»Er sagt, sie wären in seiner Kindheit gestorben, Ihr Edeln,« entgegnete der Gerichtsdiener. Es war die gewöhnliche Antwort in Fällen dieser Art.
Oliver hob bei der letzten Frage den Kopf empor, sah mit flehenden Blicken umher und bat mit schwacher Stimme um ein Glas Wasser.
»Albernheiten!« sagte Fang. »Hab' mich ja nicht zum Narren, Bursch!«
»Ich glaube wirklich, daß ihm unwohl ist, Ihr Edeln,« wendete der Gerichtsdiener ein.
»Ich weiß es besser,« fuhr Fang auf.
»Gerichtsdiener, halten Sie ihn!« rief der alte Herr, »oder er sinkt zu Boden.«
»Zurück da, Gerichtsdiener!« tobte Fang; »mag er, wenn's ihm beliebt.«
Oliver bediente sich der freundlichen Erlaubnis und fiel ohnmächtig von seiner Bank herunter.
Der Richter befahl, ihn liegen zu lassen, bis er wieder zu sich käme; der Schreiber fragte leise, wie Mr. Fang zu verfahren gedächte.
»Summarisch,« erwiderte Mr. Fang. »Er wird drei Monate eingesperrt – natürlich bei harter Arbeit.«
Zwei Schließer schickten sich an, den ohnmächtigen Knaben in seine Zelle zu tragen, als plötzlich ein ältlicher, ärmlich, aber anständig gekleideter Mann atemlos hereintrat.
»Halt – halt!« rief er; »um des Himmels willen noch einen Augenblick Geduld.«
Obgleich die Polizeibeamten die willkürlichste Gewalt über die Freiheit, den guten Ruf und Namen, ja fast das Leben der königlichen Untertanen, besonders der ärmeren Klassen, zu üben pflegen und obgleich in den Polizeigerichten genug Dinge vorgehen, um den Engeln blutige Tränen auszupressen, so erfährt das Publikum doch nichts davon, ausgenommen durch das Medium der Tagespresse. Mr. Fang war daher nicht wenig entrüstet, einen ungebetenen Gast eintreten und so ordnungswidrig auftreten zu sehen.
»Was ist das? Wer ist das? Werft den Menschen hinaus!« rief er.
»Ich will und muß reden, Sir; ich lasse mich nicht hinauswerfen; hab's alles angesehen. Ich bin der Besitzer des Buchladens. Ich verlange, vereidigt zu werden. Mr. Fang, Sie müssen mich anhören – Sie können es nicht wagen, mein Zeugnis zurückzuweisen, Sir.«
Er war im Recht und sah zu entschlossen aus, als daß der Richter es hätte wagen dürfen, ihn abzuweisen. Fang ließ ihm daher den Eid abnehmen und fragte darauf, was er zu sagen habe.
»Ich sah drei Knaben – zwei andere und diesen hier – um den Herrn da herumschleichen, der vor meinem Laden stand und las. Der Diebstahl wurde von einem anderen Knaben begangen, und dieser war ganz erstaunt darüber – sah aus, als wenn ihn der Schlag gerührt hätte.«
»Warum kamen Sie nicht schon früher her?«
»Ich hatte niemand, nach meinem Laden zu sehen, und bin hergelaufen, sobald ich jemand auftreiben konnte.«
»Also der Ankläger las?«
»Ja, Sir – in dem Buche, das er in diesem Augenblicke in der Hand hat.«
»Ah – ist es bezahlt?«
»Nein,« erwiderte der Buchhändler lächelnd.
»Mein Himmel, das hab' ich ganz vergessen!« rief der zerstreute alte Herr ganz unbefangen aus.
»Vortrefflich! – und Sie werfen sich zum Ankläger eines unglücklichen armen Knaben auf!« bemerkte Fang mit komisch aussehender Anstrengung, eine menschenfreundliche Miene anzunehmen. »Es scheint mir, Sir, daß Sie unter sehr verdächtigen und unehrenhaften Umständen zu dem Buche gelangt sind, und sie können sich sehr glücklich schätzen, wenn der Eigentümer nicht als Ankläger gegen Sie auftreten will. Nehmen Sie sich dies zur Lehre, mein Freund, oder Sie verfallen noch einmal dem Gesetze. Der Knabe ist freizulassen. Räumen Sie das Gerichtszimmer!«
Der alte Herr wurde unter Ausbrüchen der Entrüstung, die er nicht länger mehr zurückzuhalten vermochte, hinausgeführt. Er stand im Hofraume, und sein Zorn verschwand. Oliver lag auf dem Steinpflaster; man hatte ihm die Schläfe mit Wasser gewaschen; er war weiß wie eine Leiche und zitterte krampfhaft am ganzen Leibe. »Armes Kind, armes Kind!« sagte Mr. Brownlow, sich über ihn hinunterbeugend. »Leute, ich bitte, schaff' mir doch jemand sogleich einen Mietwagen.«
Gleich darauf fuhr ein leerer Wagen vorüber, Oliver wurde sorgfältig hineingehoben und auf einen Sitz gelegt, während der alte Herr auf dem anderen Platz nahm.
»Darf ich Sie begleiten?« sagte der Buchhändler.
»Ja, ja, mein werter Herr,« erwiderte Brownlow. »Ich habe Sie vergessen; verzeihen Sie. Und da hab' ich auch das unglückliche Buch noch. Steigen Sie geschwind ein, es ist keine Zeit zu verlieren.«
Der Buchhändler setzte sich zu Brownlow, und sie fuhren ab.
Kapitel 12
In welchem für Oliver bessere Fürsorge getragen wird, als er sie noch in seinem ganzen Leben erfahren. Die Geschichte kehrt zu dem lustigen alten Herrn und seinen hoffnungsvollen Zöglingen zurück
Der Wagen hielt nach ziemlich langer Fahrt vor einem hübschen Hause in einer stillen Straße nicht weit von Pentonville. Mr. Brownlow ließ Oliver sogleich zu Bett bringen und sorgte mit einem Eifer für Pflege jeder Art, der keine Grenzen kannte. Sein Schützling verfiel in ein heftiges Fieber und erwachte erst nach acht Tagen aus einem langen und unruhigen Traum, wie es ihm schien. »Wo bin ich?« rief er mit schwacher Stimme. »Wer hat mich hierher gebracht?«
Der Vorhang seines Bettes wurde rasch zurückgeschoben, und eine mütterlich aussehende, sauber gekleidete alte Frau beugte sich über ihn und sagte: »Ruhig, mein Söhnchen, du mußt ganz still liegen oder wirst sonst wieder krank werden. Denn du hast an der Schwelle des Todes gestanden; also verhalte dich ja recht ruhig.«
Sie sah so freundlich und liebevoll dabei aus und strich ihm so sorglich das Haar von der Stirn zurück, daß er sich nicht enthalten konnte, seine abgezehrte Hand auf die ihrige zu legen und einige, wenn auch unverständliche Worte gerührten Dankes zu murmeln.
»Was es für ein lieber Kleiner ist!« sagte sie mit Tränen in den Augen. »Wie würde sich seine Mutter freuen, wenn sie so wie ich bei ihm gesessen hätte und ihn jetzt sähe!«
»Vielleicht sieht sie mich,« flüsterte Oliver und faltete seine Hände. »Vielleicht war sie bei mir, Ma'am. Es ist mir fast, als wäre sie hier gewesen.«
»Das macht das Fieber, mein Kind,« bemerkte Frau Bedwin.
»Kann wohl sein,« erwiderte Oliver nachdenklich; »denn der Himmel ist sehr fern, und die Seligen haben es dort zu gut, als daß sie an das Krankenbett eines armen Knaben herunterkommen sollten. Wenn sie es aber gewußt hat, daß ich krank war, so hat sie gewiß Mitleid mit mir gehabt, denn sie war selbst sehr krank, ehe sie starb. Aber – sie mag wohl nichts von mir wissen, denn wenn sie mich hätte niederschlagen sehen, so würde sie sehr betrübt geworden sein, und ihr Gesicht war immer so froh und vergnügt, wenn ich von ihr geträumt habe.«
Frau Bedwin wischte sich die Augen, brachte ihm zu trinken und ermahnte ihn abermals, ganz still zu liegen, weil er sonst wieder krank werden würde. Er schwieg daher und hielt sich vollkommen ruhig, teils weil er der guten Frau nicht ungehorsam sein wollte, und andernteils, weil er durch das, was er gesagt hatte, bereits vollkommen erschöpft war. Er schlief ein, und als er erwachte, stand ein Herr an seinem Bette, der seinen Puls fühlte. »Nicht wahr, mein Kind, du fühlst dich weit besser?« fragte ihn der Herr.
»Ja, ich danke, Sir,« antwortete Oliver.
»Das wußte ich wohl. Und du bist hungrig – nicht wahr?«
»Nein, Sir.«
»Hm! Ja, ganz recht. Du kannst auch in der Tat keinen Hunger empfinden. Er ist nicht hungrig, Frau Bedwin,« sagte der Herr mit sehr weiser Miene.
Frau Bedwin neigte ehrfurchtsvoll den Kopf, wodurch