Olaf Sandkämper

Enophasia


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Einhörner. Das, mein kleiner Pegasus, das sind die Menschen.“

      „Warum zeigst du mir das alles hier?“, wollte das Fohlen wissen. „Ich bin keins dieser Wesen, die du vorhin aufgezählt hast. Ich bin doch bloß ein kleines und einfaches Pferd!“

      Die Frau sah ihn an und lächelte: „Du bist kein einfaches Pferd! Du bist Pegasus, das stärkste und magischste aller Geschöpfe und der Hüter dieses Landes!“

      „Der Hüter dieses Landes?“, fragte das Fohlen ungläubig. „Aber ich bin doch noch so klein. Ohne dich komme ich noch nicht einmal wieder von diesem Berg herunter.“

      „Warum benutzt du nicht einfach deine Flügel?“, fragte Eno lächelnd zurück.

      Da sah das Pferd an sich herab und blickte voller Erstaunen auf zwei Flügel, die ihm gewachsen waren. Vorsichtig breitete der Pegasus die Schwingen aus und schlug sie ein wenig auf und ab. Sofort erhob er sich in die Luft und flog eine Strecke.

      Als er wieder landete, sah er die Frau ehrfürchtig an und fragte: „Bist du eine Zauberin?“

      „Ich bin Eno. Das bedeutet: die Große Mutter. Denn ich bin die Mutter Enophasias.“ „Aber du bist so mächtig!“, antwortete das Fohlen. „Wozu brauchst du noch jemanden, der dieses Land beschützt?“

      „Weil ich meine Kräfte für andere Aufgaben einsetzen muss. Ich werde diesem Land auf eine andere Weise dienen.“

      „Heißt das, dass du mich allein lassen wirst?“, fragte das kleine Pferd mit angstvollem Blick. „Soll ich deshalb der Hüter dieses Landes sein, weil du uns eines Tages verlassen wirst?“

      „Im Gegenteil“, lächelte Eno. „Ich werde dir und allen Geschöpfen Enophasias immer ganz nahe sein. Denn ich werde eins sein mit diesem Land. Ich werde in jedem Baum, in jedem Zweig, in jedem Blatt und Grashalm, in jedem Bächlein, ja sogar in jeder Erdkrume sein. Ich werde dafür sorgen, dass jedes Geschöpf in Enophasia einen Platz bekommt, an dem es Nahrung und Geborgenheit findet. Ich sorge dafür, dass es euch an nichts fehlen wird.“

      „Und was bleibt dann noch für mich zu tun?“, fragte der kleine Pegasus.

      „Es wird nicht immer so friedlich bleiben“, erwiderte Eno und sah mit düsterem Blick in die Ferne. „Es werden dunkle Mächte kommen und eines Tages auch die Menschen. Es wird große Zerstörungen geben und Unfrieden unter den Bewohnern. Deine Aufgabe ist es, den Frieden im Lande zu bewahren und die Feinde Enophasias zu bekämpfen.“

      Die Frau kniete sich zu ihm hinunter, sah ihn ernst an und fuhr eindringlich fort: „Entdecke deine Kräfte, die ich dir gegeben habe. Du darfst sie aber nur für das Gute einsetzen. Vergiss das niemals!“

      Pegasus nickte ernst.

      „Gut“, sagte Eno und lächelte. Sie erhob sich und sprach: „Und nun komm und lerne das Land kennen!“

      Pegasus wuchs schnell heran und war ein gelehriger Schüler, der schon bald all seine magischen Kräfte kannte und beherrschte. Er begleitete Eno auf Schritt und Tritt und lernte so alle Bewohner des Landes kennen, die nach und nach in Enophasia eintrafen.

      Als erste kamen die Wiesenwichtel nach Enophasia. Die Menschen hatten sie beim Anlegen ihrer Äcker verjagt. Dann folgten die Elfen, Feen und Wasserwesen, die aus ihren Wäldern, Flüssen und Seen vertrieben worden waren.

      Als letztes kamen die Einhörner. Sie hatte der Pegasus besonders gern, denn abgesehen von der äußeren Ähnlichkeit mit diesen Geschöpfen, fühlte sich das geflügelte Pferd auch durch die Art der Magie mit ihnen verbunden. Beide Wesen trugen das magische Licht in sich, dass sie sowohl zur Verteidigung als auch zum Angriff einsetzten konnten. Doch obwohl die Einhörner diese furchtbare Waffe besaßen, waren sie die friedlichsten Geschöpfe in ganz Enophasia.

      Als Eno und Pegasus eines Tages wieder durch das Land streiften, trafen sie auf einen Wolf, der sich ziemlich ungewöhnlich benahm. Er sprang auf sie zu, um dann wieder vor ihnen weg zu laufen. Dann stoppte er und kam erneut zurück. Dabei jaulte und bellte er.

      „Was hat er nur?“, fragte Eno.

      „Ich denke, er möchte, dass wir mitkommen“, vermutete Pegasus.

      „Dann folge ihm!“, forderte Eno ihn auf.

      Pegasus erhob sich in die Luft und folgte dem grauen Wolf. Dieser lief schnurstracks nach Süden, auf das Gebirge zu. Das geflügelte Pferd ahnte, wohin der Wolf es führen wollte und flog voraus.

      Schon bald sah er, warum der Wolf so aufgeregt war. Aus den Bergen waren die großen Bären und die weißen Schneelöwen in das Land eingefallen. Sie jagten das Wild in den Wäldern und waren dabei von den Wölfen gestellt worden, die den Eindringlingen an Kraft und Zahl aber unterlegen waren.

      Plötzlich hörten die Angreifer von oben ein Wiehern und sahen ein strahlend weißes Wesen, das sich ihnen aus der Luft näherte. Als der Pegasus sie erreicht hatte, fing er an, kräftig mit seinen Flügeln zu schlagen, und sandte dabei ein blaues Licht aus. Das Licht war so gleißend hell, dass die Eindringlinge geblendet wurden und sich in panischer Angst zur Flucht wandten.

      Gleichzeitig brach ein so heftiger Sturm los, das auch der größte und schwerste Bär unter ihnen sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte und wie ein trockenes Eichenblatt durch die Luft gewirbelt wurde.

      Den Wölfen schien das Ganze nichts auszumachen. Sie wurden weder geblendet, noch davon geweht. Stattdessen setzten sie den Fliehenden nach und sorgten durch schmerzhafte Bisse dafür, dass die Eindringlinge noch schneller flüchteten.

      Nachdem die Räuber vertrieben worden waren und sich die Wölfe beim Pegasus versammelt hatten, kam Eno hinzu, wandte sich an die Wölfe und sprach: „Danke, dass ihr so tapfer gekämpft habt. Ihr habt das Land vor großem Schaden bewahrt. Als Dank gebe ich euch die Sprache der magischen Geschöpfe Enophasias. Durch sie könnt ihr mit den anderen Bewohner des Landes reden und so Angst und Misstrauen abbauen. Außerdem sollt ihr von nun an die südliche Grenze des Landes bewachen. Wenn ihr Hilfe braucht, wird Pegasus für euch da sein.“

      Dann wandte sie sich an das weiße Pferd: „Du warst ein gelehriger Schüler und hast alles beachtet, was ich dir beigebracht habe. Du hast Enophasia beschützt, seine Feinde vertrieben und doch keinen von ihnen getötet. Du hast sehr klug und umsichtig gehandelt.

      Von nun an bist du der Hüter Enophasias, denn das ist deine Bestimmung!

      Und auch ich werde nun das tun, was meine Bestimmung ist. Sei nicht traurig mein kleiner Pegasus, wenn ich nun gehen muss. Ich werde dich trotzdem niemals verlassen, denn ich und Enophasia, wir sind eins.“

      Mit diesen Worten wandte sie sich um und ging davon. Der Pegasus sah ihr nach, sah wie ihre Gestalt sich mit jedem Schritt ein wenig aufzulösen schien, bis sie schließlich ganz verschwunden war. In diesem Moment fing sich ein Windstoß in den Zweigen eines Baumes und Pegasus hörte, wie die Blätter raschelten: „Denke immer daran, mein kleiner Pegasus! Ich und Enophasia, wir sind eins!“

      Auf der Lichtung

      Es war ein warmer und sonniger Morgen in Enophasia. Seit ein paar Tagen hatte der Frühling Einzug gehalten und den ungewöhnlich langen und strengen Winter vertrieben. Tiefer Friede herrschte in den Wäldern, deren Bäume schon die ersten zarten jungen Blätter austrieben, während die Vögel des Waldes geschäftig in den Zweigen umher hüpften. Auf einer einsamen, kleinen Lichtung, die an einem Ausläufer des Grauen Gebirges lag, tummelte sich eine junge Einhornfamilie.

      Vor zwei Tagen hatten hier zwei kleine Einhornfohlen das Licht der Welt erblickt. Ausgelassen tollten die beiden nun über die Wiese, wälzten sich im frischen Gras, stoben auseinander, nur um sich im nächsten Augenblick wieder gegenseitig zu jagen. Im Gras lag, noch erschöpft von der Geburt, Morgenröte und schaute ihren beiden Kindern glücklich zu. Ihr zur Seite stand Silberstreif, der vor Vaterstolz fast platzte. Die Geburt eines Einhorns war seit jeher immer etwas Seltenes und Kostbares. Eine Zwillingsgeburt aber war ein