Jonas Enkogia

Weiterleben!


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für das Bremer Taxengewerbe. Kurz danach arbeitete ich als Taxifahrer in zwölfstündigen Schichten, sieben Tage pro Woche. Anfänglich fuhr ich tagsüber, aber nach einer Eingewöhnungszeit wechselte ich in die Nachtschicht. Keine Staus, weniger Stress und mehr Geld. 40 Prozent der Einnahmen gehörten mir, plus Trinkgeld. Pro Nacht kamen im Schnitt 140 Mark zusammen, viel Geld, das eisern gespart wurde. Denn ich hatte ein Ziel.

      Im Freundes- und Bekanntenkreis war ich nicht der Einzige, der mit Depressionen zu kämpfen hatte. Zwar sprach kaum jemand offen darüber, aber die Betroffenen erkannten sich gegenseitig. Beate, eine ehemalige Schulkameradin gestand mir, dass sie in psychotherapeutischer Behandlung sei. Leider nur ambulant, alle vierzehn Tage hatte sie ein Therapiegespräch, das 50 Minuten dauerte, dabei wäre sie am liebsten in eine Klinik gegangen. Doch es war damals nicht so leicht wie heute, geeignete Kliniken zu finden. Die Landeskrankenhäuser waren als Klapsmühlen verschrien, bei denen jeder sofort an Zwangsjacken dachte, und wo man meist nur Medikamente bekam. Psychosomatische Kliniken und alternative Therapieangebote entstanden zwar nach und nach, es gab aber längst nicht so viele Möglichkeiten wie heute. Beate war als Kind wiederholt sexuell missbraucht worden, vom eigenen Vater. Ihre Krankheit wird heutzutage als Borderline-Syndom bezeichnet, eine Persönlichkeitsstörung, unter der deutlich mehr Frauen als Männer leiden. Ein chronisches Gefühle der inneren Leere, heftige und unkontrollierbare Wutausbrüche, Selbstverletzungen und eine fatale Neigung zu Beziehungen mit gefühlskalten und manipulierenden Männern gehören zu den Symptomen der Borderline-Störung. Nichts davon war Beate fremd. Bedauerlicherweise hat sie den Kampf gegen die Dämonen ihrer Vergangenheit verloren und sich im Alter von 29 Jahren das Leben genommen.

       Befreit durch den Urschrei

      Im Grunde verdanke ich Beate meine erste Psychotherapie, denn sie schwärmte von der Primärtherapie nach Arthur Janov. Anfang der 1970er Jahre erschien sein Buch ‚Der Urschrei’, weshalb die von ihm entwickelte Therapie auch Urschreitherapie genannt wurde. Janov ist überzeugt, dass seelischer Schmerz aus frühester Kindheit die Ursache für psychische und physische Erkrankungen ist. Solange dieser Schmerz verdrängt und ins Unterbewusste abgespalten bleibt, ist nach seiner Auffassung eine seelische Gesundung unmöglich. Patienten, die an den Folgen traumatischer Kindheitserlebnisse leiden, müssen den uralten Schmerz in sich aufsteigen lassen und nochmals durchleben, diesmal jedoch bewusst. Dieser Prozess kann immens schmerzhaft sein, daher arbeitet die Primärtherapie mit vergleichsweise radikalen Methoden, um die Verdrängungsmechanismen der Patienten auszuschalten und sie für die qualvolle Wahrnehmung verschütteter Kindheitserlebnisse zu öffnen.

      Angeregt durch Beate las ich verschiedene Bücher über Psychotherapie, darunter auch mehrere von Arthur Janov. Begeistert vom Versprechen Janovs, seine Methode würde den Menschen befreien und die Verstrickungen der Vergangenheit auflösen, entschied ich mich für die Primärtherapie. Weil gesetzliche Krankenkassen damals die Kosten nicht übernahmen, woran sich bis heute leider wenig geändert hat, musste ich die Therapie selbst bezahlen. Deshalb saß ich fast täglich hinter dem Steuer eines Taxis und sparte eisern. Im Juni 1980 fuhr ich erstmals nach Seibranz, um mich in der dort angesiedelten Poliklinik untersuchen und klären zu lassen, ob die Primärtherapie für mich in Frage käme. Die Ergebnisse waren positiv und am ersten August desselben Jahres begann meine Intensivphase in einem zur Therapiestätte umgebauten Landgasthof.

      Seibranz ist ein Weiler mitten im Allgäu und gehört zur Gemeinde Bad Wurzach. Eine Kirche, ein Bäcker, die Käserei, ein Gasthaus mit angeschlossener Metzgerei und die Raiffeisen-Genossenschaft – viel mehr hatte das Dorf nicht zu bieten. Fette Wiesen, saftiges Gras und würzige Kräuter, und über allem der Klang zahlloser Kuhglocken. Uralte Bauernhöfe am Rand dunkler Wälder und mitten im Dorf ein Haus, wo jeden Tag geweint und geschrien wurde. Wer konnte und wollte, arbeitete mit amerikanischen Therapeuten, die direkt vom Primal Institute aus Kalifornien kamen. Es gab jedoch auch Therapeuten aus Deutschland oder Österreich, die von Arthur Janov oder seinen Schülern ausgebildet worden waren. Während der dreiwöchigen Intensivphase wohnten die Patienten im Haus und hatten tägliche Einzelsitzungen, danach konnten sie an offenen Gruppensitzungen teilnehmen. Je nach Bedarf, Leidensdruck und Geldbeutelgröße reisten die Leute nach Seibranz, meist am Wochenende.

      Für die Intensivphase galten besondere Vorschriften. Sie erleichtern das Einlassen auf die Welt der Gefühle und hemmen die üblichen Verdrängungsmechanismen. Verboten waren Nikotin, Alkohol und Drogen jeder Art, Kaffee und Tee, Süßigkeiten, Fernsehen, Radio und Bücher (Internet und Handys gab es damals noch nicht). Gespräche aller Art waren tabu, ebenso jede Art von Ablenkung oder Zerstreuung. Man durfte malen, zeichnen und spazieren gehen, aber nur allein. Als ich begann, stundenlang Gedanken ins Tagebuch zu notieren, wurde mir auch das untersagt und ich durfte nur noch zwei Seiten pro Tag schreiben. Auch sollte ich nicht mehr als acht Stunden schlafen, statt halbe Tage zu verdösen. Ich war auf mich zurückgeworfen, musste mich wirklich auseinandersetzen, konnte nicht ausweichen. Keinerlei Ablenkung, nur Gefühle und Gedanken, keine Chance zur Flucht. Dabei entstand immenser Druck, der sich täglich in den etwa zweistündigen Einzelsitzungen entlud.

      Da mein Englisch recht gut war, arbeitete ich in der Intensivphase mit einer sehr erfahrenen amerikanischen Therapeutin. Sie betreute mich liebevoll und verhalf mir immer wieder zu tiefer Selbsterkenntnis. Das war sehr bereichernd, auch wenn der Weg dahin durch viel Schmerz, Wut und Trauer führte. Die Therapieräume waren schummrig beleuchtet und nahezu schalldicht. Wände und Böden hatte man weich gepolstert, damit sich niemand verletzt, und die Raumtemperatur lag über 25 Grad. Es wurde uns empfohlen, nackt oder in Unterwäsche zur Therapie zu erscheinen, weil der Mensch sich auch durch seine Kleidung wappnet, nach außen abgrenzt und versteckt. Bei der Primärtherapie sollen frühkindliche Erfahrungen in einem sicheren Umfeld erneut durchlebt und durchlitten werden, ohne dass Patienten sich schützen oder abgrenzen müssen. Daher wird ein Raum geschaffen, der ein bisschen an das Innere des Mutterleibes erinnert – warm, weich und dunkel. Im Therapieraum ist fast alles erlaubt. Man darf toben, weinen, schreien und vor Wut auf dicke Kissen einprügeln. Es wird gejammert und geflucht, und manchmal klingt es, als würden Kleinkinder plärren. Egal ob Einzel- oder Gruppensitzung, stets wird man von hochsensiblen und sehr erfahrenen Therapeuten unterstützt, die ihre Patienten beim erneuten Durchleben extrem schmerzhafter Kindheitserfahrungen begleiten und sie jederzeit emotional auffangen.

      Diese Schilderung und besonders die Vorstellung, nackt in einer Gruppe seinen Schmerz hinauszuschreien, klingt sicherlich seltsam, aber mir hat die Primärtherapie sehr geholfen. Ich konnte mich gut auf die ungewöhnliche Methode einlassen und hatte damals einen immensen Leidensdruck. Innerhalb der ersten drei Wochen, die ich in der Poliklinik wohnte, aber auch in den Monaten danach fanden wichtige Veränderungen statt, äußerlich wie innerlich. Ich war nach kurzer Zeit drei Zentimeter größer, aber nicht, weil ich mit fast 22 Jahren noch gewachsen wäre. Chronische Muskelverspannungen lösten sich und sorgten dafür, dass ich nicht länger gramgebeugt durch die Welt schlich, sondern mich aufrichtete. Eine Mitpatientin, die mich bei meiner Anreise erlebt hatte, machte mir nach zwei Monaten ein sehr schönes Kompliment. „Anfänglich sahst du aus wie ein KZ-Häftling, aber nun blitzen deine Augen und du hast ein schönes Lächeln. Du bist ein ganz anderer Mensch!“ Sie hatte wohl recht, denn auch anderen Menschen fiel meine Veränderung auf.

       Ein neuer Mensch und doch der alte

      Wichtigste Erfolge der Therapie: Ich konnte wieder weinen und nahm meine Gefühle sehr intensiv wahr. Viele Jungen werden mit Sprüchen wie ‚Indianer kennen keine Tränen’ zu Härte erzogen. Wer Tränen zulässt, wird als Memme und Heulsuse verspottet. Das Resultat sind Männer, die Härte mit Überlegenheit verwechseln und emotional verkümmern. Ich bekam als Neunjähriger von meinem Vater eine Ohrfeige, weil ich ihm nicht erklären konnte, weshalb ich weinte. Schlimmer als der brennende Schmerz in meinem Gesicht war sein Satz „Jetzt hast du einen Grund zum Heulen!“ Mein Vater musste im letzten Kriegsjahr als jugendlicher Flakhelfer Todesängste ertragen. Es verwundert daher kaum, dass er wenig mitfühlend ist, mich oft schlug und zur Härte erzog. Gut getan haben mir seine Methoden nicht.

      In der Primärtherapie fand ich glücklicherweise Zugang zu meiner weichen und verletzlichen Seite und lernte auch das