Michael Sohmen

Der Jakobsweg am Meer


Скачать книгу

wir den direkten Weg«, schlage ich vor und zeige auf den Wegweiser mit der Aufschrift ›Deba‹ am Ende des Rastplatzes.

      »Wir wollen einen anderen Weg gehen.« Der Spanier führt mich zur Tafel zurück und zeigt auf eine Linie, die zum Meer weist. Ganz klar ist dies als weiter Umweg zu erkennen. Die doppelte Strecke, mindestens.

      Als die anderen nach einer Viertelstunde aufbrechen, folge ich ihnen, obwohl ich mir sicher bin, dass niemand weiß, wo es langgeht und wir ziellos herumirren. Einem Bachlauf folgend marschieren wir auf einem Trampelpfad durch einen Wald, der sich nach einigen Kilometern lichtet. Als wir über eine Wiese wandern, ist das Meer schon zu erkennen. Dort endet der Pfad, über flache Steine balancieren wir zum Wasser hinab.

      »Auf meiner letzten Wanderung auf dem Camino del Norte habe ich dieses Naturwunder verpasst.« Der Spanier zeigt eine flach abfallende Klippe hinauf. »Übrigens, ich heiße Mario. Die anderen sind Jennifer und Maria.«

      Bisher hatten wir uns noch nicht vorgestellt. Ich wusste nur den Namen von Gabriel, der sich derweil auf einem Stein niedergelassen hat und eine Zigarette dreht.

      »Die Gesteinsform nennt sich Flysch«, erklärt der Spanier. Beeindruckt betrachte ich die Steinwand. Es lockt mich, einen Versuch zu wagen, die 45 Grad steile Wand zu erklimmen. Doch der Stein ist vollkommen glatt und es sind weder Risse, noch Griffe zu sehen. Es wirkt, als wäre diese Klippe künstlich errichtet worden. Doch lassen die Schichten erkennen, wie diese Gesteinsformation entstanden ist und dass sie aus Ablagerungen aus vielen Millionen Jahren besteht. Mittels Plattentektonik wurde sie in die Senkrechte gedreht und zu einer riesigen Fläche nackten Felsens, auf der sich kein Grün festsetzen kann. Wir nehmen Fotos auf, wandern umher und stapfen durch das Wasser.

      Am Rand der Klippe führt ein Trampelpfad hinauf, dem wir nach der langen Pause folgen. Der Hang, der mit schwarzen Kugeln übersät ist, wird wohl als Schafweide genutzt. Jennifer, die spanische Pilgerin, tut sich zunehmend schwer, als ein steiler Aufstieg beginnt. Einerseits ist sie übergewichtig, andererseits sind ihre Schuhe für dieses Gelände denkbar ungeeignet. Sie trägt Ballerina-Schuhe ohne Profil, wodurch sie häufig ins Rutschen gerät. Nach einer Weile haben wir einen phantastischen Aussichtspunkt erreicht und genießen die Rundumsicht auf die Klippen und das Meer. Nach einem kurzen Stopp und als die Ballerina-tragende Spanierin zur Gruppe aufgerückt ist, geht es einen rutschigen Pfad abwärts. Als ich neben Gabriel wandere, schlittert Jennifer plötzlich an uns vorbei und bleibt mit schmerzverzerrtem Gesicht vor uns liegen. Alle eilen zu ihr.

      »Beruhige dich. Du hast Glück. Ich bin Krankenschwester«, erklärt die zweite Spanierin namens Maria, während sie den Fuß begutachtet. »Kannst du aufstehen?«

      »Ich glaube nicht.«

      Während ich Jennifers unbeholfene Versuche beobachte, auf ihre Füße zu kommen und sie mühselig versucht, einen Fuß vor den anderen zu setzen, atme ich tief durch. Mir wird klar, dass aus der rechtzeitigen Ankunft in Deba heute nichts mehr wird. Die Chancen, einen Platz in der Herberge zu bekommen, sind gleich Null. Doch die Prioritäten haben sich geändert und mir wird bewusst, so schön der Weg in dieser Wildnis auch ist, auf keinen Fall sollte man ihn alleine wagen. Wer ohne Begleitung auf den mit Kraut bewachsenen Hügeln verunglückt, ist auf sich selbst gestellt. Außer uns fünf Pilgern ist weit und breit niemand unterwegs.

      Ein steiler Anstieg führt über eine Schafwiese und es geht nur in extremem Schneckentempo hinauf, damit die Verunglückte mithalten kann.

      »Schau mal, dort klettern Schafe.« Gabriel zeigt plötzlich grinsend zur Felswand vor uns.

      Ich brauche einen Moment, um die weißen Punkte zu erkennen, die an einer Steilwand kleben.

      »Ich wusste nicht, dass Schafe so gut klettern können«, wundere ich mich. Von Gämsen ist es bekannt. Die sind aber Wildtiere und das alpine Terrain gewöhnt. In das Gelände, in dem die domestizierten Nutztiere gerade unterwegs sind, hätte ich mich ohne Sicherung durch ein Seil nicht gewagt.

      Nach einer gefühlten Ewigkeit haben wir den Trampelpfad hinter uns gelassen und erreichen eine Straße. Wir hoffen, dass bald ein Auto auftaucht, das die verunglückte Spanierin mitnehmen kann. Diese Gegend ist jedoch wie ausgestorben und auf der Landstraße ist außer uns niemand unterwegs. Nicht einmal ein Traktor. Nach ungefähr einem Kilometer endet die Straße vor einem verschlossenen Metallzaun. Da wir hier nicht weiterkommen, kehren wir um.

      Abseits der Straße entdecken wir einen Schotterpfad, der zum Meer herunterführt. Als an einem Baum endlich wieder der rot-weiße Doppelstrich zu sehen ist, jubele ich leise. Die Markierung weist auf einen europäischen Fernwanderweg hin. Im Unterschied zu gelben Pfeilen und Muschelsymbolen, mit denen der Jakobsweg gekennzeichnet ist, werden diese Pfade jedoch eher selten gepflegt.

      Der Weg endet an einer von Brombeergestrüpp eingeschlossenen Wiese. Ein einsamer Esel zupft Kräuter aus dem Gras. An unserem Auftauchen scheint er sich nicht zu stören.

      Seit einiger Zeit macht mir dieser Umweg keinen Spaß mehr. Dass wir erneut in einer Sackgasse gelandet sind, bereitet mir noch weniger Freude. Während Mario und Gabriel die Umgebung erkunden, indem sie sich durch die dornige Hecke zwängen, warte ich bei den spanischen Pilgerinnen. Bis die anderen wieder auftauchen und unsere Lage endgültig als aussichtslos bestätigen, beschäftige ich mich damit, Gras aus der Wiese zu rupfen und es dem Esel anzubieten. Der ignoriert meine freundschaftliche Geste trotzig.

      »Wie haben einen Weg gefunden!« Die beiden Pfadfinder winken aus dem Dornengestrüpp. »Hier geht es weiter!«

      Statt sich durch mannshohe Brombeerranken zu kämpfen, hätte ich dafür plädiert, umzukehren. Da die zwei Pilgerinnen aber dem Aufruf folgen, beuge ich mich der Mehrheit und zwänge mich hinterher. Ich habe die Hoffnung schon längst aufgegeben, dass wir der Wildnis noch entkommen können. Als wir durch eine Bahnunterführung gehen und auf einen Schotterweg gelangen, bin ich mir immer noch sicher, dass Umkehren die einzige vernünftige Lösung gewesen wäre. Einige Kilometer weiter erreichen wir einen Asphaltweg, der den Eindruck erweckt, als ob er seit Jahrzehnten verfällt. Wir folgen ihm dennoch und kommen an eine Abbruchkante. An dieser Stelle gab es wohl einen Erdrutsch. Weiterzugehen ist vollkommen unmöglich. Wir kehren abermals um und entdecken seitlich eine Wegmarkierung, die auf einen Trampelpfad im Wald weist.

      Das Gelände wird nochmals unwegsamer und führt so steil bergab, dass auch ich Schwierigkeiten habe, nicht abzurutschen. Man muss sich an Bäumen oder Grasbüscheln festhalten, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Nahezu unmöglich wird es für jemand, der kaum mehr laufen kann. Wie für Jennifer. An einigen Stellen wird sie zu einer logistischen Herausforderung. Oben hält sie jemand fest, während sie bis auf Armlänge mit ihren Ballerina-Schuhen herabrutscht, während sich unten ein anderer bereithält, um sie aufzufangen. Mir fällt ein Stein vom Herzen, als wir endlich das Tal erreichen, ohne dass jemand bei dieser Expedition tödlich verunglückt ist. Der Weg leitet uns an einer Kläranlage vorbei, die einen unappetitlichen Geruch verbreitet und führt wieder steil bergauf. Der Anstieg ist zum Glück mit Stahlseilen gesichert, an denen man sich festklammern kann. Endlich hören wir Zeichen der Zivilisation, den Lärm von Autos und Lastwagen.

      Nach wenigen Metern an der dicht befahrenen Straße können wir schon die Stadt Deba vor uns im Tal sehen. Eilig überqueren wir eine schmale Brücke, auf der hupende Schwertransporter hemmungslos dicht an uns vorbeibrausen und sehen gegenüber die gelben Pfeile des Jakobsweges. Sie führen einen Pfad hinauf, der wieder einmal von Brombeerranken überwuchert ist. Nach kurzer Diskussion entscheiden wir uns gegen diese Variante, da nach den dramatischen Ereignissen in der Idylle alle genug von Abenteuern haben. Den Rest des Weges legen wir am Rand der Schnellstraße zurück.

      Kurz hinter dem Ortsschild liegt eine Blondine auf einer Parkbank. Die Spanier eilen zu ihr und wecken sie.

      »Marina!« Sie fallen sich gegenseitig in die Arme und unterhalten sich aufgeregt. Offensichtlich gibt es auch von Natur aus blonde Spanierinnen. Sie schließt sich uns für die letzten Meter in die Stadt an, hinkend auf einen Wanderstock gestützt. Soweit ich verstehe, hatte sie sich auf die Parkbank gelegt, da sie unter Knieproblemen gelitten hatte und wäre eingeschlafen. Es müssen viele Stunden gewesen sein, die der Blonden in der knappen Kleidung sichtbar nicht gut