Kim Scheider

"Brender ermittelt"


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      Immerhin hatte er drei Stockwerke Zeit, sich herzurichten und so konnte er halbwegs sicher sein, dass die Frisur saß, als er oben ankam.

      Viviens derzeit dunkelroter Lockenkopf erschien aus dem Badezimmer, als er gegen die offen stehende Wohnungstür klopfte und strahlte ihn an.

      “Hi Chris,” rief sie gut gelaunt. “Anna ist im Wohnzimmer.” Dann war sie wieder verschwunden.

      Frey fragte sich, wie man in drei Tagen so viel Bräune abbekommen konnte, aber als er auf dem Weg ins Wohnzimmer am Bad vorbei kam, beschlich ihn der Verdacht, dass Vivien mit etwas Schminke ordentlich nachgeholfen hatte.

      Ein ganzes Sammelsurium an Döschen und Tuben umgab das winzige Waschbecken. Und so ziemlich alle schienen gerade benutzt worden zu sein. Beruhigend zu wissen, dass er nicht alleine war mit seiner Eitelkeit. Grinsend ging er auf das Wohnzimmer zu und spähte erwartungsvoll hinein.

      Anna saß auf dem Sofa und hielt etwas in den Händen, dass sie still betrachtete. Sie schien noch gar nicht mitbekommen zu haben, dass er dort stand und war tief in Gedanken versunken. Einen Moment lang beobachtete er die junge Frau, die seine Gefühlswelt derart auf den Kopf gestellt hatte. Die zarte Gestalt täuschte darüber hinweg, was für eine ungeheure Kraft und welchen eisernen Willen sie hatte. Ihre nach wie vor kurz geschnittenen dunklen Haare umrahmten ihr hübsches Gesicht und glänzten im Licht der Frühlingssonne, die durch das große Fenster des Altbaus beinahe den ganzen Raum durchflutete. Wie sie so da saß, wirkte sie wieder genauso zerbrechlich und hilflos, wie im Februar, als Tom Lorenz plötzlich bei den Dreharbeiten aufgetaucht war.

      Anna hatte an diesem Tag eine Gastrolle gespielt und es war ihnen bis heute unbegreiflich, wie Tom davon gewusst haben konnte. Er hatte sie auf der Toilette abgefangen und versucht, sie durch eine Spritze mit Heroin wieder abhängig zu machen, was ihm jedoch nicht gelungen war. Der befürchtete Rückfall war dank sofortiger medizinischer Überwachung und Annas starkem Willen nur sehr schwach ausgefallen. Aber es war das erste und bislang einzige Mal gewesen, dass der flüchtige Massenmörder und Psychopath sich öffentlich gezeigt hatte und er hatte ihr versprochen, dass sie wieder von ihm hören würden. Bis jetzt war das zum Glück ausgeblieben, was Freys Hoffnung nährte, dass Lorenz allmählich das Interesse an ihnen verloren hatte.

      “Komm doch rein”, sagte sie leise.

      Sie hatte ihn also doch bemerkt. Was war nur in der letzten halben Stunde passiert, dass sie derart verändert hatte? Von der lustigen und gut gelaunten Anna von vorhin war nichts mehr übrig. Besorgt eilte Frey um die Couch herum und setzte sich neben die junge Frau, die ihn traurig ansah.

      “Ich denke, es geht wieder los”, sagte sie und reichte ihm ein schön gearbeitetes Holzkästchen, das noch halb in Paketpapier eingewickelt war. Als er es vorsichtig aufklappte, sah er zum ersten Mal einen der schwarzen Spitzenhandschuhe.

      Polizeipräsidium Köln Kalk, Kantine

      Eigentlich war ihnen der Appetit vergangen, aber da Werter die ganze Zeit über herummaulte, dass er jeden Moment einen grausamen Hungertod sterben würde und ohne etwas im Magen unmöglich weiter arbeiten könnte, hatten Grzyek, Herwig und Karstens sich überreden lassen, ihren Not leidenden Kollegen in die Kantine zu begleiten. Was auch gar keine so schlechte Idee war, da der Kaffee dort zugegebenermaßen besser schmeckte, als der aus der alten Maschine im Büro und sie sich nach der Sitzung bei ihrem Chef, Kriminaloberrat Hülser auch wirklich einen verdient hatten.

      Wie üblich hatte er sich furchtbar aufgeregt, Erfolge verlangt, sich über die Schlechtigkeit der Welt im Allgemeinen und die offenkundige Unfähigkeit des Ermittlerteams im Speziellen und wieder von vorne aufgeregt. Neu war, dass er sich alle fünf Minuten irgendwelche Pillen einwarf, von denen er anscheinend glaubte, sie würden ihm helfen, sich zu beruhigen. Zu guter Letzt hatte er sie förmlich rausgeworfen, unter der Androhung, sie alle zurück zur Streife zu versetzen, sollten sie diesen Tom Lorenz nicht endlich dingfest und dieser ganzen unsäglichen Geschichte ein Ende machen.

      Schweigend nippten die drei nun abwechselnd an ihren Getränken, während sie interessiert Werters Kampf mit dem hauseigenen Kantinendrachen beobachteten. Er hatte den Fehler begangen zu fragen, ob die Küche denn auch regionale Bioprodukte für ihre Gerichte benutzte und warum es nur ein Mal in der Woche ein vegetarisches Angebot gab. Ein Fehler, den er sicher so schnell nicht noch einmal begehen würde. Mit hochrotem Kopf brüllte Frau Matuschek, wie der Kantinendrache mit richtigem Namen hieß, den vollkommen unvorbereiteten Neuling zusammen. Unter anderem beschimpfte sie ihn als einen neunmalklugen Wichtigschwätzer, der wohl meine, bloß weil er einen tollen Abschluss habe, sei er was besseres, als sie einfache Küchenkraft und was er sich einbilde, mit seinen gerade mal abgeklungenen Pubertätspickeln im Gesicht hier zu stehen und ihre Arbeit zu kritisieren.

      Sie hätten ihn natürlich vorwarnen können, aber da musste jeder Neuling durch. Was bei Sekten die Blut- und bei Gangs die Mutprobe war, entschied hier die erste Konfrontation mit dem Kantinendrachen. Wer überlebte hatte bestanden.

      Im Grunde waren sie sich sicher, wie die Sache ausgehen würde. Frau Matuschek würde noch eine Weile vor sich hinbrüllen und Werter würde dann irgendwann doch die Currywurst mit Pommes bestellen, bloß damit sie endlich Ruhe gab. So ging es jedenfalls meistens aus.

      Doch da hatten sie Werter unterschätzt. Ruhig stand er da und wartete ab, bis sie ihre Tiraden unterbrechen musste, um Luft zu holen, dann legte er los.

      „Erstens, liebe Frau...”. Er sah sich suchend nach einem Namensschild um, fand es und sprach mit ruhiger Stimme weiter. “Erstens, liebe Frau Matuschek, habe ich Sie nicht kritisiert, sondern Ihnen lediglich zwei einfache Fragen gestellt. Ein “keine Zeit, kein Geld, kein Personal” hätte mir als Erklärung völlig gereicht. Und zweitens, wehrte Frau Matuschek, ist der Wunsch nach gesunder Ernährung weder eine Frage der Bildung, noch des Alters, sondern für meine Begriffe eine Frage des gesunden Menschenverstandes!”

      Das saß.

      Der Kanaldrache mutierte kurzzeitig zum Seeungeheuer, das hilflos nach Luft schnappte. Man sah ihr an, dass sie nach einer wahrhaft vernichtenden Antwort suchte, doch scheinbar fiel ihr nichts passendes ein. Werter stand freundlich lächelnd vor ihr, die personifizierte Ruhe, was sie sicher noch wütender machte.

      Schließlich geschah das Unfassbare: Matuschek kämpfte die Wut mühsam nieder, rang sich ein “Was darf es dann jetzt sein?” ab und klatschte ihm lieblos eine Ladung des gewünschten Salates auf den Keller.

      “3,80€!”, fauchte sie, kassierte und entschwand.

      Darauf brauchte sie wohl erst mal eine Beruhigungszigarette. Oder zwei.

      Werter setzte sich zu ihnen an den Tisch und begann den Salat in sich hineinzuschaufeln, als sei nichts gewesen. Erst als er bemerkte, dass die anderen ihn ansahen, als sei er ein besonders exotisches Lebewesen, unterbrach er seine Mahlzeit.

      “Was?”, fragte er verständnislos.

      “Nichts, alles gut!”, beeilte Grzyek sich zu sagen und nahm hastig einen Schluck von ihrem Kaffee.

      “Was ist so schlimm daran, wenn man sich gesund ernähren möchte?”

      “Nichts. Ich sag ja, alles ist gut!”

      Misstrauisch sah er von einem zum anderen, doch als nichts mehr kam, aß er schließlich weiter.

      “Wenn du dann fertig bist, mit der gesunden Ernährung”, sagte Herwig schmunzelnd, “fühlst du dich dann vielleicht im Stande, uns von deinen Suchergebnissen berichten?”

      Grzyek und er hatten den Morgen überwiegend mit ihren Handschuhen bei den Kollegen von der Spurensicherung verbracht. Karstens hingegen war bei dem Friedhofsverwalter, der die Grabplünderung inzwischen bei der Polizei gemeldet hatte und ihm versicherte, in seiner gesamten Berufslaufbahn noch nichts derartiges erlebt zu haben.

      “In über vierzig Jahren habe ich so etwas noch nicht gehabt. Der Albtraum meines Berufsstandes schlechthin!”, schimpfte er und schien die Tatsache, dass es nun doch noch passiert war, fast persönlich zu nehmen.