Elena Risso

In einer fernen Zeit


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Aussehen, ihre faszinierenden Geschichten und mit dem Wissen, dass sie die Zeit hier in London gemeinsam verbringen würden.

      Vielleicht war das die Zeit, den Zettel zu zeigen, überlegte Rose, aber sie traute sich noch nicht. Sie wartete noch ein wenig, vielleicht bis morgen. Warum war nur Malcom weg? Mit ihm hätte sie längst den netten Jungen vom Buffet angelächelt. So aber fasste sie nicht genug Mut. Der Junge war gleich groß und hatte braunes Haar mit einem so netten Lächeln. Andere Mädchen umschwärmten ihn. Rose faltete unruhig den Zettel in ihrer Tasche. Am Buffet, das mit Hunderten von kunterbunten Luftballons in Purpurrot, Lachsrosa, Giftgrün und Himmelblau geschmückt war, spielten sich ganze Schlachten ab. Jeder wollte an die achtstöckige Torte. Da nicht alle gleichzeitig herankommen konnten, drückten sich die Massen der Kinder gegenseitig weg. Eine Aufsicht „...lasst mich sofort die Torte anschneiden ..., hey, ihr Flegel, hört sofort auf ...“ kam nicht recht durch. Der smarte Junge machte kurzen Prozess: „John Lennon kommt.“ Und schon sprengten alle Kinder auseinander, Kurze, Teenies, Blonde, alles rannte wild durcheinander über den Parkettboden, schlitternd und kreischend; ein lustiger Anblick. Rose, Monica und Aurora standen staunend mit offenen Mündern da. Der Jüngling namens Roy brachte ihnen die ersten Tortenstücke. So kam es, dass Rose doch noch ein erster Blickkontakt gelang: etwas durchdringende, blaue Augen musterten sie aufmerksam. Rose schaute zu Boden. Wie peinlich, dachte sie. Okay, der Zettel, jetzt oder nie. Alle acht Augenpaare betrachteten nun neugierig die Zeichnung. Roy fasste in präzisem Englisch zusammen „... ist wohl eine Burg irgendwo an einer Küste. Das Wappen habe ich schon einmal bei einer Urlaubsreise durch Irland gesehen, am besten ihr studiert alle Wappen in der Bibliothek...“ Rose war von ihm fasziniert. Wie er doch gleich kombinierte. Roy wurde von einem anderen Jungen gerufen und verließ die Mädchen, die sich für morgen verabredeten. Dann wurden sie von ihren Eltern abgeholt.

      Roses Vater tat die Geschichte mit einem unwirschen Achselzucken ab. „Was kümmert uns diese Arme-Leute-Story?!“ Warum musste Rose auch immer alles erzählen? War doch ihr Ding. Etwas entmutigt ging sie in ihr kleines Zimmer und betrachtete wieder die Zeichnung. Das Mädchen hatte so einen ängstlichen Blick gehabt, vielleicht war sie in Gefahr. Sie würde Penelope gerne finden, um mehr über sie zu erfahren. Die Nacht über träumte sie sehr wild - sie flog über ein wütendes Meer mit einem Schwarm von Flamingos, die sich rosarot aus der Nacht abhoben. Das Gefieder des Flamingos neben ihr war in feuerrot getaucht und führte den Schwarm an. Rose folgte so gut es ging, aber immer wieder musste sie ins Meer sehen und dann verlor sie an Höhe. Der rote Flamingo drehte sich immer wieder um und rief „es ist nicht mehr weit“, aber Rose konnte nicht mehr und klatschte ins Wasser. Schließlich wurde sie wach, triefend nass und schnell atmend orientierte sie sich. „Ich bin daheim.“

      Aus der Küche kam Toastgeruch. Verlorene Ritter - Roses Lieblingsfrühstück - brutzelten in der Pfanne. Peter versteckte sich hinter seiner Zeitung und unterhielt mit den neuesten Nachrichten: „... die sollen sich doch alle umbringen, es geht alles kaputt, das Ende ist nahe, ihr werdet sehen, die Menschen, die Gesellschaft sind es nicht mehr wert. Früher hatten wir noch Werte, da gab es einen Zusammenhalt, und jetzt geht jeder für sich, jeder ein kleiner Egoist...“. Rose schlang ihre Toasts hinunter und versuchte vergebens, ihren Vater von der Liebe der Menschen zu überzeugen. Daran würde sie fast zerbrechen. Das kostete sie alles so viel Energie, die sie für Penelope, für die Schule, für die neuen Freundinnen, für ihr kleines Leben brauchte. Die Diskussion artete in einen Disput aus. Und die Stimmen von beiden wurden lauter und lauter. „... das stimmt so nicht, nein, du bist mein Kind, ich habe dir alles zu sagen, du willst, wie ich will, wie ich will...“, tönte Peter immer stärker. Rose wollte flüchten, saß aber wie angewurzelt und sah die verzweifelten Blicke ihrer Mutter. Susan war schon wieder den Tränen nahe. Rose gab nach, gab nach wie ein viel zu lasches Gummiband, das schon etwas porös ist.

      Endlich im Bus, weg von zu Hause, weg von diesem Druck, der dort verbreitet wurde. Warum musste sie sich auch immer alles zu Herzen nehmen? Sie war ihrem Vater so ähnlich. Sie sagte das, was sie dachte, sprach alles offen aus, aber innerlich verglühte sie. Das tat ihr nicht gut. Im Bus war Roy: Gekämmt und mit viel Pomade saß er da und stierte in die Luft. Roy war sehr arrogant; er dachte, er sei etwas Besonders, weil ihm alle Mädchen nachrannten. Rose sah nur seine Stärke, und sie wollte davon etwas abhaben, aber sie sah nicht, dass Roy ihr nur wehtun würde. Rose ging auf ihn zu, da bremste der Busfahrer stark und Rose wurde durch den halben Bus katapultiert; aus ihrer Tasche fiel der Zettel mit der Zeichnung. Sie griff noch danach, doch er verlor sich in dem Getümmel. Da ging ein Traum dahin. Jetzt ging Rose noch für drei Jahre zur Schule. Roy rannte sie jeden Tag hinterher, vergeblich. Das schwächte Rose zusätzlich, schränkte sie ein, auch zu Lasten ihres Selbstvertrauens. Aurora und Monica stiegen zu. Ihr Lachen war sehr versöhnlich. Sie halfen die Schulbücher einzusammeln, die mit Londoner Staub und kindlichen Fußabdrücken beschmutzt waren. Die Luft war stickig wie grüner Schlamm; atmen kaum möglich. So begann also Roses erster Schultag in einem Moloch von einer Stadt - mit allen Möglichkeiten, aber auch allen Ängsten.

      Die ersten Schulstunden zogen an Rose vorüber; sie nahm nur ihre eigenen Geräusche war und ihr Herzklopfen. Rose wollte nicht mehr in der Historie oder in der Zukunft leben. Jetzt in diesem Augenblick wollte sie leben. Aurora stupste sie an „...du bist dran“. Oh ja, Rose war brav, riss sich zusammen und antwortete. Logisch. Bloß keine Schwächen zeigen. Mrs. Smith war streng und trug nicht zu einem aufgelockerten Unterricht bei.

       Kapitel 2: Aurora trägt die Liebe des Ostens in sich

      Nur Aurora ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen. Sie dachte viel an Pakistan, an die weiten Reisfelder, an ihren liebenden Großvater Salman. Die vertrauten Gespräche mit ihm über die Liebe. Sie saßen dann immer im Zimmer hinter der einfachen Küche. Das Zimmer war rund und von allen Erdtönen beherrscht. Schwere, dunkle Teppiche und farbenfrohe Tücher von Orange und Ocker bis zu Tönen in dunkelroter Kirsche. Und der Duft nach Gewürzen aus der Küche - in der ihre Großmutter ein Chutney zubereitete -, nach Pfeffer, Muskat und Pfefferminze erfüllten den Raum. Der Großvater rauchte in aller Sinnlichkeit eine Wasserpfeife und senkte seinen Blick auf Aurora. „Verliere nie den Glauben an die Menschen, auch wenn du mal Enttäuschungen erleben magst, traue dich, offen zu sein.“ Aurora zog die Beine an und lauschte. Salman paffte dazwischen immer an seiner Pfeife und sinnierte über das Leben. Er war ein stolzer Mann, sein Gesicht war von grau meliertem Haar eingerahmt. Seine Augen hatten die Farbe eines verwässerten indischen Ozeans, und sie strahlten in weiser Güte. Salman war die Ruhe selbst. Nach turbulenten Jahren im Gebirge, dem Übersiedeln von Indien nach Pakistan in den 50er Jahren und vier Frauen, denen er seine Liebe schenkte, erschütterte ihn wenig. Aurora war die Enkelin seiner dritten Frau aus Marokko. Aurora vereinte die Verspieltheit der Berber mit der Weisheit Indiens, Salman gab ihr nun den letzten Schliff. „Lebe dein Leben, dein Leben ist schön. Suche nie nach der Liebe; du hast sie immer in dir. Lasse die Liebe leben. Auch wenn die Wüste trocken ist, birgt sie unendlich viel Leben, denn das nimmt sich die Wüste einfach, das was sie braucht, um zu leben. Es gibt nichts, was intensiver ist, was mehr Freiheit vermittelt. Liebe birgt Leben in sich; vergiss das nie. Leben ohne Liebe ist umsonst. Auch wenn deine Liebe einmal vertrocknet sein sollte, kannst du sie zum Blühen bringen. Immer wieder, so oft du es möchtest. Du brauchst dazu nicht mehr als einen Funken - einen ich-öffne-mich-tief-gehenden-Blick. Also gehe stolz und hebe deinen Kopf. Blicke frei und großzügig.“ So sprach er mit monotoner Stimme. Aurora sog all das in sich auf, wie ein Schwamm. Sie genoss seine Stimme und seine Geschichten. Sie saß sehr bequem auf einem Sofa mit unendlich vielen Kissen, versunken in Wärme und Zutrauen, eingehüllt von Wärme und dem Rauch der Wasserpfeife. Salman lächelte mild „Aurora, eines ist noch wichtig: Vergesse nicht das Lächeln über die Welt. Sie ist unser jetziges Zuhause, und sie meint es gut mit uns.“

      Dann steckte Großmutter Selma ihren Kopf herein. „Du musst sofort gehen, Aurora; die Bande der freien Kämpfer für Kaschmir ziehen durch den Ort. Salman bring sie zum verabredeten Punkt, damit du endlich in Freiheit kommst.“

      Ja, so kam Aurora nach London, mit einem Koffer und der Adresse ihrer Eltern, die bereits hier waren.

      Mrs. Smith holte Aurora unsanft in die Wirklichkeit zurück.

      Aurora hielt ihren Kopf leicht schief und