Gabriele Beyerlein

In Berlin vielleicht


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meinte Lene. „Und da du ja schon so groß bist, könntest du schnell mit aufräumen, ich muss nämlich die Hilde ins Bett bringen! Und du weißt ja, wenn dein Vater zum Essen kommt, muss alles in Ordnung sein.“

      Hans verzog das Gesicht, doch er legte das Buch aus der Hand und half seinen kleinen Brüdern, die Spielsachen einzusortieren. Der Hinweis auf den Vater half immer. Lene nahm Hilde auf den Arm — „Mach noch einmal winke, winke!“ — und stieg mit ihr die schmale Stiege hinauf, legte sie im Schlafzimmer des Lehrerehepaars in die Wiege und setzte sich daneben auf den Boden. Hilde begann ein Protestgeschrei, das sich jedoch bald legte, als Lene ein Lied zu singen und die Wiege zu schaukeln begann. „Auf dem Berge, da wehet der Wind, da wiegt die Maria ihr Kind ..."

      Der Kleinen fielen die Augen zu. Ganz weich und gelöst wurde ihr Gesichtchen. Sacht streichelte Lene ihr über die Wange. Wie zart die Haut war! Lene beugte sich über die Wiege und drückte ihre Lippen auf die Stirn des Babys. Es duftete nach Seife und nach Milch und nach Baby eben. Und es machte, dass es auch in Lene weich und gelöst wurde und ein bisschen feierlich, fast wie zu Weihnachten in der Kirche.

      Eines Tages, irgendwann, würde sie selbst auch ein Baby haben ...

      Lene lächelte.

      Ihr Baby sollte es so gut haben wie die Hilde. Wie Hilde sollte es eine richtige Wiege in einem richtigen Zimmer haben und süßen Brei und frische Windeln bekommen und jeden Tag gebadet und im Kinderwagen spazieren gefahren werden oder unter den Apfelbaum gestellt, damit es die Blätter und die Vögel beobachten konnte. Aber ein Kindermädchen brauchte ihr Baby nicht, es hatte ja sie. Und es sollte überhaupt keinen anderen lieb haben als sie. Außer den Vater natürlich, den es dann ja auch geben musste, irgendwie, denn fehlen sollte es dem Kind an nichts, an gar nichts. Vielleicht konnte sie ja einen finden, der groß und schlank war und eine hohe Stirn hatte und schmale Hände und der ein Lehrer war ...

      Lene lehnte ihren Kopf an die Wand und schloss die Augen. Wie im Nebel verschwammen ihre Gedanken, wohlig lullte der Rhythmus des Wiegens sie selber ein. Sie glitt in das Reich zwischen Wachen und Schlafen, eine schwere Wärme breitete sich in ihren Gliedern aus. Nicht einschlafen!, sagte sie sich noch, dann sank ihr das Kinn auf die Brust.

      „Lene! Ich soll dich holen!“ Beate stand plötzlich in der Tür und betrachtete sie grinsend. „Du hast geschlafen!“

      „Hab ich nicht!“, widersprach Lene.

      „Hast du doch! Hast du doch!“ Die Worte skandierend hüpfte Beate auf einem Bein die Treppe hinab.

      „Sag das noch mal, und ich sag, wer dran schuld ist, dass ich so müde bin! Wer mich nachts immer weckt und in mein Bett gekrochen kommt!“, drohte Lene.

      Beate blieb stehen und drehte sich um. Groß und dunkel waren auf einmal ihre Augen. „Tust du nicht!“, bat sie.

      Lene lachte. „Nein, tu ich nicht!“

      Nach dem gemeinsamen Abendessen half Lene der Frau Lehrer beim Abwasch. Ganz schnell machten sie beide, denn jetzt kam gleich der beste Teil des Tages.

      Wie jeden Abend trug der Herr Lehrer den Lehnstuhl ins Schulzimmer neben das Klavier und rückte eine Schulbank dazu. Jeder nahm seinen Platz ein. Die Frau Lehrer im Lehnstuhl. Willi auf ihrem Schoß. Gottfried, der Nächstältere, zu ihren Füßen auf einem Schemel. Lene zwischen Hans und Beate auf der Schulbank. Der Herr Lehrer am Klavier. Einen Augenblick hielt er die Hände schwebend über den Tasten, dann begann er zu spielen. Eine Melodie tauchte auf und verschwand wieder, versteckte sich zwischen den Tönen, klang an, fremd und doch vertraut, ein Vexierspiel. „Kein schöner Land“, flüsterte Beate Lene ins Ohr. Lene nickte und atmete tief: eines ihrer Lieblingslieder.

      Der Herr Lehrer beendete seine Improvisation. Kräftig schlug er nun die Tasten des Chorsatzes. „Kein schöner Land in dieser Zeit als hier das unsre weit und breit ...“, tönte es vielstimmig. Lene sang mit den Kindern die Melodie, die Frau Lehrer den Alt, der Herr Lehrer den Bass. Und so folgte Strophe auf Strophe, Lied auf Lied, bis hin zum letzten, dem, das immer den Abschluss bildete: „Der Mond ist aufgegangen, die güldnen Sternlein prangen ...“ Beate schmiegte sich an Lene, sie legte den Arm um die Schultern des Mädchens. Da drückte sich von der anderen Seite auch Hans an sie.

      So könnte es bleiben, immer und ewig, dachte Lene.

      Die Frau Lehrer sprach das Abendgebet. „Und jetzt gute Nacht, Kinder!“, sagte sie.

      „Ach, bitte, Papa, spiel doch noch was!“, bettelte Beate.

      „Ja, bitte, die Mondscheinsonate!“, stimmte Lene ein.

      Er lächelte. „Nun gut, den ersten Satz! Aber danach ist Schluss."

      Er schloss die Augen, saß eine Weile ganz still da. Dann begann er. Und aus dem Klavier stiegen Töne auf, so wunderbar wie Elfen, die im Mondschein ihren Reigen tanzen. Ein ganzes Feenreich schwebte durch das Zimmer und raunte von den Wundern der Natur und den Geheimnissen der Nacht.

      Ein Gefühl war in Lene, als wäre das alles zu groß für ihr Herz. Beate im Arm, beobachtete sie den Herrn Lehrer. Er spielte mit geschlossenen Augen und ein Ausdruck war in seinem Gesicht, dass man gar nicht glauben konnte, dass das derselbe Mann war, der am Tag mit einem Blick eine ganze Horde Schulkinder zum Schweigen bringen konnte. Traurigkeit war darin und Sanftheit, Wehmut und Frieden und — Lene wagte kaum, das Wort zu denken — ja: Liebe.

      Sie wünschte, sie könnte zu ihm hingehen und ihm die Hand auf die Schulter legen und sich an ihn lehnen. Und so stehen, ganz nah bei ihm, während er musizierte. Nur einmal, nur dies eine Mal ...

      Dann war die Musik vorüber und der Augenblick. Lene scheuchte die Kinder die Treppe hinauf, half ihnen beim Ausziehen, streifte ihnen die Nachthemden über den Kopf, wachte über Händewaschen und Zähneputzen, goss das gebrauchte Wasser aus der Waschschüssel in den Schmutzeimer und wischte die Schüssel aus, schüttelte die Betten auf, deckte ein Kind nach dem anderen zu. Aber ein Teil von ihr war noch immer unten im Schulzimmer, am Klavier.

      Beate schlang ihre Arme um Lenes Hals. „Wenn ich doch wieder so schlecht träume?“, flüsterte sie.

      „Dann kommst du in mein Bett!“, flüsterte Lene zurück.

      Als sie in die Stube hinunterkam, saß die Frau Lehrer an der Nähmaschine und nähte Flicken auf die zerrissenen Hosen von Hans, während der Herr Lehrer im wieder zurückgetragenen Lehnstuhl die „Vossische Zeitung“ las.

      „Du musst noch einmal Wasser holen, Lene!“, sagte die Frau Lehrer. „Die Eimer sind schon wieder alle leer. Und dann trenn das Kleid deiner Mutter auf! Ich habe Schnittmuster für dein Konfirmationskleid herausgesucht. Da, schau mal die offene Seite im Journal an, ich glaube, das ließe sich aus dem Stoff arbeiten!“

      Lene betrachtete das Bild. Wunderschön war es, das Kleid, mit Falbeln und Biesen und gepufften Ärmeln und einem Stehkrägelchen mit Rüschen. „Meinen Sie wirklich?“, fragte sie ungläubig. „Ist das nicht — ich weiß nicht, es sieht schwierig aus. Ob ich das nähen kann?“

      Die Frau Lehrer lachte. „Ach Lene! Ich helfe dir doch dabei! Und wir beide, wir werden das ja wohl hinkriegen.“

      „Ja, wir beide!“ Lene nickte. „Ich danke Ihnen auch schön, Frau Lehrer!“ Sie holte die Wassereimer aus der Küche und trat in den dunklen Abend hinaus.

      Wie gut ich es doch habe, dachte Lene auf dem Weg zum Brunnen. So ein Zuhause zu haben!

      Es ist ganz gleich, ob meine Mutter zur Prüfung und zur Einsegnung kommt oder nicht. Sollen die Leute doch denken, was sie wollen! Die Frau Lehrer ist dabei und der Herr Lehrer, und er spielt die Orgel. Und wenn er sie auch für alle spielt, so doch für mich ganz besonders. Und keiner von den andern weiß, wie sein Gesicht aussieht, wenn er die Mondscheinsonate spielt!

      KAPITEL 2

      Lene kleckste etwas Schmierseife auf den Fußboden, streute Sand darüber, tauchte die Wurzelbürste in den Zinkeimer mit heißem Wasser und scheuerte weiter. Vor, zurück, vor,