Jonas Enkogia

Weiterleben!


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aber vor allem Mut machen. Mut zur Ehrlichkeit. Mut, um neue Wege zu beschreiten. Mut, damit depressive Menschen nicht verzweifeln und aufgeben. Das Leben ist kostbar und oftmals wundervoll, das wissen wir. Trotzdem gibt es Phasen, in denen wir nicht weiterleben wollen. Gebt nicht auf, helft einander und seid aufrichtig. Wir sind viele und du bist nicht allein.

       Erster Teil

       Nicht jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

      Das Licht der Welt erblickte ich 1958 an einem Septembermorgen in Hamburg. Mein neunmonatiger Werdegang von der befruchteten Eizelle bis zum gut acht Pfund schweren Baby mit erstaunlichem Dickschädel verlief weitgehend normal. Fotos aus jenen Tagen zeigen meine Mutter als fröhliche Schwangere, die sich zweifellos auf ihr erstes Kind freute. Doch fünf Wochen nach meiner Geburt vergiftete sie sich mit E 605, einem mittlerweile verbotenen Insektizid, das der Volksmund auch als Schwiegermuttergift bezeichnete.

      Was war geschehen, wieso nahm sie sich das Leben? Ende September wurde meine Mutter vom Arzt ins Krankenhaus eingewiesen, weil der errechnete Geburtstermin deutlich überschritten war. Sie kannte den Doktor kaum, war ihm erstmals sechs Wochen zuvor begegnet, als mein Vater sich einen Zeh gebrochen hatte. Ob die Einweisung sinnvoll und medizinisch notwendig war, lässt sich nicht nachprüfen. Sie erfolgte jedenfalls an einem Sonntagnachmittag und somit zum ungünstigen Zeitpunkt, denn fast alle Ärzte hatten am Wochenende frei und kehrten erst Montagfrüh ins Krankenhaus zurück. Bis dahin wurde meine Mutter – das entnahm ich Briefen, die sie ihrer Schwester nach England schickte – mehr schlecht als recht von einer grimmigen alten Hebamme betreut. Die Frau hatte schon im Dritten Reich praktiziert und hielt wenig von menschlicher Zuwendung, dafür umso mehr vom Zähnezusammenbeißen. Sie hängte die Erstgebärende an den Wehentropf und parkte sie auf einer Liege im zugigen Flur vorm Kreißsaal. Dort fror meine werdende Mama unter dünnen Laken, ertrug stundenlang brav die künstlich ausgelösten Wehen und wartete, dass sich der Muttermund weit genug öffnen würde, um mich hindurch zu lassen.

      In der Morgendämmerung brachte die mürrische Geburtshelferin uns in den Kreißsaal und befahl, meine Mutter solle kräftig pressen. Sie tat wie geheißen, aber alles Schimpfen half nicht, denn ich steckte fest. Erst als meine Herztöne schwächer wurden, weckte die Hebamme den Bereitschaftsarzt und beide zerrten mich mit vereinten Kräften ans Tageslicht. Allerdings war es draußen um 5:45 Uhr noch dunkel, ich blinzelte also nach neun in schummriger Geborgenheit verbrachten Monaten ins grelle Licht der Kreißsaallampen. Ob die schwere Geburt am Kopfumfang von 38 Zentimetern oder an den 4170 Gramm lag, über 54 cm Körperlänge verteilt, bleibt ungewiss. Tatsache ist, dass es für sie und mich ein traumatisches Erlebnis war. Mein Vater wartete übrigens daheim auf den erlösenden Telefonanruf, denn damals war es unüblich, dass Männer ihre Frauen zu Geburten ins Krankenhaus begleiten.

      Die Freude meiner Mama, einen strammen Jungen gesund zur Welt gebracht zu haben, währte leider nicht lang. Das Wesen der patenten, selbstbewussten und beruflich erfolgreichen Fremdsprachenkorrespondentin veränderte sich innerhalb weniger Tage stark. Sie grauste sich plötzlich davor, mich zu stillen oder wickeln zu müssen, und befürchtete, ich könnte ihr aus den Händen gleiten oder sie würde andere dumme Fehler machen. Dazu kam eine Heidenangst, mich nicht genug lieben und mir keine gute Mutter sein zu können – typische Anzeichen einer schweren Wochenbettdepression. Zwei Tage nach der Geburt wurde meine Mama aus dem Krankenhaus entlassen, danach verschlimmerte sich ihr Zustand. Sie weinte viel und verbrachte ganze Tage im Bett, war kraft- und mutlos, total verzweifelt. Freunde und Verwandte versorgten sie und wechselten sich dabei täglich ab. Sie betreuten die Depressive daheim, damit sie sich nichts antun konnte, solange mein Vater beruflich unterwegs war. Als meine Mutter sich schließlich ein auffälliges Interesse für Waffen und Munition zeigte – ihr Mann ging in der Freizeit zur Jagd und hatte Gewehre im Haus – wurde ein Psychiater alarmiert. Er verschrieb wenige Tage vor ihrem Tod Protactyl, ein Beruhigungsmittel, das gegen Schizophrenie und bei psychotischen Zuständen angewandt wird.

      Ob es das falsche Medikament war oder nur zu spät zum Einsatz kam, bleibt unklar. Jedenfalls beschaffte meine Mutter das damals frei verkäufliche Insektizid, um sich zu vergiften. Stunden vor dem Freitod rief sie ihre Mutter an und erklärte, sie bräuchte heute nicht zu kommen, denn eine Freundin würde uns beiden Gesellschaft leisten. Diese List verschaffte den nötigen Freiraum, um ihr Vorhaben ungestört umzusetzen. Dann trank sie das Gift. Mich ließ sie zum Glück am Leben, obwohl es nicht ungewöhnlich ist, dass Selbstmörder ihre Kinder töten. Man nennt es dann einen erweiterten Suizid. Mein Vater – jung verwitwet und völlig verzweifelt – wollte sich anfänglich zusammen mit mir vor einen Zug werfen. Er kam aber rechtzeitig zur Vernunft und gab mich bei seiner ältesten Schwester in Pflege, zum Glück! Somit war ich innerhalb kurzer Zeit gleich zweimal dem Teufel von der Schippe gesprungen. Aber das Thema Selbstmord spielte nicht nur in den ersten Wochen meines Lebens eine Rolle, sondern begleitet mich bis heute.

      23 Jahre lebte ich allerdings in dem Glauben, dass meine Mutter an den unmittelbaren Folgen meiner Geburt verstorben sei. So lautete jedenfalls die Antwort auf Fragen, was denn zu ihrem Tod geführt habe. Es war eine gut gemeinte und verständliche Halbwahrheit, sie hatte jedoch ungeahnte Folgen. Ursprünglich sollte diese Notlüge die einzige Schwester meiner Mutter schonen, die in England lebte. Sie war damals hochschwanger und hatte bereits ein Kind verloren. Die bittere Wahrheit über den Tod ihrer Schwester wollte ihr niemand zumuten, um ihr seelisches Gleichgewicht nicht zu gefährden. Außerdem schämte man sich in den bürgerlichen Kreisen meiner Familie, denn Selbstmord war und ist ein Tabuthema. Seltsam – vier Millionen Menschen in unserem Land leiden aktuell an dieser Krankheit und etwa 10.000 von ihnen sterben jedes Jahr von eigener Hand – aber große Teile der Gesellschaft möchten das Thema am liebsten totschweigen. Das ist unsinnig und klappt natürlich nicht. Auch weil es so unsinnig ist entstand dieser Text.

       Lügen haben kurze Beine

      Gibt es einen Grund, sich für seelische Erkrankungen zu schämen? Wer schämt sich für Kopfschmerzen, ein gebrochenes Bein oder den entzündeten Blinddarm? Kreislauferkrankungen oder Krebs sind ähnlich verbreitet wie Depressionen, aber wir gehen viel offener damit um. Warum? Weil man Depressionen nicht durch Bluttests oder auf Röntgenbildern nachweisen kann, weil seelische Erkrankungen unfassbar sind? Wieso hält sich auch in unserer aufgeklärten Gesellschaft der Irrglaube, Depressionen hätten etwas mit Wahnsinn zu tun? Würden man depressive Menschen weniger ausgrenzen und besser verstehen, wenn die Seele operiert, bestrahlt oder wie ein Gelenk ersetzt werden könnte? Die Psychotherapeutin Andrea Jolander schrieb nach über dreißig Jahren Berufserfahrung ein Buch über die Stigmatisierung von seelisch Erkrankten. Der Titel ‚Da gehen doch nur Bekloppte hin’ fasst ein einem Satz zusammen, was viele Leute auch heute noch über Psychotherapie denken. Schade!

      Dieses Buch soll Vorurteile abbauen und mehr Verständnis für die Ursachen von Depressionen schaffen, denn sie sind eine Volkskrankheit. Ich weiß seit über dreißig Jahren, dass ich depressiv bin und habe gelernt, mit dieser Krankheit umzugehen. Kürzlich erfuhr ich von meiner Stiefmutter, dass ich schon als Schulkind längere Phasen unerklärlicher Schwermut und Lebensunlust durchmachte. Jeder fünfte Deutsche leidet im Laufe des Lebens unter Depressionen. Die statistische Wahrscheinlichkeit ist sogar dreimal so hoch, wenn ein Elternteil depressiv ist oder war. Wie ich heute weiß, durchlitt meine Mutter schon als junge Frau mehrere depressive Episoden. Wenn ihre Familie und mein Vater mehr über das Wesen dieser Krankheit gewusst hätten und offener damit umgegangen wären – auch den beiden Ärzten gegenüber, die sie in den Wochen vor ihrem Tod behandelten – würde meine Mutter heute vielleicht noch leben. Aufrichtigkeit kann heilen, das habe ich spätestens 1980 erfahren, als ich zum ersten Mal psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nahm. Lügen machen krank, und das gilt auch für gut gemeinte wie jene Notlüge, mit der ich aufwuchs.

      Lügen haben kurze Beine – diesen Satz hat wohl jeder schon einmal gehört. Es kostet Aufwand, die Wahrheit zu verheimlichen, und viele Lügen fliegen auf, aber manche halten sich hartnäckig und jahrzehntelang. Nach dem Tod meiner Mutter lebte ich bei einer Schwester meines Vaters. Sie hatte bereits zwei Söhne und dazu ein Herz voller Liebe, nahm mich bei sich auf und wurde