Winfried Paarmann

Schutzengel im Nahflug


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      „Mein Schwager und sein Halbbruder waren heillos miteinander zerstritten. Eine Aufteilung der Erbschaft zwischen meiner Schwester und ihm ist unvorstellbar.

      Wie alt tatsächlich ist dieses Dokument?“

      „Es steht auf dem Papier.“ Er zog es ein Stück näher an die Augen heran. „Jetzt vor ziemlich genau einem Jahr.“

      „Ich werde Ihnen sagen, wie alt es ist, dieses Dokument: fünf Tage.

      Einen Tag zuvor wurde mein Schwager ermordet in seiner Garage aufgefunden.“

      „Ermordet? Die Kriminalpolizei ermittelt?“

      „Einziger Verdächtiger: der Halbbruder meines Schwagers.

      Es gibt Fingerabdrücke. Und dazu einen Augenzeugen.

      Ich warne Sie: Die Kriminalpolizei könnte Sie in die Ermittlungen einbeziehen.“

      Die Bleiche auf dem Gesicht des Notars wurde einen Moment lang zu einer wächsernen Starre. Schließlich wedelte er mit den Händen. „Mit einem Mordfall habe ich nichts zu tun. Was Sie auch sonst behaupten – ich habe mit diesem Mann nichts zu tun, außer dass ich dieses Dokument für ihn beglaubigt habe.“

      „Ja. Und genau vor fünf Tagen.

      Auch dafür gibt es Zeugen.“

      Dem Anwalt trat Schweiß auf die Stirn.

      „Hören Sie, ich mache hier nur meine tägliche Arbeit. Ich habe eine Frau und zwei Kinder. Ruinieren Sie mich nicht! Sie zerstören meine Reputation.“

      Seine Stirn glänzte.

      „Ich sage Ihnen, was geschehen ist: Rudmar Adork kam in ihr Notariat. Allein. Er hat sie unter Druck gesetzt. Er kam mit einer Waffe.

      Er hat Ihnen keine Wahl gelassen. Der Mann ist gefährlich. Sie mussten das gefälschte Dokument un-terzeichnen.“

      „Wenn Sie es so genau wissen – warum stellen Sie dann Ihre Fragen?“

      „Man hat Sie mit Gewalt genötigt, das Dokument zu beglaubigen, mit seinem falschen Datum.

      Das ändert nichts an der Fälschung.

      Wir werden es jetzt korrigieren.

      Ich richte, wie Sie hier sehen, mein Handy auf Sie.

      Und in dieses Handy hinein werden Sie den Widerruf sprechen. Es genügen zwei klare Sätze.“

      Der Notar trocknete sich zum dritten Mal die Stirn. „Sie ruinieren mich. Eine falsche Beglaubigung kostet mich meine Zulassung.

      Ich habe eine Frau. Ich habe zwei Kinder.“ Seine Stimme war weinerlich geworden. „Nein. Das können Sie unmöglich von mir verlangen.“

      Schweißbäche rannen von seiner Stirn. Sein rotes glänzendes Gesicht hätte das eines Saunabesuchers sein können.

      Hendrik zog die Gaspistole hervor.

      „Ich mache keine Scherze. Ich will Ihren Widerruf hören. Jetzt, auf der Stelle!“

      Der blanke Schrecken war in die Augen des Notars gekrochen. Die auf ihn gerichtete Waffe zeigte Wirkung. Der Mann, der sie in der Hand hielt, mit grimmig zusammengepressten Lippen, ließ keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit.

      Der Notar wedelte mit den Händen. Es war der Versuch, ein begütigendes Zeichen zu geben. Er war zur Kapitulation bereit. Hendrik rückte mit dem Handy nochmals einen halben Meter näher.

      „Hiermit erkläre ich -“

      „Datum!“ unterbrach ihn Hendrik.

      Der Notar wiederholte sein „Hiermit erkläre ich“ und fügte das Datum ein, „dass das Testament von Gunnar Adork nicht in dessen Anwesenheit von mir beglaubigt wurde und nicht vor einem Jahr.“

      „Sondern vor fünf Tagen,“ sprach Hendrik vor.

      „Sondern vor fünf Tagen,“ echote der Anwalt.

      „Geht doch!“ sagte Hendrik und bleckte wieder die Zähne. Er steckte die Gaspistole zurück in die Jacke. Dann ließ er sein Handy wie ein Beutestück in die andere Tasche gleiten.

      „Und jetzt einen schönen Tag noch!“

      Er wandte sich zur Tür.

      Der Notar hatte die matte Ausstrahlung eines Häufchens Kehricht. Seine Karriere als Notar hatte einen Knick erhalten, wahrscheinlich einen irreparablen Schaden.

      Doch Hendrik sah es nicht als seine Aufgabe, sich den Kopf dieses Mannes zu zerbrechen.

      Sein Feldzug hatte erst begonnen. Er hatte nur einen Etappensieg errungen, gewiss einen entscheidenden.

      Ein nächster Name stand auf der Liste seiner potentiellen Opfer: Rudmar.

       Hendrik hatte das Notariat seit wenigen Minuten verlassen, als der Notar zum Hörer griff.

       Auf der anderen Seite hörte man Rudmar.

      „Es ist etwas Unvorhersehbares passiert. Eine Katastrophe.“ Der Notar sprach wieder mit fast weinerlicher Stimme.

       Rudmar reagierte sofort unruhig – tatsächlich, es ging um das Testament. „Wer hat dieses Testament ins Gespräch gebracht? Das sollte erst in einer Woche sein.“

      „Keine Ahnung. Der Bruder von Sigrid Adork war hier. Er hatte eine Kopie bei sich. Er wusste alles. Wusste dass es eine Fälschung war und du vor fünf Tagen hier in der Kanzlei warst.“

       Die beiden duzten sich. Offenbar dicke Kumpel.

      „Du hast es zugegeben, du Schwachkopf?“

      „Er hat eine Pistole auf mich gerichtet. Und dann sein Handy. Ich musste alles in die Kamera seines Handys sprechen.“

      „Schwachkopf! Er hätte niemals geschossen. Alles nur Blöff.

       Wir müssen an dieses Handy heran, ehe etwas Unerwünschtes damit passiert.

       Eine Ahnung, wohin er unterwegs ist zurzeit?“

       Der Notar schüttelte den Kopf. Er vergaß, dass sich das Kopfschütteln durch ein Telefon nicht mitteilte.

      „Den Typen hole ich mir.“ Rudmar atmete tief durch. Selbst in diesem Atemzug lag ein bedrohliches Grummeln.

      „Den machen wir platt.“

      Minuten später saß Rudmar im Auto.

      Nochmals Minuten später parkte Hendrik sein Auto vor Rudmars Gartenvilla.

      Klingeln am Gartenzaun. Niemand öffnete.

      Ungeduldiges heftiges Klingeln. Kein Geräusch aus Richtung der Tür.

      Hendrik sprang über den Maschendrahtzaun.

      Jetzt trat eine junge attraktive Asiatin hinter der Villa hervor, eine Heckenschere in der Hand. So attraktiv sie war, so lag doch zugleich eine bedrohliche Aggressivität auf ihrem Gesicht.

      Sie fuchtelte mit der offenen Heckenschere in Richtung des Eindringlings.

      Hendrik fragte nach Rudmar Adork.

      „Niemand nix hier!“ sagte die Asiatin und schwang ihre Heckenschere.

      „Guter Bekannter,“ sagte Hendrik. „Ist Bruder von Mann meiner Schwester.“

      „Was Mann von Schwester?“ Es war unmöglich, dieser Frau zu erklären, was ein Halbschwager war.

      In diesem Moment preschte ein Bullterrier hinter der Villa hervor. Er war nur etwa kniegroß, doch ein Bündel von Energie. Wie eine fellbezogene Kugel schoss er auf Hendrik zu, die Zähne gefletscht.

      Hendrik suchte hinter der Asiatin Schutz. Dann hatte er ihr die Heckenschere entwendet. Er hielt sie der giftig