Stefan Bergheim

Zukünfte – Offen für Vielfalt


Скачать книгу

Und: Was ist die einfachste und stärkste Frage, die den Kern unseres Projekts zum Ausdruck bringt? Ist das geklärt, dann geht es um ein gemeinsam entwickeltes und geteiltes Verständnis von den Prinzipien der Kooperation im Projekt: Wie wollen wir untereinander und mit den Teilnehmenden arbeiten? Woran sollten wir immer denken, wenn wir uns zur gemeinsamen Projektarbeit treffen?

      Viertens geht es dann um die Menschen, die im Projekt dabei sind. Wer ist im Raum? Wer ist nicht im Raum und wie könnten wir sie hineinbringen? Wer hat ein Interesse an den Ergebnissen des Projekts? Erst dann geht es an die konkrete Konzeption und die vielen Möglichkeiten, die sich eröffnen: Welche Form soll unsere Arbeit haben? Welche Form passt zum Bedarf, zum Zweck, zu den Prinzipien und zu den Menschen?

      Meine Lieblingsstufe in Corrigans Struktur ist die sechste, zu den einschränkenden Vorstellungen: Wovor haben wir Angst, wenn wir in diesem Projekt arbeiten? Welche alten Modelle und Strukturen wollen wir nicht beibehalten? Welche Fragen haben wir uns noch nicht gestellt? Dann geht es an die konkrete Struktur: Wie entscheiden wir worauf Zeit, Geld, Aufmerksamkeit und Energie gelenkt werden? Wieviel davon brauchen oder haben wir? Welche Rolle spielt das Kernteam? Anschließend geht es um die Praxis der Zusammenarbeit: Wer lädt zu Treffen ein? Welche Plattformen werden genutzt? Welche Netzwerke nutzen wir?

      Und schließlich geht es um die Ernte: Wie soll das Ergebnis festgehalten werden? Wie kann die Ernte am besten dem Zweck des Projekts dienen? Wie bleiben wir offen für das, was dabei entstehen mag?

Zukünfte - Offen für Vielfal Möglichkeiten für Sie rund um Fragen

      Das sind viele, viele Fragen. Es sind wichtige Fragen. Sie sind eine Einladung an Sie, Fragen stärker in den Blick zu nehmen. Dafür gibt es eine Menge von Möglichkeiten.

       Darunter:

       Wenn Sie an Veranstaltungen und Prozessen teilnehmen, so können Sie der jeweiligen Einstiegsfrage nachgehen und diese an den hier beschriebenen Kriterien spiegeln. Vielleicht haben Sie sogar vor oder während der Veranstaltung die Möglichkeit eine alternative Frage vorzuschlagen. Und Sie können überlegen, für wen diese Frage nicht relevant ist oder wer sie anders beantworten würde als die Menschen im Raum. Möglicherweise können Sie Impulse geben, um der Frage hinter der Frage nachzugehen. Als Organisatoren von Veranstaltungen und Prozessen können Sie die Einblicke dieses Kapitels nutzen, um die eigene Frage zu reflektieren und vielleicht noch kraftvollere Fragen zu formulieren. Und Sie können versuchen mehr von den Gruppen in den Raum zu bringen, die ebenfalls einen Bezug zu dieser Frage haben könnten.

      Wenn Sie sich näher mit den genannten Quellen befassen mögen: Der erwähnte Artikel von Vogt, Brown und Isaacs aus dem Jahr 2003 trägt den Titel „The Art of Powerful Questions“ und ist im Internet leicht zu finden. Die vielen Fragen von Chris Corrigan stammen aus seinen „Chaordic Stepping Stones“, von denen es mittlerweile Varianten in verschiedenen Längen gibt.

      Zum „Pro Action Café“ gibt es eine kurze englische Übersicht von Amanda Fenton. Zu Dynamic Facilitation ist englisches Material von Jim Rough verfügbar. Zudem gibt es einige Moderatoren und Autoren im deutschen Sprachraum.

      3 Der Komplexität gerecht werden

Zukünfte - Offen für Vielfal

      Frühjahr 2005 auf dem Campus der Katholischen Universität von Löwen. Ich warte in der Schlange auf den Bus, der die Teilnehmenden einer Zukunftsforscherkonferenz zum Abendessen ins historische Schloss Corroy bringen soll. Der freundliche Finne neben mir fragt mich, wie ich in meinen Prognosemodellen für die Deutsche Bank die Emergenz, die Nicht-Linearitäten und die finalen Ursachen komplexer Systeme berücksichtige. Vergeblich versuchte ich damals zu verstehen, was er mir sagen wollte und warum das für mich irgendeine Relevanz haben könnte. An diesem Abend begann meine wunderbar hilfreiche Lernreise in die Komplexitätstheorie und zu Methoden für mehr Lebensqualität, die der sozialen Komplexität so gut wie möglich gerecht werden. Der freundliche Finne war Mika Aaltonen, studierter Volkswirt und ehemaliger Fußballprofi. Er hat mich seither mit vielen anderen Menschen und Ideen aus der Welt der Komplexität verbunden, die für Zukünftearbeit wichtig sind.

      Einfach, kompliziert, komplex oder chaotisch

      Meine Reise in die Welt der Komplexitätstheorie setzte sich auf Mikas Anraten fort mit der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen einfachen, komplizierten, komplexen und chaotischen Systemen. Ein System besteht aus mehreren Elementen, die in gewissen Beziehungen zueinander stehen. Der walisische Komplexitätsexperte David Snowden hat das in seinem Cynefin-Modell dargestellt. Er betont immer wieder, dass jedes dieser Systeme eine andere Vorgehensweise erfordert.

      Einfache Systeme sind – einfach. Jeder versteht sie, es gibt eindeutige Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung. Eine Tür zu öffnen ist grundsätzlich für jeden Menschen möglich: Klinke runter, Tür bewegen, durchgehen. Viele Prozesse in der Wirtschaft wie Adressänderungen oder die Abfüllung von Flüssigkeiten gehören hier hinein. Für sie gibt es ein bestes Vorgehen („best practice“), klare zentrale Vorgaben und großes Potential für Automatisierung. Ganz ohne Gefahren sind diese Systeme allerdings nicht. Es kann sein, dass die Zentrale einer großen Organisation nur Vorgaben macht und zu wenig mitbekommt, was vor Ort geschieht. So kann sie schlecht auf Veränderungen des Umfelds reagieren. Es braucht einen Weg, auf dem neue, möglicherweise unangenehme, Informationen in die Zentrale gelangen können.

      Die Mechanik komplizierter Systeme

      Komplizierte Systeme sind etwas für Fachleute. Auch hier gibt es eindeutige Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkungen, die jedoch nur Menschen mit entsprechenden Fachkenntnissen verstehen. Nur Automechaniker können erkennen wo genau das Problem eines kaputten Automotors liegt – und dieses gegebenenfalls beheben. Der Physiker Isaac Newton war der Vordenker dieses linearen Ansatzes. Der Ingenieur Frederick Winslow Taylor hat ihn mit der Fließbandproduktion bei Ford industriell verankert. Selbst in komplizierten Systemen gibt es manchmal verschiedene Wege, um ein Problem zu beheben. Alle diese Wege haben ihre Vor- und Nachteile in Bezug auf Aufwand und Nutzen. Es gibt nicht mehr das eine beste Vorgehen wie in einfachen Systemen, sondern gute Praxis („good practice“).

      Auch in komplizierten Systemen lauern Gefahren, zu denen die Analyseparalyse gehört: Die Fachleute analysieren, analysieren und analysieren. Sie beißen sich fest und können sich auf keine Lösung einigen, weil jeder Sieger der Argumentation sein will. Zudem könnte es sein, dass Nicht-Experten mit einem frischen Blick innovative Ideen haben, die die Fachleute nicht berücksichtigen.

      Die Relevanz komplexer Systeme

      Komplexe Systeme sind für unseren Umgang mit offenen Zukünften besonders relevant. Es sind Systeme mit einer großen Zahl von interagierenden Elementen, die sich gemeinsam, dynamisch, nicht-linear und unvorhersehbar entwickeln und dabei Neues entstehen lassen können. Diese Systeme lassen sich nicht wie ein Automotor in ihre Einzelteile zerlegen und später ohne Verlust wieder zusammenbauen. Das Ganze ist viel mehr als die Summe der Einzelteile. Wälder sind komplexe, adaptive, emergente Systeme. Oder Gehirne. Alle menschlichen Systeme ebenso. Auf wichtige Fragen gibt es keine beste oder auch nur mehrere gute Lösungen. Manchmal kann man Muster erkennen, wobei Fachleute helfen können. Dann sind Experimente sinnvoll, die das System vermutlich einen Schritt voranbringen, die aber auch ohne dramatische Konsequenzen wieder beendet werden können, wenn sie unerwünschte Ergebnisse zeigen.

      Im Umgang mit komplexen Systemen ist es wichtig, dass die Diskussionen möglichst weit geöffnet werden, die Vielfalt der Perspektiven erhöht wird, Widerspruch zugelassen wird, Dialog ermöglicht wird. Es soll ein fruchtbares Feld vorbereitet werden, auf dem Gutes entstehen kann – ohne dass man vorab wissen kann, was das genau sein könnte.

      Chaotische Systeme sind etwas für starke, entschiedene Führungspersönlichkeiten.