schlachter wollte.

      Sie brachten mich in einen isolierten Raum und schnallten mich an allen Vieren auf einem Bett fest.

      »Hier kannst du so viel schreien, wie du willst«, sagte der Pfleger, den ich geschlagen hatte. »Niemand wird es hören.«

      Ich bekam eine Spritze, deren Inhalt wie eine Nebelwolke in meinen Blutkreislauf drang, und wurde ruhig, ganz ruhig. Sogar der Schmerz in meinem Kopf und in den Händen wurde schwächer. Das war gutes Zeug, wieso bekam ich das erst jetzt? Ich dämmerte weg.

       Und als ich die Augen wieder öffnete, stand ich barfuß auf einem kalten Steinboden. Ich befand mich in einem Raum ohne Fenster, der nur von einer sehr schwachen, flackernden Neonröhre an der Decke beleuchtet wurde. Ich kannte den Raum nicht und wusste nicht, wie ich hier her gekommen war. Die Wände bestanden aus nackten, dunklen, alten Backsteinen, und es roch wie in einem feuchten Keller, modrig und nach alten, renovierungsbedürftigen Kupferleitungen. Ein leises, gleichmäßiges Piepen zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Kam es aus den Wänden? Nein, dafür war es zu deutlich zu hören, es kam mir vor wie die langsame, elektronische Wiedergabe eines ruhigen Herzschlages. Ich drehte mich um und spürte den unebenen, groben Boden unter mir. Da stand ein Krankenhausbett. Schneeweißes Laken und ebenso weiße Decke. Neben dem Bett stand ein Gerät mit einem grünen Monitor, auf dem sich in gleichmäßigen Wellen, synchron zum Piepen, ein Herzschlag abzeichnete. Daneben ein Ständer, an dem ein Infusionsbeutel hing. Der Beutel führte in einen Schlauch, der gefüllt war mit einer gelblichen Flüssigkeit. In diesem Bett lag jemand, aber ich stand zu weit jenseits des Fußendes, und die Decke war zu hoch aufgebauscht. Ich konnte ihn nicht sehen. Da stand noch ein anderes Gerät. Auch dieses führte einen Schlauch zum Bett, und es gab ebenfalls ein Geräusch von sich, das mir bisher entgangen war. Luft, die durch den Schlauch gepumpt wurde. Wer auch immer in diesem Bett liegen mochte, er musste beatmet werden. Die Bettdecke hob und senkte sich ein wenig, langsam und immer wieder, in stetem Rhythmus. Hier wurde jemand künstlich am Leben gehalten. Ich wollte zu ihm gehen und ihn mir ansehen, aber eine männliche Stimme ließ mich herum fahren.

      »Herr Magnusson, können Sie mich hören?«

      Ich öffnete die Augen und musste blinzeln, weil es so hell war. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff: Den Ausflug in das Backsteinzimmer hatte ich nur geträumt. Ich war noch immer in dem isolierten Raum, ans Bett festgeschnallt.

      »Wie fühlen Sie sich?« Über mir stand ein Arzt, den ich noch nicht kannte.

      »Wo bin ich?«

      »Können Sie sich daran erinnern, was gestern Abend passiert ist?«

      »Ich war auf dem Klo, da kommt ein Typ rein gestürmt und macht mich fertig.«

      »Das war ein Pfleger, und er hat Sie davon abgehalten, sich noch weiter zu verstümmeln.«

      Ich blickte an mir herunter und sah, dass meine Hände eingegipst waren, fast bis zum Ellbogen.

      »Sie haben drei gebrochene Finger, zwei an der rechten Hand und den linken Mittelfinger. Wollen Sie mir sagen, was passiert ist?«

      »Sie haben es doch schon präzise wieder gegeben.«

      »Wollten Sie sich umbringen?«

      Ich antwortete nicht.

      »Herr Magnusson?«

      »Nennen Sie mich Alex.«

      »Alex?«

      »Ja, ich wollte mich umbringen. Es war nur schlecht geplant. Beim nächsten Mal wird mir das nicht mehr passieren.«

      »Ich werde Sie in eine spezielle Abteilung verlegen. Sie werden keinerlei Gelegenheit bekommen, den Versuch zu wiederholen.«

      »Irgendwann werden Sie mich raus lassen müssen.«

      »Nein«, sagte er, »werden wir nicht. Sie haben uns gerade eben dazu veranlasst, sie so lange hier zu behalten, wie wir es für richtig halten.«

      Noch am selben Tag kam ich in die Abteilung AS, das stand für ‚akut suizidgefährdet‘. Wir waren zu acht. Fünf Männer – vorausgesetzt, man ließ mich als Mann schon durchgehen. Und drei Frauen. Jeder von uns hatte mindestens einen Selbstmordversuch hinter sich. Dimitri, ein kleiner, dicker 30-jähriger Russe, hatte es schon siebenmal versucht. Rund um die Uhr waren mindestens drei Pfleger in unserer Nähe und ließen uns nicht aus den Augen. Wir aßen mit Plastikbesteck, und die Teller und Becher, von denen wir aßen und tranken, waren aus Pappe. Bleistifte, Filzstifte und Kugelschreiber waren verboten, nur Wachsstifte waren erlaubt. Von unseren Schuhen waren die Schnürsenkel entfernt worden. Die Wände waren gepolstert. Wenn ich aufs Klo musste, kam ein Pfleger mit, und die Tür der Toilette durfte nicht geschlossen werden. Der Arzt hatte Recht gehabt: Hier war es nicht möglich, sich das Leben zu nehmen. Ich wurde auf starke Beruhigungsmittel und Antidepressiva gesetzt. Der Schmerz in meinem Kopf wurde davon kaum geschwächt, aber ich blieb trotzdem ruhig, ja nahezu gleichgültig, und döste den halben Tag vor mich hin. Das war gar nicht mal die schlechteste Daseinsform, da hatte ich schon üblere Phasen hinter mir gehabt. Ich ergab mich dem Schicksal und ließ die Dinge laufen.

      Dimitri, der siebenfach gescheiterte Selbstmörder, war ein merkwürdig lustiger Geselle. Er lächelte unentwegt, und als ich ihn fragte, warum er das tat, meinte er, das liege an den Folgen seines dritten Selbstmordversuchs, als er sich zwar in den Kopf geschossen, das Projektil sein Gehirn aber nur gestreift hatte. Seitdem müsse er ständig lächeln, auch wenn ihm zum Heulen zumute sei. Er zeigte mir die beiden Narben, die der Schuss hinterlassen hatte – eine über seinem linken Ohr und die andere am höchsten Punkt seines Schädels. Er erklärte mir, dort liege das Kronenchakra, und dass er es durchschossen hatte, habe seine Empfänglichkeit für alle schöpferischen Energien vertausendfacht. Seitdem verstehe er, was den Kosmos im Innersten zusammen halte, und wie wunderbar die Welt sei. Das hat ihn aber nicht davon abgehalten, sich danach weiterhin das