reinste Wildnis. Wir marschieren an einem rauschenden Bach entlang durch ein morastiges Tal und balancieren über Baumstämme. Der Weg ist sumpfig und man sinkt oft knöcheltief ein. Der Belgier Gabriel ist mit seinen Wüstenkampfstiefeln bestens dafür ausgestattet. Seine Füße bleiben trocken, während meine Turnschuhe sich mit schlammigem Wasser vollsaugen. Es macht aber Spaß, durch diesen Nationalpark zu wandern, in dem weder Land- noch Forstwirtschaft betrieben wird. Nach vielen Kilometern verlassen wir die Wildnis über einen steilen Anstieg, der bei einer Ansammlung von Wohnhäusern endet. Wir sind zurück in der Zivilisation und nach einer kurzen Rast verlassen wir das Dorf über einen Weg, der einige Höhenmeter aufwärts führt. Am höchsten Punkt bietet sich eine wundervolle Aussicht über die grüne Berglandschaft.
Plötzlich ist ein Klappern auf dem Asphalt zu hören. Ein Fohlen war uns gefolgt. Als wir halten und es bewundern, weicht es zurück und geht nervös auf und ab. Wir gehen ein paar Schritte weiter und es folgt uns erneut. Als wir abermals stehenbleiben und hoffen, dass es diesmal näherkommt, zögert es erneut. Plötzlich nimmt es Reißaus und rennt über eine Wiese davon. Wahrscheinlich wusste es, wo es hinwollte und wir standen dem Tier nur im Weg.
Kurz vor dem Schluss der Etappe führt die Landstraße abwärts. Rechter Hand sehe ich ein größeres Gebäude, auf dem ein riesiges Hakenkreuz prangt. Ich bleibe einen Moment stehen und starre verdutzt auf dieses Symbol. Schnell erkenne ich mein Missverständnis. Es stellt die baskische Rose dar und ist ein Symbol für die Unabhängigkeit des Baskenlandes.
Als der Weg in eine dicht besiedelte Ebene führt, verkündet das Ortsschild den Namen in baskischer Schreibweise: Gernika. Es erwähnt eine Partnerschaft mit Pforzheim. Diese deutsche Stadt befindet sich fünfzig Kilometer von Karlsruhe entfernt und ist ein wenig ansehnlicher Ort, der vor allem bekannt ist für seinen ›Monte Scherbelino‹. Ein riesiger Berg aus Schutt, der aus den Resten des ehemaligen Pforzheims entstanden ist. Seinerzeit soll es eine wundervolle Stadt gewesen sein, bevor sie im 2. Weltkrieg in Grund und Boden gebombt wurde.
Wir finden schnell die Jugendherberge, da die Route mit Wegweisern gut ausgeschildert ist. Als wir den Schlafsaal betreten, macht sich Enttäuschung breit. Es ist ein zu kleiner Raum mit zu vielen Stockbetten. Vollkommen zugestellt. Man muss sich hindurchzwängen, um zu den hinteren Betten zu gelangen. Die Unterkunft ist für 18 Euro pro Nacht unverhältnismäßig teuer und nachdem ich mich eingerichtet habe und zu den Duschräumen begebe, wartet schon eine Schlange davor. Für die große Anzahl an Gästen ist alles äußerst klein dimensioniert. Als ich ins Zimmer zurückkehre, sind Wäscheleinen zwischen den Betten gespannt.
»Woanders war kein Platz«, murmelt der französische Pilger entschuldigend, als ich mich unter den Leinen zu meinem Platz durchkämpfen muss. Nachdem ich den Hindernis-Parcours bewältigt habe, entspanne ich mich auf dem Bett.
Am späten Nachmittag versammelt sich die illustre Gruppe zu einer Tour ins Stadtzentrum. Beim Verlassen der Herberge prüft Juli, ob sie den Schlüssel für die Herberge auch sicher in ihrer Handtasche verwahrt hat und zieht einen anderen heraus, der erkennbar nicht von dieser Unterkunft stammt. »Der ist von der Pilgerherberge in Deba«, murmelt sie, »ich habe vergessen, ihn dort abzugeben.«
Als sie dazu ansetzt, ihn in die Box der Schlüssel dieser Herberge zu werfen, halte ich sie zurück. »Schicke ihn doch per Post. Die werden sich sonst ärgern, wenn er fehlt. Hier kann niemand etwas damit anfangen.«
»Okay.« Sie nickt und verstaut den Schlüssel wieder. »Unterwegs müssen wir uns nach einer Postfiliale umschauen.«
Als wir das Stadtzentrum erreicht haben, halten wir vor einem weißen Gebäude.
»In diesem Museum wird der Spanische Bürgerkrieg in künstlerischer Form dargestellt«, erklärt Juli, als wir eintreten.
In der Eingangshalle schaue ich mich um und betrachte Abbildungen von Häuserruinen, die mit spezieller Fototechnik in rot-gelb dargestellt sind. Kriegskunst im Andi-Warhol-Stil. Ich betrachte eine Schautafel und erfahre etwas über die tragische Geschichte der Stadt. Verheerende Bombenangriffe, die auf Guernika geflogen wurden, um den Widerstand der baskischen Rebellen zu brechen. Es war eine Operation der deutschen Luftwaffe, die in der Operation Condor die Stadt im Jahr 1937 komplett in Schutt und Asche legte.
Anfangs bin ich neugierig, mehr über die historischen Hintergründe zu erfahren. Aber mir wird bald bewusst, das dies kein geschichtliches Museum ist. Es geht um Kunst. Die Tragödie der Stadt auf Leinwand in Pop-Art. Beim Pilgern reizt es mich generell selten, Museen anzuschauen und moderner Kunst gehe ich, wenn möglich, aus dem Weg. Spontan klinke ich mich aus. Da die anderen sich für eine Besichtigung mit Führer entscheiden, verabreden wir uns für ein späteres Treffen. Die Zeit will ich nutzen, die Stadt und ihre Einwohner kennenzulernen. Treppenstufen führen zur Stadtkirche empor, vor der eine Stadtführerin einen Vortrag in Spanisch hält.
Einst sollen sich die Bewohner unter einer alten Eiche zusammengefunden haben, die als heilige Institution angesehen wurde. Dort wurden Volksvertreter bestimmt und Ratssitzungen abgehalten. Es hört sich nach einer Kombination von Demokratie und Naturreligion an, wie die Druiden-Versammlungen bei den Kelten. Es folgt eine Erklärung zur Entstehung des Ortes, der ursprünglich aus zwei Städten Guernika und Lumo bestand. Als die Fremdenführerin sich in geschichtliche Details vertieft, wird mir ihr Vortrag zu anstrengend und ich suche die Kirche auf. In dem gotischen Gebäude fällt mir auf, dass etwas Typisches fehlt. Das Gefühl von Gänsehaut, das einen beim Betreten alter Sakralbauten beschleicht. Mittelalterliches Flair, uralte Geister. Das ursprüngliche Gebäude wurde bei dem Luftangriff wohl zerstört und erst kürzlich wieder aufgebaut.
Die anderen Pilger treffe ich zwei Stunden später wieder. Vor dem Rückweg zur Herberge kaufen wir gemeinsam etwas für das Abendessen ein. Bei der Zubereitung erfahre ich, dass es ein typisch italienisches Gericht wäre. Salat aus gewürfelten Tomaten und Gurken, dazu Spiralnudeln. Die Kombination kenne ich noch nicht. Aber es ist lecker.
Abends begebe ich mit Gabriel in die Stadt, um das Nachtleben zu erkunden. Er ist offensichtlich wie ich ein Nachtschwärmer. An diesem Mittwoch scheint jedoch fast alles geschlossen zu sein. In der einzigen Bar, die wir geöffnet vorfinden, setzen wir uns an den Tresen. Eine gutgelaunte Spanierin versorgt uns mit Bier, mit der mein Begleiter sofort anbändelt und schwärmt, dass diese Dame genau seiner Vorstellung von Frau entspräche. In Belgien würde er als Türsteher in einem Swingerclub arbeiten, erzählt er mir beim ersten Bier. Von seiner Statur würde es passen. Als die nette Bedienung eine Glocke am Tresen läutet, bekomme ich einen Schreck und frage, ob nun Sperrstunde wäre und wir kein Bier mehr bekämen.
»Nein. Es wird jedes Mal geläutet, wenn jemand in der Bar Trinkgeld gibt.«
Sie widmet sich eifrig wieder der Aufgabe, Gäste zu bedienen.
»Gibt es nicht regelmäßig Ärger in einem Swingerclub?«, frage ich Gabriel mangels Erfahrung, wie es in solchen Etablissements zugeht.
»Gar nicht. Die Gäste sind sehr anständig. Häufig bekommt man die eine oder andere Frau ab.«
Es ist interessant, welche Persönlichkeiten man auf dem Jakobsweg kennenlernt. Gabriel wird ernster. »Langsam bekomme ich ein Problem.«
»Welches?«
»Auf der Wanderung hatte ich bisher noch keine Frau. Es sind schon mehrere Tage vergangen und noch nie musste ich mehr als eine Woche in Abstinenz leben. Auf dem Rückweg sollten wir schauen, ob sich noch eine findet.«
In dieser Situation frage ich mich, warum geht er eigentlich den Jakobsweg? Der Zweck dieser Wanderung ist doch ein anderer. Zwar muss es nicht unbedingt das Ziel sein, Gott zu finden und dies ist auch nicht mein eigenes Anliegen. Ich bin unterwegs, weil Pilgern viel Spaß macht, man viele Leute kennenlernt und es ein kulturelles Erlebnis ist.
Auf dem Rückweg schaut sich mein belgischer Begleiter nach Anzeichen eines Rotlichtviertels um, bleibt aber erfolglos. Den einzigen Spaß haben wir nach Mitternacht mit einem spanischen Jungen, der vermutlich zehn Jahre alt ist und mit dem wir eine Runde Fußball spielen. In Spanien dürfen Kinder offenbar so lange aufbleiben, wie sie wollen. Wieder einmal fällt mir auf, wie gegensätzlich unsere Kulturen sind.
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