Helge Hanerth

Lebensweisheiten eines ordentlichen Trinkers


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Meine Erfahrungen sprachen für sich, die im Gegensatz zu gutachterlichen Erfahrungen, vor allen Dingen vollständig waren für eine qualifizierte Annahme. Den Mut zur Diagnose einer lückenhaften Anamnese habe ich nicht.

      Auf einer Betriebsfeier wählte ich extra einmal gegen meine Gewohnheit den Sekt statt Orangensaft. Übrigens hatte ich während der Trinkphase peinlichst darauf geachtet gehabt bei Empfängen nie Sekt zu trinken, um Beruf und Feierabend klar zu trennen. Job war Job und Schnaps war Schnaps, wie bei den Kollegen. Bei der Betriebsfeier dachte ich: ‚Und das soll mich jetzt in den Alkoholismus treiben?‘ Es war leicht, danach wieder zum Saft zu wechseln. Ein Alkoholkonsum ohne berauschende Wirkung konnte mich doch nicht animieren weiterzutrinken. Nach diesem Beweis dachte ich nicht mehr weiter über meine Risiken nach und verweigerte zugünftig wieder jedes Glas Sekt, einfach nur aus dem simplen Grund, weil Saft weniger sauer schmeckt.

      Die Rückkehr in den Job aus Elternzeit wurde zur Punktlandung. Das musste auch so klappen. Ich hatte unterschrieben, dass ich meiner Kündigung zustimme, wenn ich es nicht in der vereinbarten Zeit schaffe. Die Angst vor einschneidenden wirtschaftlichen Konsequenzen war groß. Als Kind litt ich schon sehr, als meine Mutter vorübergehend arbeitslos war. Dabei wusste ich schon damals, dass die Folgen nicht sehr dramatisch sein konnten für unsere Familie, weil mein Vater ja als Polizist ein Landesbeamter war.

      Ich fand mich toll, mein Ziel hingekriegt zu haben, denn mir war klar, ohne meine sportlichen Stärken wie Zielstrebigkeit, Leidensfähigkeit, Sturheit etc. hätte ich das vielleicht nicht erreichen können.

      Es tat gut, sich wieder in richtiger Arbeit auszutoben, deren Ergebnisse sich für die Firma und für mich in barer Münze auszahlten. Ich hatte Umsatzverantwortung. Mein Erfolg war individuell in Euro messbar. Von Anfang an stürzte ich mich auf jede Aufgabe, die ich an mich reißen konnte. Ich wollte schnell wieder mit meinen Umsätzen in den Rankings nach oben, wollte vergessen machen, dass es da eine Auszeit gegeben hatte. Schluss war nun mit Gammelei. Den Gedanken, dass man ohne mich ausgekommen war, verdrängte ich schnell. Ich wollte überall präsent sein und am liebsten unersetzlich. Das war ich doch auch dem Chef schuldig. Er hatte gegenüber der Personalabteilung meine Interessen vertreten. Sein persönlicher Einfluss war ausschlaggebend gewesen. Auf meine Loyalität durfte er jetzt noch mehr bauen.

      Etwa ein Jahr blieb mir Zeit für Wiedergutmachung, dann würde der Betriebsübergang meines Betriebsbereichs uns trennen. Dann sollte unsere Abteilung verkauft werden. Im Rahmen einer strategischen Neuausrichtung wurden wir gerade in eine GmbH umgewandelt. Als externe Konzerntochter sollten wir dann als Ganzes verkauft werden. Mit dem Verkaufserlös wollte die Mutter einen anderen Zukauf finanzieren. Der Erwerber unserer Abteilung stand schon fest. Er wollte mit uns seine Marktposition in einem wichtigen Segment ausbauen. Wir passten gut in sein Portfolio, und sie hatten einiges in der Pipeline. Für eine Markteinführung wollten sie sich mit uns verstärken. Markttechnisch gesehen würden wir von den neuen Besitzverhältnissen profitieren. Rational klang das nach einem vernünftigen Deal mit einer klassischen Win-Win Situation. Emotional blieb Skepsis.

      Den anstehenden Betriebsübergang spürte ich persönlich daran, dass ich über Monate immer weniger zu tun hatte. Die alte Mutter stellte immer bescheidenere Ziele. Die meisten Projekte ließ man auslaufen. Die gesamte Belegschaft ging in Warteposition. Bloß nichts tun, was nicht honoriert wird, war die allgemeine Devise. Irgendwann hatte ich nur noch ein Projekt am laufen. Das war mir aber sehr wichtig, weil es einen großen Kongress in den USA betraf. Ansonsten hatte ich zunehmend das Gefühl, ich habe mein Gehalt nicht wirklich verdient. Ich arbeitete doch so wenig. Also begnügte ich mich damit, in Startposition zu gehen für den Neuanfang und testete nebenbei meinen Marktwert durch Bewerbungen querbeet durch die Branche. Sollte der Neustart mit dem neuen Eigentümer nicht in meinem Sinne verlaufen, läge dann ein vollzugsfähiger Plan-B vor.

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      Ein besonderer Höhepunkt wurde die zweite Schwangerschaft meiner Frau. Natürlich verlief alles anders als beim ersten Mal. Es war doch alles besprochen. Meiner Frau war klargeworden, dass sie nicht an meiner Liebe zweifeln musste, wenn ich Sport trieb. Sport war eben zu erst in meinem Leben gewesen und immer ging es mir mit Sport besser. Das kann man auch nicht so leicht verstehen, wenn man diese Prägung nicht selbst erfahren hat. Was man aber nicht verstehen kann, kann man trotzdem respektieren. So begann die zweite Schwangerschaft viel entspannter als die erste.

      In der siebenundzwanzigsten Schwangerschaftswoche kam es zu einem einschneidenden Ereignis. Meine Tochter drängte es mit aller Macht in die Welt. Meine Frau und ich entschieden uns, als die Wehen unerwartet massiv einsetzten, nicht zum nächsten Krankenhaus zu fahren. Es gab eine Spezialeinrichtung mit eigenem RTW für Frühchen, die nicht viel weiter entfernt lag. So konnten wir sicherstellen, das alle Fachleute bereits vor Ort waren bis hin zum Kinderkardiologen für eine sehr frühe Frühgeburt. Meine Frau kam vom Auto direkt in den Kreissaal. Fünfzehn Minuten später war meine Tochter da. Sie atmete von Anfang an weitgehend selbstständig. Das war unter den Umständen ein guter Anfang. Die ersten zwei Monate verbrachte sie auf der angeschlossenen Intensivstation.

      Das war eine harte Prüfung. So sehr sich die Ärzte und Schwestern bemühten, eine entspannte Atmosphäre von Sicherheit zu schaffen, wich die Anspannung nie ganz. Einmal vermisste ich auch ein anderes Elternpaar mit ähnlichem Schicksal, das ich jeden Tag getroffen hatte. Kamen sie nicht mehr, weil ihr Kind es nicht geschafft hatte? Das machte mir wieder bewusst, dass nicht immer die Anstrengungen der Fachkräfte und der Einsatz toller Technik mit Erfolg belohnt werden. So war es schon eine Erleichterung, als meine Tochter nach endlosen Wochen mit Maximalversorgung, innerhalb der Station verlegt wurde. Nach und nach arbeitete sie sich weiter hoch und wurde in Zimmer verlegt mit abnehmender technischer Versorgung. Das machte Hoffnung, als ihre Organe allmählich selbst tun konnten, wobei sie zuvor Maschinen unterstützt hatten.

      In dieser Zeit trank ich nicht. Es wäre so sinnlos gewesen und hätte ein neues Motiv gebraucht. Trinken wegen eines Problems, das war mir zu billig. Probleme schafft man aus der Welt. Ich bin doch ein <Macher>. Damit widersprach ich wieder Mal Gutachtern. trinken um Problemen wegzulaufen ist ein Trinkmotiv. Wieder Mal denke ich, wie wichtig ein vollständiges Bild für eine Prognose ist, das in jeder MPU gefehlt hat. Ich wusste, ich mag intensives Erleben nicht nur in guten Zeiten. Prüfungen in harten Zeiten empfinde ich als natürlich. Es ist nicht meine Art wegzulaufen, wenn es schwierig wird. Auch hier gilt mir <C`est la vie>. Es gibt Herausforderungen des Lebens, die immer aus heiterem Himmel über uns hereinbrechen können. Da darf man dann nicht erschrocken sein. Da frage ich nicht: ‚Warum trifft es gerade mich‘. Die Herausforderungen nehme ich an, weil dass das Leben ist. Sicher hilft es, wenn man sich solche Gedanken schon im Vorfeld gemacht hat. Wer Risiken verdrängt ist in jeder Situation schlecht vorbereitet.

      John Lennon hat mal dazu mit einem Achselzucken gesagt: „Life is, what happens to you, while you are busy making other plans.” Einige Zeit später wurde er ermordet. Das Leben ist anzunehmen, weil wir keine Voraussagen machen können. Deswegen wurde Lennons Aussage bereits mein Leitspruch, als ich Student war und für die DLRG im Sommer Wachdienst in einem Nordseebad schob und statt mit Wasserrettung mit Reinfarkten von Herzpatienten in Kur konfrontiert wurde.

      Die Situation mit meiner Tochter war eben so wie sie war. So war sie anzunehmen in aller Offenheit und Intensität. Das durfte die Kleine so von mir verlangen. Das entsprach auch meinen Lebensgrundsätzen, die ich manchmal umständlich philosophisch ableite. Ich freute mich obendrein auch deshalb, weil meine theoretischen Grundsatzüberlegungen den Praxistest bestanden. Das war doch auch Ansporn. Dazu hatte ich hier und jetzt mit meiner Tochter die Gelegenheit. In diesem Zusammenhang überhaupt an Alkohol zu denken, verbot sich selbstredend. Trotzdem tue ich es hier. Gutachter hatten in Bezug auf mich von einem Entlastungstrinker gesprochen. Andere mochten nicht an die Praxistauglichkeit meiner philosophischen Lebensmaximen glauben oder an die Prägung von Eigenschaften durch Sport. Oft genug verstand man es nicht meine philosophischen Lebensprinzipien und meine manchmal extremen sportlichen Herausforderungen zu interpretieren. Man wollte nicht sehen, dass solche Erfahrungen mir auch über den Alltag hinaus, als Vorbereitung auf besondere und manchmal extreme Lebenssituationen dienten. Ich wollte allen Schicksalsschlägen gewachsen sein, selbst wenn sie aus dem Nichts über mich hereinbrachen. Aber die Gutachter sahen mich eher als Adrenalinjunkie, der kein