Jonas Enkogia

Weiterleben!


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ich arbeitete damals in einer Kölner Unternehmensberatung, kam ich am Feierabend in ihre Wohnung. Im Flur standen zwei Umzugskartons, die meine Habseligkeiten enthielten. Kein Brief, kein Wort der Erklärung, nur ein Zettel mit der Aufforderung ‚Schlüssel in den Briefkasten werfen’. Sogar meine Geschenke an sie waren in den Kartons. Ich wartete drei triste Stunden, doch sie ließ sich nicht blicken. Schließlich karrte ich traurig mein Zeug nachhause. Anrufe wurden nicht beantwortet und als ich zwei Tage später an ihrer Haustür klingelte, fertigte sie mich durch die Wechselsprechanlage ab. Sie hätte nachgedacht, wir passten nicht zueinander, daher würde sie sich von mir trennen. Punkt und Ende.

      Die meisten LeserInnen werden jetzt wohl vermuten, dass ich meine Partnerin verletzt, betrogen oder sonstwie gegen mich aufgebracht hatte, aber das stimmt nicht. Bis heute rätsele ich, was ihren Sinneswandel bewirkt haben könnte. Sie schien plötzlich ein völlig anderer Mensch zu sein, wie in dem Film ‚Doktor Jekyll und Mister Hyde’. Damals war ich wütend und verletzt, aber diese Gefühle sind der Dankbarkeit gewichen. Heute bin ich froh, nicht mit einer Frau verheiratet zu sein, in deren Persönlichkeit sich solch abgrundtiefe Gegensätze verbergen. Und vor allem dankbar, denn erst diese Erfahrung enthüllte, wie sich mein Lebensdrama immer wieder von neuem inszeniert. Dabei half mir eine erfahrene und sehr einfühlsame Psychotherapeutin, bei der ich vier Jahre lang eine ambulante Gesprächstherapie machte und die mich auch heute bei Bedarf unterstützt.

      Doch zurück zum limbischen System. Unser Verhalten wird durch eine Vielzahl von Botenstoffen beeinflusst, die durch den Blutkreislauf zirkulieren. Sexuallockstoffe, die Pheromone, bestimmen unsere Partnerwahl. Glücksbotenstoffe, die in speziellen Situationen ausgeschüttet werden, motivieren uns zum Handeln. Sie lassen uns Sport treiben, zu viel Schokolade futtern, Zigaretten rauchen oder sex- oder heroinsüchtig werden. Andere Hormone greifen tief in unsere Sozialleben ein, vor allem das Oxytocin. Es ist auch als Bindungshormon bekannt und wird besonders während des Geburtsvorganges und beim Stillen ausgeschüttet. Mutter Natur sorgt auf diese Weise geschickt und zuverlässig dafür, dass Mütter gar nicht anders können, als ihre Babies zu lieben und sich um sie zu sorgen. Umgekehrt entsteht in dem Neugeborenen eine tiefe Bindung zur Mutter, das sogenannte Urvertrauen. Auch beim Sex produziert unser Gehirn verstärkt Oxytocin. Wenn zwei Menschen miteinander schlafen und dabei zum Orgasmus kommen, stärkt das den Zusammenhalt und ihre seelische Verbindung. Nicht ohne Grund spricht man auch von ‚Liebe machen’.

      Eine Wochenbettdepression, auch postpartale oder postnatale Depression genannt, wird durch verschiedene Faktoren ausgelöst, die teils noch nicht ausreichend erforscht sind. Einerseits finden im Körper der Frau während und nach der Geburt starke Veränderungen statt. Der während der Schwangerschaft stark erhöhte Östrogen- und Progesteronspiegel fällt ab, Prolaktin und Oxytocin werden ausgeschüttet. Östrogen beeinflusst vermutlich die Hirnfunktion und hat einen stimmungsstabilisierenden Effekt, dieser fällt nach der Geburt weg. Die leichte Form der Wochenbettdepression ist als Babyblues bekannt. Etwa zwei Drittel aller Mütter leiden in den ersten Wochen nach der Geburt unter Verstimmungen, die jedoch zum Glück meist innerhalb von Stunden oder Tagen wieder abklingen. Bis zu 20% aller Gebärenden entwickeln jedoch schwere Wochenbettdepressionen oder sogar eine Psychose. Sie müssen unbedingt ärztlich behandelt werden, um sich oder dem Kind keinen Schaden zuzufügen.

      Meine Mutter hat die starken Schwankungen ihres Hormonhaushalts offenbar nur schlecht verkraftet, außerdem litt sie schon als junges Mädchen unter depressiven Verstimmungen. Hinzu kommt, dass sie im Krankenhaus schlecht versorgt und lange allein gelassen wurde. Außerdem wurden wir sofort nach der Geburt getrennt und man brachte ihr Baby auf die Säuglingsstation, wie es damals leider noch üblich war. Verhaltensforscher belegen, dass Babyblues und Wochenbettdepressionen bei vielen Naturvölkern nicht vorkommen. Sie vermuten, dass postpartale Depressionen in der modernen Industriegesellschaft durch Gerätemedizin und die vielen Interventionen rund um die Geburt ausgelöst werden. Ein ungestörtes Kennenlernen von Mutter und Kind ist oftmals nicht möglich, der Geburtsvorgang vielfach traumatisierend für Mutter und Kind. Dazu fällt mir ein, dass meine Mutter fast die ganze Nacht allein und frierend auf dem Krankenhausflur verbrachte. Außerdem wurden die Wehen künstlich eingeleitet. Dabei werden synthetische Hormone eingesetzt und die Wehen sind dann besonders schmerzhaft. Ob das überhaupt notwendig und der natürliche Zeitpunkt für meine Geburt tatsächlich überschritten war, bleibt ungewiss. Sicher ist nur, dass sie den Arzt, der sie ins Krankenhaus einwies, kaum kannte und vorher nur einmal gesehen hatte. Eine tragische Verkettung unglücklicher Umstände.

      Wie stark die Bindung zwischen meiner Mama und mir war, als sie sich das Leben nahm, kann man nicht ermessen. Vermutlich habe ich nicht nur vor Hunger geschrien, als mein Vater an jenem Novembernachmittag heimkam und seine Frau tot vorfand. Leider verlor ich zweieinhalb Jahre später nochmals eine Mutter, auch wenn es sich tatsächlich um meine Tante handelte. Aber diese Frau, die ich Mama nannte, hatte mich zweieinhalb Jahre liebevoll versorgt, mich gefüttert und gewickelt, mir Sprechen und Laufen beigebracht. Sie war meine Mutter in den ersten drei Lebensjahren, der wichtigsten Phase der Persönlichkeitsentwicklung. Kein Wunder also, dass man mir später in der Psychotherapie eine narzisstische Persönlichkeitsstörung diagnostizierte. Ich habe kein Urvertrauen und große Schwierigkeiten, beständige und liebevolle Beziehungen aufzubauen. Obwohl ich große Sehnsucht nach Liebe und Zusammengehörigkeit habe, will ein Teil von mir keine Bindung eingehen. Dieser Teil erinnert den Schmerz genau, der mit Verlust und Trennung einhergeht. Das Gefühl, geliebt zu werden, ist in meinem Unterbewusstsein unauflösbar mit der qualvollen Erfahrung von Verlust verbunden.

      Heute weiß ich, warum meine Liebesbeziehungen in der Vergangenheit immer nach demselben Schema verliefen. Kinder wollen verstehen, was mit ihnen geschieht, besonders bei traumatischen Erfahrungen. Sie fragen immer wieder nach dem Warum. Wenn sie keine glaubhafte Erklärung bekommen, erschaffen sie eine, reimen sich die Dinge irgendwie zurecht. Warum ließ meine Mutter mich zurück? Wie konnte meine Mama-Tante zulassen, dass ich von ihr getrennt und einer fremden Frau gegeben wurde? Weil ich schlecht bin. Weil ich es nicht verdient habe, geliebt zu werden – so lautet die selbst fabrizierte Begründung für das Unerklärliche. Mittlerweile kann ich meine innere Programmierung – denn darum handelt es sich bei solch wirkmächtigen Glaubenssätzen, die im Unterbewusstsein wurzeln – in drei Sätzen zusammenfassen. Die Regeln, nach denen mein Lebensdrama sich immergleich abspielt, passen in drei kurze Paragrafen.

      § 1 Niemand liebt mich.

      § 2 Wenn mich doch mal jemand lieben sollte, werde ich verlassen.

      § 3 Falls ich geliebt und nicht verlassen werde, muss ich selbst die Trennung herbeiführen.

      Ein wichtiger Job des Saboteurs ist, immer wieder für die falsche Partnerwahl zu sorgen. Echtes Glück will geteilt werden, ist allein unmöglich. Wenn ich mich stets zu Frauen hingezogen fühle, auf deren Liebe kein Verlass ist, hat der Saboteur seine Aufgabe fast erfüllt. Und bei denen, die verlässlich lieben, muss er mich nach Paragraf 3 eben dazu bringen, dass ich mich unausstehlich benehme. Irgendwann gibt auch die Frau mit dem größten Herzen auf. Dann ist die Unwiderlegbarkeit von Paragraf 1 erneut bewiesen.

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