Katrin Pieper

Wie Opa und ich die Deutsche Einheit feierten


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und ein zweites.

      "Ich weiß ja nicht, Pinchen, was die Bäcker heutzutage da alles rein tun, nur damit man es wochenlang verkaufen kann. Aber findest du nicht, dass es ein wenig, sagen wir mal, alt schmeckt?"

      Da ich die Torte weitgehend im Mund hatte und versuchte, sie im Stück herunterzuwürgen, konnte ich nicht sogleich antworten und Oma tat etwas, was so ganz und gar nicht in meinen Plan passte: Sie schob die Torte von sich und meinte, dass sie das ihrem Magen nicht zumuten wolle.

      Da hatte ich die Idee des Jahrhunderts, Scrabble! Ich schlug Oma vor zu scrabbeln. Das ist für eine Schülerin mit meinen Deutschkenntnissen verheerend, aber es ging ja um Größeres, die Fünf in meiner Tasche drängte und Oma war begeistert.

      "Aber nicht so militant", erklärte sie.

      "Was ist militant?", fragte ich.

      "Na, du musst auch mal Abkürzungen oder ungewöhnliche Wortbildungen zulassen. Natürlich nur wenn's nicht anders geht. Opa war ja ein Duden auf zwei Beinen! Was da nicht drin stand, kam nicht infrage. Er war ja immer so unkreativ!"

      Oma kniff ein Auge zu und sah ziemlich frech aus für ihre alten Tage. Aber ich wollte auf keinen Fall unkreativ sein. Nicht jetzt!

      Aber dann gab ich innerlich doch Opa recht. Oma schuf das Wort Karzenkopfschwanzbraten, weil es bis an den dreifachen Wortwert reichte. Auch Praten und Ksylofon ließ ich durchgehen, auch Quwait, obwohl ich mir ganz sicher war, dass es mit K geschrieben wurde. Nur einmal muckte ich auf, als Oma Japan mit Y schrieb, weil das Y eben den zehnfachen Buchstabenwert hatte.

      Da guckte Oma mich plötzlich scharf an.

      "Sag mal, was hast du denn in Deutsch?"

      Irgendwie war ich schon fix und fertig und sagte einfach mal die Wahrheit, und zwar der Reihe nach und gleich mal alles. "Eine Fünf in der Tasche und die musst du unterschreiben, sonst toben Mama und Papa die halbe Nacht herum und ich muss zur Schülerhilfe, und das macht die doofe Karoline und ich will da nicht hin."

      Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte losgeplärrt, wie die kleine Luise von nebenan.

      "Na, na", sagte Oma. Kam um den Tisch und schob die Scrabblesteine beiseite.

      "Zeig's mir mal."

      Sie unterschrieb und zu meiner Freude viel ähnlicher als Opa es gebracht hatte, holte dann den großen Pralinenkasten hervor, den Opa ihr am Vorabend seines Abflugs geschenkt hatte.

      "Das passt jetzt, obwohl von diesem Teufelsbraten", seufzte sie und jeder von uns aß hintereinander drei bis sechs Stück.

      Wir schwiegen ein Weilchen, Oma rülpste laut, wahrscheinlich war die Schokolade doch zu schwer. Dann klappte sie den Kasten zu.

      "Pinchen", meinte sie, "und von nun ab, jeden Nachmittag ein halbes Stündchen Diktat, sollst mal sehen, bald muss ich nichts mehr unterschreiben."

      Erwachsene sind Fallensteller, eben von der alten Art.

      4

      So im Laufe der Zeit hatten wir alle Opas Abwesenheit verkraftet.

      Mama regelte es auf die sozialistisch-demokratische Weise, wie Papa es nannte, sie verteilte Opas Aufgaben und fragte scheinheilig nach, ob es Gegenstimmen oder Vorschläge geben würde, und hatte dabei schon längst alles verteilt. Papa bekam am wenigsten ab, weil er jeden Sonntag am Auto herumschraubte und, wie Mama betonte, auch nicht mehr der Jüngste war. Außerdem stand noch die staatspolitische Aktion bevor: Opas Abflug musste vermeldet werden. Das machte Papa zu schaffen, er sah leidend aus und rauchte zuweilen sogar im Zimmer, was sonst streng verboten war, wegen der Gardinen.

      Oma wurde geschont, jedenfalls vorübergehend, außerdem warteten die gemeinnützigen Vereine schon auf sie.

      Suse und ich waren im Fokus, wie Suse es warnend nannte und Widerstand ankündigte.

      "Wir drei Weiber werden ja wohl Opas Aufgaben schaffen", gurrte Mama und strich uns liebevoll über die Haare, die sich bei Suse jetzt mal blau-weiß sträubten. Mama nahm auch sofort ihre Hand zurück, wahrscheinlich aus Angst, nun für immer eine anämische Hand zu haben. Und ich wollte auch nicht nur wegen einer erzwungenen Amtsübernahme gestreichelt werden.

      Opa war Einkäufer, Abwäscher und Gärtner gewesen.

      Den Vorgarten, der eigentlich allen Hausbewohnern gehörte, hatte Opa zu seinem Ersatzgarten gemacht, denn den richtigen Garten in der Kolonie "Grüne Kehle" hatte er verkauft, auf Omas Wunsch, weil es ständig zu Missverständnissen, wie Oma es nannte, gekommen war. Oma wollte der Natur, die da stand, keinen Einhalt gebieten, aber die Gesetzgeber der "Grünen Kehle" verlangten Johannisbeersträucher, Apfelbäume, Radieschen und Kartoffeln. Nach zehn Jahren waren Opas Nerven am Ende, weil der "Krieg an zwei Fronten", wie Opa es nannte, einfach nicht durchzuhalten war.

      Das Vorgärtchen brachte ihm liebe Worte aller Mitbewohner, weil schließlich jeder sah, dass da was gemacht werden musste. Suse war schnell wie immer. Suse übernahm den Einkauf, damit war klar, dass der Vorgarten an mir hängen bleiben würde. Beim Abwasch versprach Mama, auch mal einzuspringen und war mit dem Wahlergebnis zufrieden.

      "So", sagte Papa dann eines Abends, "heute war ich beim Amt und hab denen mitgeteilt, dass Opa abgehauen ist."

      "Halbwaise", sagte Suse grinsend.

      "Blödsinn", fuhr Mama sie an, "Opa ist ja nicht tot."

      "So gut wie", fuhr Suse ungerührt fort, "vielleicht stirbt er morgen, dann ist sowieso alles zu spät. Weiß ja keiner, ob die ihn dann wieder rüberlassen."

      Da stand Papa auf, um sich einen Schnaps zu holen, auch das darf er jetzt.

      Er trank mal gleich mehrere und setzte zu einer längeren Rede an, denn sechs Schnäpse oder acht machen aus Papa eine Schwatzdrossel.

      Vorausschicken will ich mal, der Ort, in dem wir leben, ist nicht sehr groß, aber sehr gesund, denn hier gibt es jede Menge Bäume, Wiesen, Felder und Wälder.

      Hier ist alles grün, auch die Leute, wenn sie sich auch manchmal untereinander nicht grün sind. Frau Lächler, die Leiterin des Einwohnermeldeamtes, so heißt die Stelle, wo Papa Opas Abflug mitzuteilen hatte, ist mit Papa in eine Klasse gegangen, als er noch zur Schule ging. Mit anderen Worten, sie kennen sich Langem und Frau Lächler, die mit Vornamen Brigitte heißt, sagt zu Papa Du und Freddy und er sagt Gitti zu ihr und er hat sie in der Sechsten auch heimlich geküsst.

      "Ach", soll sie gesagt haben, als Papa seine Mitteilung los war, "ach, das tut mir aber leid. Und ihr habt davon alle nichts gewusst? Hat er denn nie davon gesprochen?"

      "Nein", soll Papa gesagt haben, "nie, wie denn auch, so was teilt man doch nicht mit, oder?"

      "Naja", meinte Brigitte, "immerhin ist es Republikflucht und die will ja vorbereitet sein!"

      Das passte Papa nicht in den Kram.

      "Mein Vater ist nicht geflüchtet. Er will nur bei meiner Schwester, seiner Tochter leben. Ein alter Mann, den es zu seinem Kind zieht."

      Mama hüstelte. "Mir kommen die Tränen", schnaufte sie. Da war Papa schon bei Gläschen acht.

      "Ist doch aber so", erklärte er, ohne seine Zunge groß zu bewegen.

      "Wenn du so alt bist und eins deiner Kinder dort leben würde ..."

      "… würde ich auch nach drüben gehen", vollendete Mama seinen Satz.

      Papa sah traurig zu ihr hin.

      "Wie du das so sagst ... und was wird aus mir?"

      Suse wurde ungeduldig.

      "Weiter", drängte sie, "und dann, was hat die Lächler, also Gitti, denn nun gesagt?"