war Olivers Antwort.
»Möchtest du mir wohl ebenso leicht Taschentücher anschaffen können, wie Charley?«
»Warum nicht – wenn Sie es mich lehren wollen, Sir?«
Charley brach abermals in ein schallendes Gelächter aus und wäre dabei fast erstickt, da er eben einen Bissen zum Munde geführt hatte. »Er ist gar zu allerliebst grün!« rief er endlich, gleichsam zur Entschuldigung seines unhöflichen Benehmens, aus.
Der Baldowerer bemerkte, Oliver würde seiner Zeit schon alles lernen. Der Jude sah Oliver die Farbe wechseln und lenkte das Gespräch auf einen andern Gegenstand. Er fragte, ob viele Zuschauer bei der Hinrichtung gewesen wären, und Olivers Erstaunen wuchs immer mehr, denn aus den Antworten Jacks und Charleys ging hervor, daß sie beide zugegen gewesen waren, und es war ihm unerklärlich, wie sie dessen ungeachtet so fleißig hatten arbeiten können.
Als das Frühstück beendet war, spielten der muntere alte Herr und die beiden Knaben ein äußerst sonderbares und ungewöhnliches Spiel. Der alte Herr steckte eine Dose, eine Brieftasche und eine Uhr in seine Taschen, eine Brustnadel in sein Hemd, hing eine Uhrkette um den Hals, knöpfte den Rock dicht zu, ging auf und ab, blieb bisweilen stehen, als wenn er in einen Laden hineinsähe, blickte beständig umher, als wenn er Furcht vor Dieben hegte, befühlte seine Taschen, wie um sich zu überzeugen, ob er auch nichts verloren hätte, und machte das alles so spaßhaft und natürlich, daß Oliver lachte, bis ihm die Tränen über die Wangen hinabliefen. Die beiden Knaben verfolgten unterdes den Alten und entschwanden, wenn er sich umdrehte, seinen Blicken mit der bewunderungswürdigsten Behendigkeit. Endlich trat ihm der Baldowerer wie zufällig auf die Zehen, während Charley Bates von hinten gegen ihn anrannte, und sie entwendeten ihm dabei Taschentuch, Uhr, Brustnadel u. s. f. so geschickt, daß Oliver kaum ihren Bewegungen zu folgen vermochte. Fühlte der alte Herr eine Hand in einer seiner Taschen, so war der Dieb gefangen, und das Spiel fing von vorn wieder an.
Es war mehreremal durchgespielt, als zwei junge Damen erschienen, um die jungen Herren zu besuchen. Die eine hieß Betsy, die andere Nancy. Ihr Haar war nicht in der genauesten Ordnung, ihre Schuhe und Strümpfe schienen nicht im besten Zustande zu sein. Sie waren vielleicht nicht eigentlich schön, hatten aber viel Farbe und ein kräftiges, munteres Aussehen. Ihre Manieren waren sehr frei und angenehm, und so meinte Oliver, daß sie sehr artige Mädchen wären, was sie auch ohne Zweifel waren.
Sie blieben lange. Es wurden geistige Getränke gebracht, da die jungen Damen über innerliche Kälte klagten, und die munterste Unterhaltung entspann sich. Endlich erinnerte sich Charles Bates, daß es Zeit sei, auszugehen. Der gute alte Herr gab ihm und dem Baldowerer verschiedene Anweisungen und Geld zum Ausgeben, worauf sie sich nebst Betsy und Nancy entfernten.
»Ist's nicht ein angenehmes Leben, das meine Knaben führen?« sagte Fagin.
»Sind sie denn auf Arbeit ausgegangen?« fragte Oliver.
»Allerdings,« erwiderte der Jude; »und sie arbeiten den ganzen Tag unverdrossen, wenn sie nicht werden gestört. Nimm sie dir zum Muster, mein Kind; tu' alles, was sie dir heißen; und folg' jederzeit ihrem Rat, besonders dem des Baldowerers. Er wird werden ein großer Mann und auch aus dir machen 'nen großen Mann, wenn du dir ihn zum Vorbilde nimmst. Hängt mein Taschentuch aus der Tasche, mein Lieber?«
»Ja, Sir,« sagte Oliver.
»So sieh' einmal zu, ob du es herausziehen kannst, ohne daß ich's fühle, wie du's vorhin gesehen hast von den beiden.«
Oliver erinnerte sich genau, wie er es Jack hatte tun sehen und tat es ihm nach.
»Ist's heraus?«
»Hier ist es, Sir.«
»Du bist ein kluger Knabe,« sagte der alte Herr, ihm die Wange klopfend; »ich habe niemals gesehen ein anstelligeres Kind. Da hast du 'nen Schilling. Fährst du so fort, so wirst du werden der größte Mann deiner Zeit. Doch will ich dir jetzt zeigen, wie man herauslöst die Buchstaben.«
Oliver konnte gar nicht begreifen, wie er ein großer Mann dadurch werden könne, daß er dem alten Herrn das Tuch aus der Tasche zöge, meinte jedoch, daß es der so viel ältere besser wissen müsse, als er, und war bald eifrig mit seinen neuen Studien beschäftigt.
Kapitel 10
Oliver gewinnt Erfahrung um einen hohen Preis
Oliver blieb acht bis zehn Tage im Zimmer des Juden, wurde fortwährend beschäftigt, Zeichen aus den Taschentüchern, von denen eine große Menge nach Hause gebracht wurde, herauszutrennen, und nahm bisweilen an dem beschriebenen Spiele teil, das täglich gespielt wurde. Er fing immer mehr an sich nach frischer Luft zu sehnen und bat den alten Herrn mehrmals auf das dringendste, ihn mit seinen beiden Kameraden zum Arbeiten ausgehen zu lassen.
Endlich wurde ihm eines Morgens die Erlaubnis erteilt, unter Jacks und Charleys Aufsicht auszugehen. Es waren keine Taschentücher mehr da, an denen Oliver hätte arbeiten können, und vielleicht war dies der Grund, weshalb der alte Herr seine Zustimmung gab. Die Knaben gingen und gerieten sogleich in ein sehr langsames Schlendern, was Oliver höchst mißbilligte, eingedenk der vielfachen Warnungen des alten Herrn vor dem verderblichen Müßiggang. Der Baldowerer verübte mannigfachen Mutwillen an Knaben, und Charley erlaubte sich sogar, die Heiligkeit des Eigentums zu verletzen, wenn er an einem Apfel- oder Zwiebelkorb vorüber kam. Oliver war daher schon im Begriff, unwillig heimzukehren, als seine Begleiter auf einmal anfingen, sich äußerst geheimnisvoll zu benehmen, wodurch er von seinem Vorhaben abgelenkt wurde.
Sie umschlichen einen alten Herrn, auf den sie ihn aufmerksam gemacht hatten, ohne seine Fragen anders als durch einige ihm unverständliche Worte und Winke zu beantworten. Er hielt sich einige Schritte hinter ihnen und stand endlich, unschlüssig, ob er weitergehen oder sich zurückziehen solle, verwundert zuschauend da.
Der alte Herr sah sehr respektabel aus, trug Puder in den Haaren und eine goldene Brille. Er hatte sich vor einen Bücherladen hingestellt, ein Buch zur Hand genommen, las darin, sein spanisches Rohr unter dem linken Arme, und hörte und sah offenbar nicht, was um ihn her vorging.
Wer beschreibt Olivers Bestürzung, als der Baldowerer dem alten Herrn das Tuch aus der Tasche zog, es Charley Bates reichte, und als darauf beide spornstreichs davon liefen! Im Augenblick war ihm das Geheimnis der Taschentücher, Uhren und Kleinodien klar. Das Blut stockte ihm in den Adern, ihm schwindelte vor Furcht und Schrecken, und ohne zu wissen, was er tat, lief er seinen Kameraden nach, so schnell seine Füße ihn tragen mochten. In demselben Augenblicke griff der alte Herr nach seinem Tuche in die Tasche, vermißte es, drehte sich rasch um, sah Oliver laufen und erhob den Ruf: »Halt den Dieb!« – den magischen Ruf, auf welchen sofort alles lebendig wird, der Krämer aus seinem Laden auf die Straße stürzt, der Gemüsehändler seinen Korb, der Milchmann seinen Eimer, der Pflasterer seine Ramme, der Schulknabe seine Bücher im Stiche läßt und alles nachläuft.
Jack und Charley hatten Aufsehen zu vermeiden gewünscht und waren daher nur bis um die nächste Ecke gelaufen, worauf sie sich unter einem Torwege neugierigen Blicken zu entziehen suchten. Sobald sie das Geschrei »Halt den Dieb!« vernahmen, stimmten sie aus allen Kräften ein und schlossen sich wie gute Bürger den Verfolgern an. Diese Anwendung des großen Naturgesetzes der Selbsterhaltung war Oliver vollkommen neu. Er wurde noch mehr verwirrt und bestürzt und verdoppelte seine Eile, sah sich indes nach einiger Zeit eingeholt und wurde obenein zu Boden geschlagen.
In wenigen Augenblicken war ein zahlreicher Haufen um ihn versammelt. »Drückt ihn doch nicht tot!« – »Verdient er's besser?« – »Wo ist der bestohlene Herr?« – »Da kommt er schon; macht Raum für den Herrn!« – »Ist dies der Bursch, Sir?« – »Ja!«
Oliver lag da, mit Schmutz bedeckt, blutend aus Nase und Mund und sah betäubt und geängstet umher.
»Ich fürchte, daß es der Knabe ist,« sagte der Herr sehr milde.
»Das fürchten Sie? Der ist auch wohl der Rechte.«
»Der arme Kleine hat sich beschädigt,« fuhr der Herr fort.
»Das