Die Straße wand sich hier einen ziemlich steilen Hügel hinauf, und er flehte die Außenpassagiere einer Postkutsche um eine Gabe an. Nur einer beachtete ihn, rief ihm zu, er möge warten, bis man oben angelangt wäre, und begehrte darauf, zu erfahren, wie weit er um einen halben Penny mitlaufen könne. Oliver mußte nach der größten Anstrengung doch bald zurückbleiben, und der Mildtätige steckte sein Geldstück wieder in die Tasche und erklärte ihn für einen faulen Schlingel, der keine Freigebigkeit verdiene. Dahin rollte die Postkutsche und ließ nur eine Staubwolke zurück.
In manchen Dörfern waren Pfosten mit Tafeln errichtet, aus welchen scharfe Drohungen gegen alle Bettler zu lesen waren, und Oliver eilte furchtsam weiter; in anderen, wenn er etwa vor einem Gasthause mit sehnsüchtigen Blicken stillstand, hieß man ihn sich davon machen, wenn er nicht als ein Dieb eingesperrt werden wollte. Aus vielen Häusern vertrieb ihn die Drohung, daß man die Hunde loslassen werde, wenn er sich nicht sofort entferne.
Es würde ihm ohne Zweifel ergangen sein, wie seiner unglücklichen Mutter, wenn sich nicht ein menschenfreundlicher Schlagbaumwärter und eine gutherzige Frau seiner angenommen hätten. Jener erquickte ihn durch ein, wenn auch nur aus Brot und Käse bestehendes Mittagsmahl; und diese, die einen schiffbrüchigen, sie wußte nicht wo umherirrenden Großsohn hatte, gab ihm, was ihre Armut vermochte, und obenein, was mehr war für Oliver und ihn alle seine Leiden auf eine Zeitlang vergessen ließ, freundliche Worte und mitleidige Zähren.
Am siebenten Morgen nach Sonnenaufgang erreichte er mit wunden Füßen die kleine Stadt Varnet. Die Fensterläden waren geschlossen, die Straßen waren leer; nicht eine einzige Seele hatte sich schon zu den Geschäften des Tages erhoben. Die Sonne ging in all ihrer strahlenden Schönheit auf; aber ihr Licht diente nur dazu, dem Knaben seine Verlassenheit so recht zu Gemüte zu führen, als er mit blutenden Füßen und staubbedeckt auf einer Türschwelle saß.
Allmählich wurden die Läden geöffnet und die Rouleaus in die Höhe gezogen, und die Leute begannen auf- und abzugehen. Einige blieben stehen, um Oliver ein paar Augenblicke zu betrachten, oder wandten sich im Vorbeieilen um, um einen Blick auf ihn zu werfen; aber niemand kümmerte sich um ihn oder fragte, wie er dorthin käme. Er hatte nicht den Mut, jemand um eine Gabe anzusprechen.
Nach einiger Zeit ging ein Knabe an ihm vorüber, sah sich nach ihm um, ging weiter, sah sich zum zweiten Male nach ihm um, stand still, kehrte zurück und redete ihn an.
Er mochte ungefähr so alt sein wie Oliver selbst, der nie einen so absonderlichen Kauz gesehen. Er hatte eine Stumpfnase und eine platte Stirn, sah höchst ordinär und schmutzig aus, und seine ganze Haltung und sein Benehmen waren wie das eines Mannes. Er war klein für sein Alter, hatte Dachsbeine und kleine, scharfe, häßliche Augen. Der Hut saß ihm so lose auf dem Kopfe, als wenn er jeden Augenblick herunterfallen müßte, und er würde auch heruntergefallen sein, wenn er nicht durch häufige rasche Kopfbewegungen seines Besitzers immer wieder zurecht gerückt oder befestigt worden wäre. Die Kleidung des Kleinen war gleichfalls nichts weniger als knabenhaft, und die ganze Figur stellte das vollkommene Bild eines renommierenden, prahlhaften kleinen Helden von vier Fuß Höhe dar.
»Was fehlt dir, Bursch? Was scheft dermehr?1« redete er Oliver an.
»Ich bin sehr hungrig und müde,« erwiderte Oliver, mit Tränen in den Augen. »Ich komme weit her und bin seit sieben Tagen auf der Wanderung gewesen.«
»Weit her – hm! – seit sieben Tagen auf der Wanderung gewesen? – Ah – sehe schon – auf Oberschenkels Befehl – he? Doch,« fügte er hinzu, als er Olivers verwunderte Miene gewahrte, »du scheinst nicht zu wissen, was ä Oberschenkel ist, mein guter Kochemer2.«
Oliver erwiderte schüchtern, er wisse allerdings sehr wohl, daß man unter einem Oberschenkel den oberen Teil eines Beines verstehe.
»Ha, ha, ha! Wie grün!« rief der junge Gentleman aus. »Ä Oberschenkel ist ä Friedensrichter, wer auf 'nes Oberschenkels Befehl geht, kommt nicht vorwärts, sondern geht immer 'nauf, ohne wieder 'runter zu kommen. Noch nicht in der Mühle gewesen?«
»In was für einer Mühle?« fragte Oliver.
»Ei, in der, die in ä Doves3 Platz hat. Doch du bist butterich4; ich hab' freilich auch nicht eben zu viel Massumme5, aber so weit's zureicht, will ich 'rausrücken und blechen. Steh' auf – komm!«
Der junge Gentleman half Oliver aufstehen und nahm ihn mit sich in sein Gasthaus, wo er Brot und Schinken bringen ließ und ihn sehr aufmerksam beim Essen beobachtete. Als sich Oliver endlich gesättigt, warf er die Frage hin: »Nach London?«
»Ja.«
»Hast du eine Wohnung?«
»Nein.«
»Geld?«
»Nein.«
Der junge Herr senkte die Hände in die Taschen und pfiff.
»Wohnst du in London?« fragte Oliver.
»Ja, wenn ich zu Hause bin. Aber du weißt wohl nicht, wo du kommende Nacht schlafen sollst?«
»Nein,« antwortete Oliver. »Ich habe seit sieben Nächten unter keinem Dache geschlafen.«
»Mach' dir darum nur keine Sorgen. Ich gehe heut Abend nach London und kenne da 'nen respektablen alten Herrn, der dir Wohnung umsonst geben und dir bald 'ne gute Stelle verschaffen wird – das heißt, wenn dich ä Schentleman einführt, den er kennt. Und ob er mich wohl kennt!« fügte der junge Herr lächelnd hinzu.
Das unerwartete Anerbieten war zu lockend, als daß Oliver einen Augenblick hätte anstehen sollen, es anzunehmen. Er wurde zutraulicher und erfuhr nun auch, daß sein neuer Freund Jack Dawkins heiße und ein besonderer Liebling des erwähnten alten Herrn sei. – Jacks Äußeres schien freilich den Lieblingen des alten Herrn nicht viele Vorteile zu versprechen; allein da er ziemlich leichtfertig und großsprecherisch redete und auch gestand, daß er unter seinen Bekannten allgemein den Namen des »gepfefferten Baldowerers« (d. h. gewitzten Kundschafters) führe, so schloß Oliver, er möge nicht eben viel taugen und die guten Lehren seines Wohltäters in den Wind schlagen. Oliver nahm sich daher in der Stille vor, sich so bald wie möglich die Gunst des alten Herrn zu erwerben, und wenn er den Baldowerer unverbesserlich fände, die Ehre der näheren Bekanntschaft mit ihm abzulehnen.
Da es Jack nicht genehm war, vor Abend in London einzutreffen, so wurde es fast elf Uhr, bevor sie den Schlagbaum von Islington erreichten. Der Baldowerer führte Oliver eiligen Schrittes durch ein Gewirr von Straßen und Gassen, so daß sein Begleiter ihm kaum zu folgen vermochte. Trotz dieser Eile konnte Oliver nicht umhin, beim Weitergehen ein paar hastige Blicke nach beiden Seiten zu werfen. Eine schmutzigere oder elendere Gegend hatte er noch nie gesehen. Die Straßen waren äußerst eng und unsauber, und die Luft war mit üblen Gerüchen erfüllt. Es war eine große Menge kleiner Läden vorhanden, aber der einzige Warenvorrat schien in Haufen von Kindern zu bestehen, die selbst zu dieser späten Nachtstunde innerhalb und außerhalb der Türen umherkrochen oder im Innern der Häuser schrien. Bedeckte Wege und Höfe, die hier und da von der Hauptstraße abbogen, führten zu kleinen Häusergruppen, vor denen betrunkene Männer und Frauen sich tatsächlich im Schmutze wälzten, und an verschiedenen Torwegen tauchten großgewachsene, verdächtig aussehende Burschen auf, die allem Anschein nach nicht viel Gutes im Schilde führten.
Oliver überlegte schon, ob er nicht am besten täte, davonzulaufen, als ihn sein Führer plötzlich beim Arme nahm, die Tür eines Hauses unweit Fieldlane öffnete, ihn hineinzog und die Tür wieder verschloß. Der Baldowerer pfiff und erwiderte auf den Ruf: »Wer da?« – »Grim und petacht!«6 Unten auf der Hausflur zeigte sich Licht, und der Kopf eines Mannes tauchte auf der zur Küche hinunterführenden Treppe empor.
»Es sind euer zwei – wer ist der andre?«
»Ein neuer Chawwer,« rief Jack, Oliver nachziehend, zurück.
»Woher kommt er?«
»Von Grünland. Ist Fagin oben?«
»Ja. Er sortiert die Schneichen7. Geh' hinauf!«