Elena Risso

In einer fernen Zeit


Скачать книгу

wir steigen gleich wieder aus. Was uns dann erwartet, ist eine sehr gemütliche Bar.“ Leichter gesagt, als getan. Andere Menschen machten sie unruhig; sie vermisste dann Rückzugsmöglichkeiten, Ruhezonen. Aber Ross war doch bei ihr, ihm konnte sie doch vertrauen. Sie hatte sich aber noch nie bei ihm fallen gelassen, ihr Herz geöffnet, sich losgelassen, sich bei ihm so gefühlt, wie wenn sie alleine mit sich gewesen wäre. Das gab ihr zu denken. Sie wollte das probieren, heute Abend. Mal sehen. Sie stiegen aus, fuhren die Rolltreppen hoch, schnupperten die raue Nachtluft. Die Bar leuchtete mit roten, geschwungenen Lettern schon von der Straßenecke her: Kolibri Inn. Eine große Drehtür führte ins Innere. In ein Inneres aus Samt und Rot, aus gedämpften Licht und beschwingter, Soul-Musik. Der hell erleuchtete Tresen stand zentral und bildete ein Rechteck. Um die Bar herum waren runde Tische mit Korbstühlen verteilt. Die Kerzen auf den Tischen leuchteten auf den glänzenden Boden. Ross und Rosa ließen sich in der Nähe der Bar nieder. Die Aufregung in ihr begann sich etwas zu legen. Sie blinzelte aus ihren blauen Augen und nahm jedes Detail um sie herum wahr. Da waren noch nicht viele Gäste im Kolibri Inn; ein Mann, der in seine Zeitung vertieft war, eine Frau, die unruhig auf ihre Uhr starrte, an einem weiteren Tisch eine heitere Gruppe und an der Bar saß noch niemand. Es war noch früh am Abend, und so richtig brechend voll wurde der Laden immer erst gegen Mitternacht. Ross hielt einen Plausch mit dem Barmann, bei dem er die Bestellung aufgab. Die beiden kannten sich aus ihren Jugendtagen. Sie lachten.

      Rosa lauschte der Musik - ein Saxophon gab alles in gedämpftem Ton. Rosa liebte das Dahinplätschern von Rhythmen. Das rührte sie sehr tief. Sie spielte mit ihren Haaren, versuchte, sich abzulenken, nicht an die Nacht zu denken. Nicht nach gelernten Einstellungen zu reden und zu handeln, sondern nach ihren inneren Wünschen zu gehen. Was für eine Leistung! Wenn sie in sich hinein fühlte, sie ihren Willen, ihre Gedanken versuchte auszuschalten, stand sie wie vor einer Wand. Wie wenn irgendetwas in ihr es nicht zulassen wollte, weiter zu forschen, sich zu entdecken, ihrer Seele Raum zu geben. Was war das nur? War es Furcht vor der Entdeckung, vor dem eigenen Ich? Was war mit ihrem Ich, dass sie es nicht finden konnte? War es so gewichtig, verrucht, gar böse? Wer war ihre Seele? Diese Fragen kamen so plötzlich. Dabei hatte sie den Eindruck, dass diese Fragen sehr wichtig für sie waren. Dass sie keine Antworten darauf hatte, dass sie so zögerlich war, sich und anderen nichts eingestand, das legte Rosa als Schwäche aus. Rosas Seele sollte sehr stark sein; zu dieser vermeintlichen Schwäche zu stehen, war jedoch erst einmal unumgänglich - auf dem Weg zu sich selbst, zu ihrer eigenen Welt, ihrer eigenen Unabhängigkeit, ihrer inneren Stärke. Sie lehnte sich im Sessel zurück und blickte an die Decke. Es war eine sehr hohe dunkle Holzdecke an der kleine Lampen an unterschiedlich langen Seilen herunterhingen, die auf dem Boden Lichtflecken hinterließen. Genauso flackerten auch in ihrem Inneren Lichter auf und erhellten sie.

      Ross kam wieder. Sie lächelte ihn an. Überhaupt war Lachen Rosas größter Schutz. Schutz vor was? Schutz vor falscher Überlegenheit, anerzogener Überlegenheit, nicht nachgeben wollen, keine Fehler, keine Schwäche eingestehen wollen; nicht geliebt werden. Vielleicht sollte sie sich einfach mal angreifen lassen! Ihre Maske einreißen lassen. Ross setzte sich und sah Rosa aufmerksam an. „Du wirkst sehr nachdenklich.“ Rosa ging in die Offensive: „Wenn du mich erobern wolltest, wie würdest du vorgehen?“ „Ich müsste wohl ein paar Umwege gehen, um dein Vertrauen zu gewinnen, d. h. du müsstest dich nach und nach an mich gewöhnen, ich müsste ein paar Schritte vorgehen, um dann wieder einen zurückzugehen. Du dürftest nie das Gefühl haben, du müsstest dich festlegen. Ich dürfte dich keinesfalls erdrücken, mich nur nach und nach öffnen, und ich dürfte nicht zu schnell Schwächen zeigen. Möchtest du denn, dass ich dich erobere?“ Okay, damit dürfte Rosa gerechnet haben. „Ja, ich möchte es gerne als Lehre betrachten, auch als eine Entdeckungsreise in mein Innerstes.“

      Sie blickten sich tief an. Dieser Blick erfüllte Rosa mit Stolz, und sie freute sich über ihre Offenheit, sie tat auch gar nicht weh. Die Bar füllte sich langsam. Es kamen viele Paare. Der Barmann hinter dem Tresen war kaum mehr zu sehen. Und in der Zeit, in der sich die Bar mit Gemurmel und Lachen füllte, füllte sich auch Rosas Herz mit Licht und Wärme an. Sie tanzten, dabei lag ihr Kopf auf Ross Schultern; es fühlte sich so vertraut an, dass sich Rosa mehr und mehr auflöste, in sich versank. Wie hatte sie ein solches Gefühl vermisst. Sicherheit war da noch nicht, aber dieses sensationelle Gefühl, geborgen zu sein. Diese Geborgenheit war es, die sie schon so lange suchte. Und aus dieser Geborgenheit heraus, gelassen zu werden. Und dann sicher und stark. Urvertrauen.

      Es war spät geworden. Als Rosa schließlich in ihrem Bett lag, drehte sich alles. Sie fühlte ein neues Erwachen. Sie war gespannt, wie es weitergehen würde.

       Kapitel 13: Entdeckungsreise ins eigene Ich

      Die Entdeckungsreise konnte also beginnen. Malcom, Penelope, Roy, Aurora, Monica und nun Ross. Alles Menschen, die sie begleiteten, die sie weiterbrachten. Dazwischen immer wieder Häutungen. Ablöseprozesse. Neue Einsichten.

      Rosa war an einem Scheideweg angelangt. Altes über Bord werfen. Neues akzeptieren, wie andere Lebensweisen, andere Ansichten. Nein sagen zu Dingen, die sie aus ihrer bürgerlichen Welt kannte: Familie, eigenes Heim, Ehe auf Lebenszeit, eigene Kinder. Da gab es noch andere Werte: Liebe, Freundschaft, Unabhängigkeit, Freiheit, die große, weite Welt im Kleinen. Es war an der Zeit, diesen Weg zu finden und ihn dann auch zu gehen.

      Sich in sich drinnen geborgen fühlen. Rosa hatte einen vagen Gedanken. Sie lief durch die Straßen Brooklyns und hoffte, Malcom in seinem Apartment anzutreffen. Das musste sie mit ihm besprechen. Alles stürmte an ihr vorüber; sie bemerkte gleich gar nicht, dass jemand versuchte, sie einzuholen und hektische Zeichen gab. Rosa ging sehr schnell. Sie hatte nur noch zwei Blocks zu gehen, und sie war so fasziniert von ihrem neuen Gedanken, dass sie auf die vielen Kleinigkeiten um sie herum nicht achtete. Den Gemüseverkäufer an der Ecke zum Beispiel, der so gerne mit ihr flirtete, oder den Tabakverkäufer 200 Meter weiter, bei dem sie am Wochenende die Zeitung mitnahm. Heute war dafür keine Zeit. „Ich fühle mich in mir geborgen.“ Sie ließ sich den Gedanken noch einmal auf der Zunge zergehen. Er wirkte fast wie eine Philosophie, nach der sie alles ausrichten konnte. Wieder war der winkende Typ für einen Augenblick auf ihrer Höhe. Er war schlank und blond und hatte ein spitzbübisches Gesicht; er rempelte fast den Gemüsehändler um. Er rief immer „hallo Rosa, hallo Rosa“. Er hatte einen deutschen Akzent. Woher kannten sie sich nur? Rosa war vor vielen Jahren im Sommer einmal in Deutschland gewesen. Sie besuchte dort eine entfernte Verwandte. Und der blonde Mann war der Sohn der Nachbarin. Er hieß Siegfried. Und er war sich so sicher, dass er diese Frau kannte. Rosa war fast da. Siegfried auch. Etwas erschöpft zwar, aber endlich konnte er sich ihr gegenüber aufstellen, so dass Rosa ihn ansehen musste. „Kennst du mich noch? Ich habe zurzeit ein Engagement hier in New York.“ „Oh, ja, das ist lange her. Ich wollte gerade rauf zu Malcom, mein zweites Ich sozusagen. Es ist wichtig, aber komm doch mit.“ Rosa hatte gar keinen Kopf für Siegfried, für Europa, für Kindertage und irgendwelcher Flausen; sie stand vor ihrem Leben.

      Malcom öffnete die Tür; er sah erschöpft aus, hatte die ganze Nacht an seinen neuen Aufnahmen gearbeitet und war heute Morgen schon drei Stunden mit dem Taxi unterwegs gewesen. Seine roten Haare standen ihm zu Berge. Ein kleines Lächeln huschte über seine Lippen. Seine Rosa war da, mit einem etwas aufgeregt wirkenden Touristen im Schlepptau. Zurzeit konnte man schlecht erkennen, wer von beiden der Stärkere und wer der Schwächere war. Rosa ging immer geradeaus. Malcom ging viele Umwege und verlor an Energie. Siegfried sprach in einem fort, dass das ein Zufall sei und wie klein doch die Welt sei. Er war hocherfreut, Malcom kennenzulernen. Endlich saßen sie alle im Garten. Malcom brachte Orangensaft.

      „Malcom, fühlst du dich in dir drinnen geborgen?“ Im Hintergrund klopften die Beats von Howie B. Malcom war völlig übernächtigt, er konnte mit dieser Frage irgendwie nichts anfangen. Siegfried wusste es dafür umso mehr. „Wenn ich antworten darf, ich fühle mich sauwohl in mir, ich habe zu Hause eine Frau und einen kleinen Sohn und ich liebe meinen Beruf, ich bin Jongleur und Künstler.“

      Was lief da gerade ab? Was machte dieser Mann in dieser Situation? Er störte. Das war die einfache Antwort. Er störte mit seiner elementaren Anmerkung. Er brachte die Situation aus dem Gleichgewicht. Malcom und Rosa saßen auf der Korbbank, Siegfried ihnen gegenüber auf einem ausrangierten