Jonas Enkogia

Weiterleben!


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      Mit der Zeit entdeckte ich den musischen Menschen in mir. Kein Wunder, dass die Monate im Reisebüro voll steifer Zwänge – ewig lächelnd, denn der Kunde ist König, dazu verkleidet mit Schlips und Kragen – mir als Folter erschienen war. In mir steckte offenbar ein halbwegs begabter Schauspieler und außerdem ein Musiker. Parallel zur Theaterarbeit erlernte ich nämlich das Trommeln, und wurde schließlich Sänger und Percussionist einer aufstrebenden Band. Leider litt die Qualität der Theaterausbildung wiederholt unter organisatorischen Mängeln. So kündigte die Dramaturgin nach einigen Monaten ihren Vertrag und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Die Lehrerin für Maskenbildnerei erkannte, dass sie den Herausforderungen ihres Jobs und der quirligen Gruppe nicht gewachsen war, auch sie verließ uns. Nicht zuletzt deshalb beschloss ich, auf das zweite Jahr zu verzichten und die Ausbildung abzubrechen. Die Theaterwelt schien entzaubert, dort tummelten sich vor allem selbstverliebte Menschen mit übergroßen Egos. Neid, Missgunst und Intrigenspiel waren alltäglich, die Chancen auf Erfolg gering. Die Gruppe brach am Schluss des ersten Ausbildungsjahres auseinander und wir beendeten es mit der Aufführung eines Stückes, das wir selbst schrieben und inszenierten. Darin verarbeiteten wir unsere frustrierenden Erfahrungen als verunglückte Busreise, bei der sich der Reiseleiter verdrückt und die gestrandeten Touristen gemeinsam Verantwortung übernehmen müssen.

      Von den Brettern, die angeblich die Welt bedeuten, wechselte ich in einen muffigen Probenkeller. Die Band Rescue Party bestand aus sechs Musikern, davon drei erfahrene Profis. Als letzter dazugekommen gehörte ich zu den naiv-idealistischen Neulingen, schieb alle Texte, trommelte und sang. Der erste öffentliche Auftritt nach sechs Wochen war nicht berauschend, aber bald standen wir im Rampenlicht von kleinen und größeren Clubs. Wir hatten erstaunlich schnell Erfolg und bekamen schon nach wenigen Monaten das Angebot einer renommierten Plattenfirma, die mit uns eine Maxi-Single aufnehmen wollte. Doch soweit kam es nie, denn die Band zerbrach. Genauer gesagt, ich stieg aus. Hintergrund war ein Streit, bei dem es um Kommerz ging. Wir hatten bereits einige gute Gigs absolviert und dabei sogar vor fünfhundert begeisterten Leuten gespielt, als Karstadt uns ein Angebot machte. 1000 Mark für einen kurzen Auftritt zur Eröffnung der neuen Jugend-Etage, sie trug den Namen Follow-Me. Die Marketingleute hatten sich mächtig ins Zeug gelegt und trieben großen Aufwand. So sollten beispielsweise ferngesteuerte Roboter in der Fußgängerzone herumfahren und mit elektronischer Stimme „Follow me“ krächzen, um die Kids in die neue Etage zu locken. Dort würde dann Rescue Party spielen, eine Stunde für tausend Mark.

      Wir drei Newcomer waren gegen den Auftritt. Keinesfalls würden wir uns vor den Karren einer blöden Kaufhauskette spannen lassen, die arglosen Teenagern ans Taschengeld wollte. Die drei altgedienten Profimusiker hatten aber lange genug von der Hand in den Mund gelebt und wollten mit unserer Mucke endlich Geld verdienen. Es kam zum Streit und ich verließ die Band im festen Glauben, man würde mich bald zerknirscht um Rückkehr bitten. Schließlich war ich mittlerweile, neben unserer Sängerin Kim, der Frontmann. Alle Stücke lebten durch meine Texte, ich hielt mich für unersetzbar. Das stellte sich bald als Irrtum heraus. Niemand kroch zu Kreuze, alle blieben stur. Leider auch ich. Und so trat Rescue Party einige Wochen später vor über 1500 Zuhörern in der Bremer Uni-Mensa auf und spielte meine Songs. Man hatte mich durch eine Sängerin und einen Percussionisten ersetzt. Die Band funktionierte zwar, aber die Chemie stimmte nicht mehr, das Feuer fehlte. Wir sechs waren unverwechselbar und das machte den Reiz der Band aus. Ich hatte es gespürt, wusste es genau. Aber was hilft dieses Wissen, wenn man im Publikum statt auf der Bühne steht? Es war kein Trost, dass Rescue Party schon bald vor leeren Hallen auftrat. Zu siebt. Nach einem Jahr löste sich die Band auf, ich hatte Freunde und Illusionen verloren.

      Was das alles mit Depressionen und meiner Vorgeschichte zu tun hat? Oberflächlich betrachtet wenig, aber tatsächlich wirkte ein Mechanismus, dessen Ursprung und Macht ich erst viel später erkennen sollte. Es war wie verhext, aber egal was ich anfing – ob beruflich oder privat – es scheiterte schon nach kurzer Zeit. Maximal ein Jahr lang gingen die Dinge gut, aber dann kam zwangsläufig die Wende ins Drama. Vielversprechende Jobs oder neue Liebesbeziehungen, die unter einem glücklichen Stern zu stehen schienen – immer endeten sie mit Enttäuschungen und Tränen.

      Meine Bühnenkarriere scheiterte 1983. In den folgenden zehn Jahren schlug ich mich mehr schlecht als recht durch, jobbte und reiste, verbrachte dabei insgesamt zwei Jahre in Neuseeland, Australien und den USA. Manchmal genoss ich das Dasein, es gab aber immer wieder Phasen, in denen ich nicht weiterleben wollte. Meine Gewehre waren ja zum Glück schon verkauft, sonst hätte ich mich vielleicht in einer dunklen und völlig verzweifelten Stunde erschossen. Von Zeit zu Zeit ging ich zu niedergelassenen Psychologen, machte dort ambulante Therapie. Aber ein Gespräch von 50 Minuten pro Woche bringt wenig Erleichterung, wenn die Seele krank ist. Man klebt Pflaster auf eitrige Wunden, ohne sie zu desinfizieren und Splitter rauszuziehen, die tief im Fleisch stecken. Wöchentliche oder sogar nur 14-tägige Sitzungen sind gut, aber sie bieten wenig Halt, wenn man eigentlich sterben will. Letzteres sollten Patienten übrigens besser nicht zu deutlich sagen, sonst werden sie wegen Suizidgefahr in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen. Eine Zwickmühle, denn wer seinen Zustand beschönigt, findet nur schwer wirkliche Hilfe.

      Für meine Liebesbeziehungen wählte ich meist Frauen, die selbst labil waren oder traumatische Erfahrungen durchgemacht hatten. Wir suchten beieinander Halt, fanden aber keinen. Ich wollte mich binden und hatte gleichzeitig eine Heidenangst vor Nähe und Bindung. Mein Leben geriet zur unendlichen Tragödie, denn etwas in mir schien systematisch zu verhindern, dass ich glücklich und erfüllt leben konnte. Unbewusst sabotierte ich mich selbst, wieder und wieder. Das Schlimmste war, dass ich dieses ständige Scheitern offenbar verdient hatte. Jeder Flop, jede Kündigung, jede menschliche Enttäuschung schien schicksalhaft. Alles war Teil der gerechten Strafe als Konsequenz jener Schuld, die ich mit der Geburt auf mich geladen hatte. Schließlich würde meine Mutter – eine herzensgute junge Frau voller Hoffnung und Liebe – noch leben, wäre ich bloß nicht geboren worden.

       Der Arzt in mir

      Vom Kopf her ist natürlich klar, dass dieses aberwitzige Konstrukt kaum Wahrheitsgehalt hat und mich keine Schuld trifft, aber das Wirken seelischer Kräfte richtet sich nicht nach Logik und Vernunft. Immer wieder fiel ich in tiefe Löcher, versank in Depressionen, verlor jeden Lebensmut und hatte an nichts mehr Freude. Die vorläufige Wende kam im Sommer 1993. Ich war nach einigen Jahren in Hamburg wieder zurück nach Bremen gezogen und hatte mir dort einen Psychotherapeuten gesucht. Sein Name ist mir entfallen, hier soll er Doktor Berger heißen, denn er war niedergelassener Arzt.

      Unsere Sitzungen begannen stets nach dem gleichen Muster. Doktor Berger öffnete die Tür zum Flur, wo ich auf den Beginn der Sitzung wartete. Mit einem Nicken bat mich er ins Besprechungszimmer, setzte sich dann hinter seinen Schreibtisch und ordnete Papiere. Ich nahm ihm gegenüber Platz und harrte, bis er sich mir zuwandte. Das geschah immer mit derselben Geste und denselben Worten. Er stützte die Ellenbogen auf, legte die Fingerspitzen aneinander, schaute mich prüfend an und sagte meinen Namen. Herr Enkogia, das war alles. Keine Aussage, keine Frage, nur wortloses Abwarten. Ich berichtete dann, wie es mir seit dem letzten Termin ergangen war, fühlte mich dabei aber selten wirklich gut aufgehoben. Das offenbar aus gutem Grund, denn schon in der vierten oder fünften Sitzung kippte das Setting, also das Verhältnis zwischen Arzt und Patient. Doktor Berger hörte mir eine Weile zu, griff dann ein Stichwort auf und begann plötzlich von seinen Problemen zu erzählen. Er war verheiratet, hatte aber eine Beziehung mit einer Kollegin angefangen. Sie war erheblich jünger und außerdem schwanger. Von ihm. Seine Frau bekam Wind von der Affäre und drohte mit der Scheidung. Mein Arzt und Psychotherapeut schüttete mir sein Herz aus und fand dabei kein Ende. Irgendwann waren die 50 Minuten jedoch um und ich ging heim, verwirrt und verärgert.

      Weil mich das stereotype Begrüßungsritual von Anfang an störte, beantwortete ich das „Herr Enkogia“ bald ebenso einsilbig mit einem „Herr Doktor Berger“. Ihn schien dies nicht zu stören, er ließ sich jedenfalls nichts anmerken. Als Dr. Berger jedoch die Sitzung in der Woche nach seinem überraschenden und unprofessionellen Geständnis versehentlich mit „Herr Doktor Enkogia“ eröffnete, wurde mir klar, dass die Basis für sinnvolle und hilfreiche therapeutische Gespräche fehlte. Ich sprach ihn offen auf diesen Konflikt an und er stimmte