Paul Kübler

Mein Leben begann 1918 in Weimar


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Weg zur Stadt konnte man abkürzen, indem man durch ein Waldstück abwärts Richtung Ilm lief. Dieser Weg endete am alten Elektrizitätswerk. Daneben war die Pferdeschlächterei

      Anton. Für jeden Groschen, den ich geschenkt bekam, kaufte ich mir ein Stück frische Knackwurst.

      Kinder gab es in dieser Barackensiedlung, die als Notwohnungen bezeichnet wurden, reichlich. Familie Mackedei hatte mehrere Kinder, mit denen wir gern spielten.

      Mein Vater ging einmal in der Woche, wenn Zahltag war, auf den Markt und kaufte ein. Dazu nahm er den Tragkorb. Meine Mutter hatte mit uns Kindern zu tun. Ich kann mich noch erinnern, dass ich auf den Tisch kletterte und in diesem Tragekorb nach Bonbons suchte. Jede Tüte untersuchte ich.

      Mein Vater sagte, das seien Zwecken oder Täckse. Er reparierte unsere Schuhe selbst und brauchte die dazu. Von seinen Charaktereigenschaften habe ich einiges geerbt. Ich denke dabei an seine Energie, seine Gutmütigkeit und seinen Humor.

      Zahltag

      Meine Mutter hatte sich ein Kleid gewünscht. An einem Zahltag gab ihr mein Vater Geld für das Kleid. Weil dies meiner Mutter zu wenig war, warf sie es verärgert auf den Boden. Mein Vater sagte in einem ruhigem Ton: »Marta schämst Du dich nicht? Mein sauer verdientes Geld wirfst Du mir vor die Füße.« Dabei kniete er nieder und las alles auf.

      Meine Mutter ging in das Schlafzimmer und heulte sich aus. Sie sagte, sie hätte sich so geschämt. Sie trotzte mehrere Tage und gab ihm keine Antwort. Da hat er an einem freien Nachmittag angefangen, den Kleiderschrank auszuräumen. Ein Fach nach dem anderen machte er leer und legte alles, was er herausnahm, auf die Betten. Meine Mutter sah wütend zu und sagte zunächst nichts, bis ihr das Tun doch zu viel war.

      »Was suchst Du denn?« fauchte sie. Mein Vater hielt inne und sagte hoch erfreut: »Marta, ich habe es schon gefunden. Deine Sprache.«

      Da war alles wieder in Ordnung und gemeinsam räumten sie den Schrank wieder ein.

      Für uns Kinder hatte er auch ein gutes Herz. Obwohl sein Verdienst damals als Streckenarbeiter nicht so hoch war, brachte er für jeden von uns vom Einkauf eine Kleinigkeit mit.

      Ich hatte die Angewohnheit, nachts zu weinen und um Brot zu betteln. Meine Mutter wollte es mir abgewöhnen und erbat sich Ruhe. Mein Vater holte mir ein Stückchen Brot und es war Ruhe. Seine Meinung war, ein Kinderhändchen sei doch schnell gefüllt.

      1922

      Es muss Januar oder Februar gewesen sein, wurde ich wach und war allein im Schlafzimmer. Schüchtern ging ich barfuß und im Nachthemd in das Wohnzimmer. Alles war dunkel, die Fensterläden waren noch zu und meine Mutter saß mit den vier anderen Geschwistern um den Tisch herum und alle heulten. Ich schaute unwissend meine Mutter an und schmiegte mich an sie. Sie nahm mich auf den Schoß und sagte: »Papa kommt nicht wieder«.

      Warum, erfuhr ich später – er war in dieser Nacht auf dem Weg zur Arbeit auf dem Viadukt von einer außerplanmäßig eingesetzten Lokomotive überfahren worden. Der Tod unseres Vaters änderte unser ganzes Leben.

      Meine Mutter begann im Hotel »Russischer Hof« als Zimmerfrau zu arbeiten. Wir Kinder beschäftigten uns so gut es ging. Die Größeren gingen zur Schule und nachmittags unternahmen wir etwas gemeinsam. Zwischen uns Kindern kann ich mich nicht an Zänkereien erinnern. Unsere Mutter brachte manchmal in einem Eimer Reste vom Essen mit. Ich weiß noch, dass die »Großen« immer versuchten, etwas zu Essen zu besorgen. Eines Tages sagte Männe (Hermann): »Ich habe im Keller gesehen, dass unser Nachbar große Kartoffeln hat.« Schon machte Alfred mit ihm einen Plan, wie man an einige herankommen konnte. Wie, weiß ich nicht, jedenfalls hatten wir dann fünf bis sechs große Kartoffeln. Die wurden geschält und gerieben und davon eine Suppe gekocht. Fett hatten wir nicht, aber etwas Salz. Selbstgemachtes schmeckt eben immer!

      An manchen Tagen gingen wir »alle fünf« auf´s Dorf, um zu »fechten«. So nannten wir das Betteln. Das war für uns eine zusätzliche Nahrungsquelle. Eines Tages war meine Mutter zu Hause. Die Großen drängten wieder ins Dorf zu gehen. Meine Mutter gab die Erlaubnis und sagte: »Der Kleine bleibt aber bei mir.« »Nein, der muss mit, den brauchen wir doch«, sagte meine Schwester Rosa. »Wieso?«, fragte meine Mutter. »Ihr seid doch zu viert und groß genug, warum braucht ihr den Kleinen?“ Meine Schwester erklärte, dass die Bauern doch auch manchmal geizig seien und Alfred haue dann dem Kleinen richtig den Arsch voll, damit der brülle. Meistens fragten dann die Leute, warum denn der Kleine heule. Und wir dann: »Na ja, der hat doch Hunger. Und schon bekommen wir immer etwas mehr.« Man muss sich vorstellen, ich war damals vier und wurde erst im Dezember fünf Jahre alt. Diesen Vorfall erzählte mir meine Mutter. Sie wurde krank und musste operiert werden.

      Das Jugendamt

      Unsere Verwandten hatten mit sich zu tun und nahmen uns nicht auf. Meine Mutter hatte fünf Geschwister, davon waren zwei noch jung und ledig. Im Sommer 1923 griff das Jugendamt ein und löste allmählich unsere Familie auf. Meine Schwester Rosa ging als erste weg. Sie kam zu einer alleinstehenden Frau nach Blankenheim bei Weimar. Männe und Alois wurden nach Berlstedt bei Weimar zu Pflegeeltern gegeben – Alois zum Schneider Sander und seiner Frau, ein älteres Ehepaar.

      Männe kam zu Frau Röder. Frau Röder war die Tochter des Ehepaares Sander. Beide Brüder kamen einmal zu Besuch und brachten Stachel- und Johannisbeeren mit. Alfred und ich, wir kamen in das Feodora-Kinderheim in Weimar am Jacobsplatz. Mir hat es da gar nicht gefallen. Der Kakao schmeckte bitter. Die Tanten gaben sich ja große Mühe, aber ich wollte heim.

      Bei einem Spaziergang in dem Goethepark kamen wir an der Ilmbrücke vorbei, die ich überqueren musste, wenn wir nach Oberweimar zu den Großeltern wollten. Ich hatte die Brücke gesehen und schon war ich fort. Weit kam ich nicht und an dieser Brücke führten unsere Spaziergänge nicht mehr vorbei. Nach wenigen Wochen wurden wir, Alfred und ich, in ein Kinderheim nach Stadtrode gebracht. Mir gefiel es dort besser. Der Kakao war schön süß. Die Schwestern waren nicht so stark eingespannt und hatten auch mehr Zeit für uns. Ich war das jüngste Kind und wurde von allen auch einmal gedrückt und auf den Arm genommen. Sehr gut hat mir eine Wanderung gefallen. Es ging an einem kleinen Bach entlang. Der Bach hatte ganz klares Wasser und rechts und links standen Bäume. Heute weiß ich, es waren Weiden. Die Schwestern lobten mich, weil ich den ganzen Weg gelaufen war. Ich sehe das Bild von dem Bach und dem Tal heute noch vor meinen Augen. An den Hof des Kinderheims grenzte ein großes Haus. Eine glatte Mauer ragte zum Himmel hoch und kleine vergitterte Fenster waren der einzige Schmuck. Aus einem dieser Fenster schaute oft ein rot angelaufenes Männergesicht durch das Gitter. Nur gut, dass es sehr hoch war, sonst hätten wir uns gefürchtet. Wenn es am schönsten ist, sollte man gehen - und so wurden wir, ich war ja nun fünf Jahre alt, in ein anderes Heim nach Ebeleben gebracht. Das war ein Gut - als Kinderheim eingerichtet - mit Landwirtschaftsbetrieb zur Eigenversorgung, einem großen Haus mit Stallungen und einer Scheune, die den Hof eingrenzten, sowie einem großen Park mit hohen Bäumen. Hier gab es eine grundlegend andere Ordnung. Außer dem Schulunterricht wurden die Heimkinder zu leichten Arbeiten eingeteilt. Je nach Jahreszeit zur Feldarbeit, im Herbst den Park von Laub zu säubern oder bei der Ernte helfen. Ganz genau erinnere ich mich noch an die Kartoffelernte. Es war meine erste Arbeit, das Kartoffellesen. Etwas ganz Neues, Kartoffeln nicht aus dem Keller, sondern aus der Erde herausholen, das machten die »Großen« und ich durfte auflesen. Bei der Arbeitseinteilung hat mich der Hausmeister zum »Mückenfangen« eingeteilt. Am Anfang hatte ich diesen Auftrag auch ernst genommen, denn am Fenster im Keller gab es viele.

      Nach dem Oktober wurde auch geschlachtet. Der Fleischer nahm mich mit und zeigte mir das »Opfer«. Ich bekam von ihm den gekochten Schwanz! Das schönste Erlebnis war die Weihnachtsfeier. Wochen vor dem Fest wurde jedes Kind nach seinem Weihnachtswunsch gefragt.

      Ich wünschte mir eine Mütze, Handschuhe und einen Schal. Am Heiligabend mussten wir unsere besten Sachen anziehen und uns in der Turnhalle versammeln. 18 Uhr wurden wir in das so genannte Herrenhaus geführt. In der Diele stand ein herrlich geschmückter Weihnachtsbaum mit brennenden Kerzen. Bis an die Decke reichte die Spitze! Wir sangen