Olaf Sandkämper

Enophasia


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Liebes, ich passe schon auf sie auf“, sagte Silberstreif. Dankbar legte Morgenröte den Kopf in das junge Gras und schloss die Augen.

      Noch immer jagte sich das Geschwisterpärchen gegenseitig über die Lichtung.

      Den beiden fehlte noch das Horn auf der Stirn. Aber dort wo es einmal sein würde, war schon die kleine Erhebung zu sehen. Morgen, am dritten Tage ihres Lebens, würde es durchbrechen. Und mit ihm kamen auch die magischen Kräfte. Diese waren zwar noch klein, entfalteten sich aber in dem gleichen Maße, mit dem das Horn wuchs.

      Die kleine Stute hatte den zartrosa Schimmer ihrer Mutter geerbt und war von den Eltern Rosenblüte genannt worden. Das kleine Hengstfohlen hieß Schneekristall. Es war weiß wie alle Einhörner. Aber im Gegensatz zum silberweißen Fell seines Vaters war sein Weiß von einer Reinheit, wie man es noch bei keinem seiner Art gesehen hatte. Wenn Schneekristall direkt in der Sonne stand, umgab ihn eine Aura aus Licht, so dass es fast schmerzte, ihn anzusehen. Denn in den Strahlen der Sonne glühte das Fell des kleinen Hengstes wie flüssiges Gold.

      Die Lichtung, auf der die Familie sich aufhielt, grenzte nach vorne und zu den Seiten hin an einen dichten Wald. Die vierte Begrenzung bildete ein kleiner, flacher See, vor einer steil aufragenden Felswand, in den sich ein schmaler Wasserfall ergoss. Das leise Rauschen bildete eine angenehme Geräuschkulisse und machte die Stille des Waldes noch vollkommener.

      In der Nähe des Waldrandes, keine zwanzig Schritte von den Bäumen entfernt, betrachteten die beiden Zwillinge einen Schmetterling, der auf einer Blüte saß. Das kleine Insekt ließ es geschehen, dass die beiden Geschwister ihn genau betrachteten. Die Magie dieser Wesen wirkte schon jetzt. Selbst dieser Falter spürte, dass von den beiden Fohlen keine Gefahr ausging. Schließlich flatterte er weiter, auf der Suche nach frischem Nektar.

      Schneekristall verlor das Interesse an dem Schmetterling und versuchte die Blume zu fressen, auf der dieser eben noch gesessen hatte. Rosenblüte aber konnte sich gar nicht satt sehen an dem kleinen, bunten Kerl und folgte ihm über die Wiese. Unbekümmert springend entfernte sie sich dabei immer mehr von ihren Eltern und näherte sich dem Waldrand. Dabei entging ihr, dass sie von einem Paar großer, gelber Augen gierig angestarrt wurde.

      Regungslos, bis auf eine zuckende Schwanzspitze, und gut getarnt hinter einem dichten Farn, lag dort eine große Katze verborgen. Sie hatte das sandfarbene Fell eines Löwen mit verwaschenen Streifen, die an einen Tiger erinnerten. Die mächtigen Pranken gruben sich nervös in die Erde und zeigten dabei große, sichelförmige Krallen. Aber das Furcht erregendste waren die langen Eckzähne, die wie Dolche links und rechts seitlich aus dem Maul ragten. Dieses Tier war so groß wie ein ausgewachsenes Einhorn und hatte eine gewaltige Kraft. Ein einziger Hieb seiner Pranke und um das kleine Einhorn wäre es geschehen.

      Langsam, ganz langsam zog die Raubkatze die Hinterbeine an den Körper. Speichel tropfte auf den Boden, als sie den Kopf senkte und die Augen zu schmalen Schlitzen verengte. Noch zwei, drei unbeschwerte Sprünge des kleinen Fohlens und die große Katze würde es in Stücke reißen.

      In diesem Moment warf Morgenröte, die im Gras ein wenig gedöst hatte, den Kopf hoch. Sie wusste nicht, warum sie aufgewacht war. Vielleicht war es, weil die Vögel zu singen aufgehört hatten und der Wasserfall dadurch lauter erschien? Auch Silberstreif, der ein wenig abseits gegrast hatte, hatte etwas bemerkt und sah auf. Ihm schien es, als habe der Wald den Atem angehalten.

      „Rosenblüte, schnell komm her zu mir!“, rief er.

      „Rosenblüte!“, rief auch Morgenröte.

      Die kleine Stute blieb stehen und wandte sich um. Dann stieß sie sich mit allen vieren vom Boden ab und hüpfte mit lustigen Bocksprüngen zu ihren Eltern.

      In diesem Moment brach die große Katze mit lautem Gebrüll aus dem Gebüsch hervor. Mit einem gewaltigen Satz stürzte sie sich auf das kleine Einhorn. Rosenblüte gelang es, im letzten Moment auszuweichen. Erschreckt schrie sie auf und versuchte, sich zu ihrem Vater zu retten. Die Raubkatze rappelte sich auf und jagte dem Fohlen hinterher. Nur noch ein, zwei Sprünge trennten sie vom Fohlen. Da kam plötzlich von links ein kleiner, weißer Schatten. Schneekristall, der Rosenblüte am nächsten gewesen war lief zwischen die Katze und seine Schwester und kreuzte ihren Weg.

      Einen Moment lang war die Bestie verwirrt. Das verschaffte Rosenblüte einen klitzekleinen Vorsprung. Doch die Katze zögerte nur den Bruchteil eines Augenblicks. Dann jagte sie, die Augen fest auf die Beute gerichtet, der kleinen Stute hinterher. Dabei übersah sie aber die Eltern, die nun, mit leuchtenden Hörnern, auf Reichweite heran geprescht waren. Als sich das Raubtier mit einem letzten, mächtigen Sprung auf das Fohlen stürzte, schossen blendend weiße Lichtstrahlen aus den glühenden Hörnern und trafen die Katze mitten ins Herz. Sofort verglühte die Bestie in einem Funkenregen und löste sich auf. Einige Momente später erinnerten nur noch ein paar Lichtpunkte, die wie verirrte Glühwürmchen umher flogen, an das Untier. Dann erloschen auch sie.

      „Was war das?“, fragte Morgenröte atemlos.

      Die beiden Fohlen drängten sich verstört an ihre Mutter und sahen ihren Vater aus ängstlichen Augen an.

      „Ich weiß es nicht“, antwortete Silberstreif. „Aber es war nicht das, wonach es aussah. Kein Raubtier hätte es gewagt, ein Einhorn anzugreifen. Außerdem hätte es sich durch die Strahlen nicht aufgelöst. Es muss ein Zauberwesen gewesen sein!“.

      „Ein Zauberwesen?“, fragte Morgenröte ungläubig. „Aber wer erschafft ein solches Untier und zu welchem Zweck?“

      „Ich weiß es nicht“, antwortete Silberstreif. „Aber hier sind wir nicht länger sicher. Wir sollten sofort aufbrechen!“

      Morgenröte war derselben Ansicht. Sie ließ ihre Fohlen ein letztes Mal auf der Lichtung trinken und sagte dann: „Kommt Kinder, wir müssen gehen.“ Die beiden folgten ihrer Mutter brav in den Wald hinein, wo Silberstreif sie bereits erwartete.

      Ohne den Blick von den Bäumen abzuwenden sprach er: „Wir müssen zum 'Palast des Lichts'. Die anderen Einhörner müssen gewarnt werden. Ich weiß nicht, was dieser Angriff zu bedeuten hat – ich befürchte aber nichts Gutes.“

      Simnil

      Allein hätte Silberstreif vielleicht einen Tag gebraucht, um den Palast zu erreichen. Denn nichts kann mit einem galoppierenden Einhorn mithalten, nicht einmal die schnellsten Vögel. Aber Silberstreif war nicht allein. Seine Gefährtin musste sich noch sehr schonen und die Zwillinge brauchten häufig eine Pause. Außerdem waren sie noch zu verspielt, was das Fortkommen zusätzlich verlangsamte. Er schätzte, dass es eine Woche dauern würde, bis sie ihr Ziel erreicht hatten.

      Die Familie lief schweigend durch den Wald. Die Eltern, weil sie angespannt auf jedes Geräusch achteten, die Kinder, weil sie noch nicht sprechen konnten. Sie würden mit dem Horn auch ihre Sprache erhalten. Dieses war immer der erste Zauber. War das Horn erst einmal da, konnten die kleinen Fohlen sprechen, als hätten sie nie etwas anderes getan.

      Der Wald war so dicht, das man den Himmel nicht sehen konnte. Trotzdem war es hell und luftig und das Vorankommen bereitete keine Schwierigkeiten. Alles schien so wie immer zu sein. Und doch war es irgendwie anders in den Wäldern Enophasias. Morgenröte brach als erste das Schweigen. „Etwas ist anders als sonst. Aber ich weiß nicht was es ist. Die Vögel singen wie immer, aber leiser. Oder aber es erscheint weiter weg als sonst.“ „Du hast Recht, Liebes“, antwortete Silberstreif. „Ich höre die Vögel, aber ich sehe keine – als ob sie sich verstecken. Aber vor was haben sie Angst?“

      Lautlos, die Sinne bis zum Zerreißen angespannt, trabten die Eltern durch den Wald, immer darauf bedacht, die Fohlen schützend in ihrer Mitte zu halten. Ab und zu knackte ein Zweig unter ihren kleinen Hufen, was von Silberstreif jedes Mal mit einem unwilligen Blick bedacht wurde. Aber er wusste, dass die Kleinen ihr Bestes gaben. Bei ihnen wirkte die Magie noch nicht. Die erwachsenen Einhörner aber waren eins mit der Natur. Sie hätten in vollem Galopp den Wald durchqueren können, ohne auch nur das leiseste Geräusch zu verursachen.

      Nach einer Weile nahmen die Fehltritte