Winfried Paarmann

Schutzengel im Nahflug


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      Hendrik und sein indischer Bekannter machten den Test, indem sie jeder ein anderes Zelt aufsuchten. Es funktionierte. Die von dem Inder aufgegebene „Botschaft“, ein etwas kompliziertes Familienemblem, kam bei Hendrik im anderen Zelt in allen Details richtig an. Hendrik ließ das Bild dreier Sonnenblumen „senden“. Im anderen Zelt begann das Mädchen, die Blumen zu zeichnen, zunächst schemenhaft, dann wurden die Konturen immer klarer.

      Auch der indische Bekannte wusste keine einleuchtende Erklärung dafür. Man merkte den kleinen zauberhaften Mädchengestalten keine Mühe an, für beide war es eine Art Spiel.

      Offenbar einfach ein Phänomen aus dem „Wunderland Indien“.

      Hendrik war entzückt, er durfte das Papier mit der neu gezeichneten Sonnenblume mitnehmen. Er griff ein Bündel Rupien aus dem Portmonee ohne nachzuzählen, in beiden Zelten.

      Ein tödlicher Unfall

      Der nächste Tag. Hendrik und sein Bekannter saßen Seite an Seite bei einem Geschäftsessen in einem indischen Nobelhotel von Chennai.

      Die reich mit Girlanden verzierten Tische waren überbordend mit weißen Schüsseln und Silberplatten bedeckt. Die acht Inder, zwei mit Turban, und die drei Weißen arbeiteten sich durch den Dschungel der typisch indischen Speiseangebote und jedem war anzumerken, dass er seinen Tischnachbarn, rechts oder links, gut zu unterhalten versuchte und dass das Erzählte Wichtigkeit hatte. In kurzen Abständen rollten Lacher durch den Raum, während man sich die Becher mit den Zahnstochern zureichte und die Zähne von klebrigen Resten des Geflügels befreite.

      Auf seiner rechten Seite hatte Hendrik einen Engländer sitzen, der sein Leben bevorzugt mit Reisen verbracht hatte, es fiel ihm leichter, die Länder aufzuzählen, die auf seiner Reiseliste noch fehlten als die bereits bereisten. Für Hendrik war es der erste Flug nach Indien, und es handelte sich erst um die dritte Geschäftsreise im Auftrag seiner Firma. Sein Englisch war perfekt, mit keinem Akzent unterschied es sich von dem des englischen Gastes, was dieser mehrfach erstaunt kommentierte.

      Plötzlich klingelte sein Handy.

      Sigrid, seine Schwester, meldete sich.

      Hendrik wollte sie auf später vertrösten, doch sie beteuerte, es sei wichtig.

      Er entschuldigte sich bei seinen zwei Tischnachbarn, dann ging er hinaus in den Flur.

      Sigrids Mitteilung war bestürzend: Sie hatte nach einer Wochenendreise zu einer Freundin ihren vierzigjährigen Mann tot in der Garage aufgefunden, wie so häufig hatte er dort mit elektrischen Geräten gearbeitet, die Diagnose der Ärzte war eindeutig: ein tödlicher Stromschlag.

      Hendrik äußerte seine Betroffenheit, schließlich stotterte er ein paar Worte des Trostes und der Aufmunterung, die doch alle, wie er rasch merkte, hilflos und verfehlt waren. Sigrids Stimme, die während der ersten Sätze ein Zittern spüren ließ, kehrte in die ihm bekannte kühle, sachliche Tonlage zurück. Sie erklärte, sie bereite nun die Beerdigung vor, der Termin werde wahrscheinlich am Ende der Woche sein.

      Hendrik hatte noch zwei weitere Geschäftstreffen in Indien, sie wusste es, und im Anschluss war er für eine Woche in die Villa seines indischen Geschäftsfreundes und dessen Familie eingeladen. Er hatte ihr ein Foto gezeigt: eine Prachtvilla, noch im Stil der alten Kolonialzeit erbat und ein parkähnlicher Garten mit mehreren Swimmingpools. Sie beteuerte, der Bruder solle sich seine Urlaubspläne nicht verderben lassen, schließlich handele es sich nicht um ihr Begräbnis sondern das seines Schwagers. Freilich: Wäre es ihres, sie würde über seine Abwesenheit zwecks Indienfreizeit schon etwas erbost reagieren.

      Hendrik bat sie, ihm eine Frist von zwei Tagen zu lassen, in denen er seinen möglicher Weise vorzeitigen Rückflug überdenken wolle.

      Drei Tage später saß er wieder im Flugzeug.

      Nein, seine Schwester in dieser schweren Stunde der Beerdigung allein lassen, das kam für ihn nicht in Frage.

      Der unbekannte Informant

      Die Trauergäste umstanden das offene Grab auf dem Kölner Friedhof. Hendrik hielt die Hand seiner Schwester Sigrid, die sich Stunden zuvor noch so abgeklärt und gelassen gezeigt hatte, nun aber zitterte. Eine grazile Person mit feinen, schon etwas herben Gesichtszügen. Sie war immer seine große Schwester gewesen, zehn Jahre älter als er, nun spürte er zum ersten Mal, dass sie Halt brauchte.

      Der Kreis der sonst Versammelten war Hendrik weitgehend fremd, bis auf Rudmar, Sigrids Schwager, der richtiger ihr Halbschwager zu nennen gewesen wäre, denn er war der Halbbruder ihres Mannes gewesen. Sein Vater war ein Südländer und er selbst hätte seinem Aussehen nach einer sein können – mit dem tiefschwarzen Haar, die ein Gel zusätzlich zum Glänzen brachte, und den von Bartstoppeln dunklen Wangen, die auch keine gründliche Glattrasur in ein Weiß verwandeln konnte.

      Die Halbbrüder, so wusste Hendrik von Sigrid, hatten häufig Streit, um dann wieder alkoholgeschwängerte lautstarke Versöhnungsfeste zu feiern. Hendrik beschränkte sich auf einen kurzen Handschlag zur Begrüßung, der Mann war ihm vom ersten Moment an nicht sonderlich sympathisch gewesen.

      Der Sarg war hinabgelassen und zugeschüttet, die Trauergäste bestiegen ihre Autos und man versammelte sich zum Leichenschmaus. Sigrid hatte in der acht Zimmer großen Villa, die sie nun allein bewohnte, ein großes Büffet aufgebaut, die etwa zwanzig Gäste zogen im Gänsemarsch daran vorbei, und mit jedem Teller, der sich füllte, wuchs der Lärmpegel von fröhlichen Zurufen und verhaltenem, dann auch lautem heiterem Gelächter. Die Stimmung war gut.

      Sigrid winkte Hendrik plötzlich von seinem Teller fort und in einen Nebenraum. Sie hatte einen Zettel in der Seitentasche ihres schwarzen Kostüms gefunden, jemand musste ihn ihr während des Begräbnisses zugesteckt haben.

      Hendrik las die handgeschriebenen Sätze: „Es läuft ein übles Spiel gegen Dich. Behalte eiserne Nerven! Es gibt ein gefälschtes Dokument und wahrscheinlich ist ein zweites gestohlen. Lass Dich nicht einschüchtern! Es ist alles Betrug.“

      Hendrik las die Sätze, noch ungläubig, ein zweites Mal. „Von wem soll das sein?“

      Sigrid zuckte die Schultern. „Es befand sich einfach in meiner Tasche.

      Habe auch keine Ahnung, worum es sich handeln könnte.“

      „Hat Gunnar ein Testament hinterlassen?“

      „Nicht dass ich wüsste.

      Wer schreibt mit Anfang vierzig sein Testament?

      Er war gesund und vital. –

      Hör zu, Hendrik, ich werde heute, wenn die Gäste gegangen sind, die Schreibtischfächer von Gunnar durchsehen. Sie waren immer unverschlossen. Er hatte keine Geheimnisse vor mir. So glaube ich jedenfalls.

      Ich rufe dich an, wenn ich etwas gefunden habe, das mir merkwürdig erscheint.“

      Hendrik reichte ihr den Zettel zurück. „Das klingt nicht nach einem Scherz. Jemand will dich warnen.

      Eine Beerdigung ist eigentlich nicht der Tag, an dem man solche Nachrichten weiter gibt…

      Wirklich kannst du dir niemanden vorstellen, der so etwas schreibt?“

      „Niemanden.“

      „Ansonsten will ich Dir sagen, Sigrid: Du machst es grandios. Die Begräbnisfeuer, jetzt die Gäste, die ganze Organisation - es läuft alles perfekt.“

      „Du vermisst die trauernde Witwe?“

      „Nein – so wollte ich das nicht sagen.“

      „Freilich, Hendrik, war es ein Schock, Gunnar tot in der Garage zu finden.

      Doch dass ich seit diesem Moment in tiefer Trauer gebeugt gehe – das hätte selbst Gunnar nicht erwartet von mir.

      So wenig ich es umgekehrt von ihm erwartet hätte.

      Die letzten