Michael Sohmen

Der Jakobsweg am Meer


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worauf ich erleichtert aufatme. Und setzt fort: »und alle sind komplett belegt. Heute gab es offensichtlich einen riesigen Pilgeransturm.« Mein Atem stockt. Sie schlägt vor: »Wir fragen uns durch alle Bars und Restaurants durch, ob jemand privat etwas anbietet.« Sie geht voran, betritt eine Gaststätte nach der anderen und kehrt stets ohne gute Nachrichten zurück.

      Mir wäre auch nichts Besseres eingefallen. Aber ich bin immer froh, wenn ich warten darf, während ein anderer die Dinge regelt. So langsam komme ich nun doch in Pilgerstimmung. Genau das ist es, was mich an dieser Art Urlaub begeistert. Die Gemeinschaft. Das Gefühl der Freiheit und Unabhängigkeit, wenn sich jemand anderes darum bemüht, jegliche Schwierigkeiten und Komplikationen für die Gruppe aus dem Weg zu räumen.

      »Sie kennt jemanden, der eine Herberge außerhalb des Ortes betreibt.« Juli kommt endlich freudestrahlend und in Begleitung einer älteren Dame aus einem Restaurant. »Er wird uns gleich abholen«

      »Es wird eine Weile dauern, bis euch mein Schwiegersohn kommt«, erklärt die Dame. »Ihr könnt euch solange auf die Terrasse setzen. Darf ich euch etwas bringen?«

      Das Angebot nehmen wir gerne an und verkürzen die Wartezeit mit Bier, das uns die freundliche Dame postwendend serviert und stoßen auf den Camino an. Auf das Glück, noch eine Unterkunft bekommen zu haben, stoßen wir mit dem zweiten Bier an. Ein Auto kommt heran und hält direkt neben der Terrasse. Als der Fahrer aussteigt und winkt, leeren wir hastig unsere Gläser. Sogleich nimmt er unsere Rucksäcke entgegen, verstaut sie im hinteren Teil seines Kombis und wenig später rasen wir in einer selbst für Nichtpilger unangemessenen Geschwindigkeit über die Landstraße.

      Als wir in eine Hofeinfahrt einbiegen, erkenne ich anhand meiner losen Zettel, wo wir uns befinden. Eine private Herberge in Bolibar. Somit haben wir drei Kilometer des Caminos abgekürzt. Ein Betrug am Pilgergedanken. Das, was ich eigentlich vermeiden wollte. Nachdem ich wenige Tage zuvor den Weg durch hässliches, eintöniges Industriehafengebiet einer kurzen Überfahrt über die Bucht vorgezogen hatte, wäre dieses kurze Stück nicht die geringste Zumutung gewesen. Wir hätten durch eine grüne Berglandschaft wandern können …

      »Wir sind da!« Der Fahrer zurrt die Handbremse fest und eilt zum Kofferraum. Er wirkt gehetzt und ich kann meinen Rucksack gerade noch auffangen, bevor er schon vorauseilt und uns zum Eingang führt. Dies passt weder zum Pilgern, noch zur spanischen Gelassenheit. Vielleicht zur baskischen Art. Vom Taxifahrer wandelt der Mann sich zum Fremdenführer und nimmt zwischendurch einen Anruf auf seinem Handy entgegen. Nach den Schlussworten ›ich komme gleich‹ kümmert er sich wieder um unsere Gruppe und weist uns die Schlafplätze zu. Auf die Frage, was diese Fahrt kosten würde, schüttelt er den Kopf.

      »Ich bin der Geschäftsführer der Herberge. Ich habe das baufällige Gebäude erworben, renoviere es derzeit und freue mich über jeden Gast.« Er fragt sogleich: »Habt ihr schon eine Unterkunft für den nächsten Tag? Ich würde vier Plätze für euch in der Herberge von Guernika reservieren. Es wäre besser so, denn im Moment ist die ganze Welt auf dem Pilgerweg und eine Reservierung ist sinnvoll.«

      Spontan stimmen wir zu. Er telefoniert kurz und lächelt uns an. »Alles geregelt. Vier Plätze sind reserviert und jetzt entschuldigt mich, ich muss die nächsten Pilger abholen.« Sofort ist er wieder verschwunden.

      Der Mann ist ein Vollblut-Unternehmer. Möglicherweise wie die Pioniere der Aufbruchszeit unter Ludwig Erhardt, die ihre Chance ergriffen und sich wie besessen für ihren Erfolg eingesetzt haben. Die Renaissance des Jakobsweges scheint eine ähnliche Wirkung zu haben, wenn sich manche dermaßen verausgaben, um eine große Vision zu verwirklichen.

      Als ich mich nach einer Waschmöglichkeit für meine Klamotten umsehe, betrete ich halbfertige Zimmer, bis ich den richtigen Raum finde. Säcke mit Wandputz und Maurerkellen liegen umher, Rohbauflair und nackte Backsteine bestätigen abermals, dass der Inhaber unglaublich fleißig sein muss. Hoffentlich übertreibt er es nicht und nimmt auf seine Gesundheit Rücksicht.

      Nachdem ich meine Wäsche auf die Leine im Vorgarten gehängt habe, geselle ich mich zu den Pilgern auf die Terrasse.

      »Ist das nicht ein großes Glück? Wir haben nicht nur auf den letzten Drücker einen Platz in einer supermodernen Herberge bekommen, sondern auch schon eine Unterkunft für morgen.« Die französische Pilgerin namens Juli strahlt mich an. »Außerdem sind uns einige Kilometer erspart geblieben.«

      Ich überlege, wie ich ihr mein Problem erklären soll. So läuft nicht das wahre Pilgern, sondern Tourismus. Eine Rundumversorgung für den lieben Gast statt eines Überlebenskampfes, bei dem man sich Abend für Abend um das letzte Bett streitet. Die Zeit außerhalb der Zivilisation zu verbringen, das soll eine Herausforderung sein und eine Konfrontation mit nicht alltäglichen Schwierigkeiten mit sich bringen. Zuoberst steht eine Heilige Regel: niemals nimmt man eine Abkürzung mit dem Automobil. Ich habe sie gebrochen und das macht meinen ursprünglichen Plan zunichte, den Weg ausschließlich im Pilgerstil zurückzulegen. Ich erkläre es ihr in Kürze: »Mir fehlen drei Kilometer vom Camino del Norte.«

      Juli schweigt und sieht mich nachdenklich an. Ein Pilger beginnt auf einer Ukulele zu spielen. Der Herbergsunternehmer hatte in der Zwischenzeit weitere Pilger mit seinem Auto herangekarrt und diese stimmen in Französisch ein, während der musikalische Wanderer auf der kleinen Gitarre zupft. Es ist immer interessant, mit Franzosen, Spaniern oder Italienern unterwegs zu sein. Sie kennen viele Musikstücke, die sie auswendig mitsingen können. In Deutsch würde mir nichts Geeignetes einfallen. Außer Alle meine Entchen, Fuchs, du hast die Gans gestohlen oder Hänschen klein. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass jemand in meinen Alter solche Texte mitsingen würde, wenn er noch halbwegs nüchtern ist.

      Abends versammeln wir uns zum Pilgermenü im Gemeinschaftsraum. Der Inhaber ist gleichzeitig der Koch und berät uns bei der Auswahl. Seine Ehefrau serviert die Mahlzeiten. Zum Schluss empfiehlt er uns, ein Kloster in der Nähe zu besichtigen. Da er verspricht, dass dieses Bauwerk absolut sehenswert sei, verabredet sich unsere neue Pilgergemeinde zu einer Abendwanderung.

      »Wie wirst du das Problem mit den verlorenen drei Kilometern lösen?«, fragt mich Juli, als wir die Straße hinaufwandern und das spirituelle Gebäude in Sichtweite kommt. »Du könntest beispielsweise einige Male um das Kloster herumlaufen.«

      Ich vertiefe mich in Berechnungen, bis ich eine Lösung aus dem Dilemma finde.

      »Ein paar Tage zuvor habe ich einen Wegweiser verpasst und bin einen Umweg gelaufen. Wenn ich mich nicht verrechnet habe, sind die fehlenden Kilometer wohl ausgeglichen.«

      »Dann sind ja alle Probleme gelöst.« Sie lächelt verschmitzt.

      Als wir die Kirche besichtigen und uns alte Männer mit gebeugtem Rücken entgegenkommen, überlege ich, ob dieses Gebäude als Altenheim genutzt wird. Die schwarze Robe der Männer weist jedoch darauf hin, dass es sich bei den betagten Herren um Mönche handelt. Offensichtlich fehlt es diesem Kloster an Nachwuchs. Das Zölibat wurde zu streng eingehalten.

      Die zerstörte Stadt

      6. August, Markina-Xemein / Bolibar → Guernika

      Als ich meine getrockneten Sachen an der Wäscheleine eingesammelt und im Rucksack verstaut habe, lasse ich eilig die Herberge hinter mir. Für Ordnung blieb keine Zeit, daher habe ich all meine Habseligkeiten hastig hineingestopft. Die anderen Pilger waren bereits fertig mit Packen, als ich erst damit begonnen hatte.

      Ich bin froh, dass die anderen geduldig auf mich gewartet haben. Mittlerweile sind wir eine größere Pilgergruppe, neben Gabriel, Ann-Claire und Juli hat sich auch ein holländisches Pärchen dazugesellt sowie der musikalische Franzose.

      Durch die unübersehbare Präsenz der rot-grün-weißen Flagge an fast jedem Haus ist zu erkennen, welche politischen Ansichten die Bewohner in dieser Region teilen. Unmissverständlich wird am Ortsschild von Munitibar erklärt, was dies bedeutet: »Das Baskenland ist ein unterdrücktes Land, das für seine Freiheit kämpft. Die spanische Flagge wurde uns durch Gewalt aufgezwungen und ist das Symbol der Unterdrückung, daher akzeptieren wir sie nicht.« Ich habe mir erlaubt, den Text zu kürzen und in Deutsch wiederzugeben. Die Mehrheit der Bürger scheint dieser Meinung zu sein. Eine