Gabriele Beyerlein

In Berlin vielleicht


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zugleich. „Mutter, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, das ist doch deins, danke!“, stammelte sie und legte sich das Kettchen um. „Dass du mir das schenkst ...“

      „Wirst noch den Zug verpassen!“, sagte die Mutter schroff. „Bleib gesund, Lene!“

      „Du auch, Mutter, bleib du auch gesund!“

      Keine Antwort, nur das Spritzen der Milch.

      „Na dann, ade, Mutter!“

      „Ade, Lene!“

      Ein letztes vergebliches Warten, dann wandte Lene sich zur Tür. Da rief die Mutter hinter ihr her: „Und pass bloß auf, dass es dir nicht geht wie mir! Dass du dir ja kein Kind anhängen lässt, dann ist dein ganzes Leben versaut!“

      Blindlings stolperte Lene aus dem Stall. Sie sah kaum, wohin sie trat.

      Wenig später saß sie eingepfercht zwischen zwei Handwerksburschen auf der hölzernen Bank im Zug, umklammerte mit der einen Hand ihre Trage, mit der anderen das kleine silberne Kreuz an ihrem Hals und hörte die Lokomotive pfeifen. Der Zug ratterte laut. Ihr Herz schien ihr noch lauter zu schlagen.

      Schließlich zwang sie sich, zum Fenster hinauszublicken. Da sah sie die Wiesen vorbeiziehen, auf denen sie Gänse gehütet hatte. In der Ferne das Dorf: den Kirchturm, das Dach des Schulhauses.

      „Nie wieder!“, flüsterte Lene. „Nie wieder!“

      KAPITEL 3

      „Na, Fräulein, sind Sie hier festgewachsen, oder was?“

      Lene wurde geschoben, geschubst, gegen das schmiedeeiserne Geländer gedrängt, das den Abgang aus der hohen Halle umgrenzte, und landete schließlich fast ohne ihr Zutun auf der großen Treppe, die vom Bahnsteig nach unten führte. Die Menschenmenge riss sie einfach mit, Männer, Frauen und Kinder, Bäuerinnen mit Körben voller Zwiebeln und Kohl, Mägde mit aufgeregt in Käfigen gackernden Hühnern, Gepäckträger mit riesigen Koffern auf den Schultern, vornehme Damen in Samtjäckchen und Cape, den hinten zum Cul de Paris drapierten Rock zierlich mit einer Hand raffend, Herren im Gehrock und Zylinder, Männer in schmutzig blauer Arbeitskleidung, verwegen die Mütze in die Stirn gedrückt, prächtige Offiziere und einfache Soldaten, zerlumpte Jungen und solche im feinen Matrosenanzug, kleine Mädchen an der Hand junger Frauen in Tracht mit weißem Schultertuch und Flügelhaube: ein unübersehbares Gewühl, ein Reden und Lachen, Rufen und Fluchen. Oben auf dem Gleis pfiff der Zug. Eine dichte Rauchwolke zog durch die Bahnhofshalle und hüllte sie alle ein.

      Am Fuß der Treppe blieb Lene stehen, an die Wand gedrückt. Als der Rauch verzogen war, hatte sich auch das Gedränge gelichtet. Krampfhaft hielt sie den Zettel mit der Annonce umklammert und sah ratlos nach rechts und nach links. Zwei Ausgänge — welchen sollte sie nehmen? Sie hielt Ausschau nach jemandem, den sie fragen konnte: die alte Frau dort mit ihren kümmerlichen Blumensträußen vielleicht oder den Jungen, der aus seinem Bauchladen Zigarren anbot? Unschlüssig ging sie nach links und trat ins Freie, wich sofort wieder zurück: Eine riesige Kutsche ratterte vorbei. Zwei Pferde zogen das übergroße Gefährt, zahllose Gesichter hinter den Fenstern, und selbst oben auf dem Dach noch Bänke voller Leute. Das musste ein Pferdeomnibus sein, Lene erinnerte sich jetzt, dass der Herr Lehrer davon erzählt hatte. Gefolgt wurde er von einem mit Säcken hoch beladenen Fuhrwerk und einem kümmerlichen Kohlekarren, den ein magerer Hund und ein schmächtiger Junge gemeinschaftlich zogen, einer so erschöpft wie der andere. Vornehme Kutschen begegneten den Fahrzeugen und ein offener Zweispänner, Fußgänger quetschten sich durch den Verkehr, liefen todesmutig über die Straße. Lene schwirrte der Kopf. Und da — sie konnte es kaum glauben: Ein seltsames Ungetüm fuhr die Straße entlang, eine Kutsche ohne Pferde, angetrieben von einer monströsen, puffenden und knatternden Dampfmaschine.

      Lene floh zurück, suchte den zweiten Ausgang, fand sich zwischen wartenden Pferdedroschken und zwei Schutzleuten mit Pickelhauben, die ernsten Gesichtes die Kutscher befragten, während ein Wachtmeister auf hohem Ross thronend die Szene beobachtete. Da konnte sie doch nicht ...

      Wieder in die Halle. Vielleicht doch die alte Frau fragen, die ihre Blumensträuße zum Verkauf anbot? Doch die Alte war verschwunden.

      „Neu hier, was, Fräuleinchen?“, wurde sie von einer freundlichen Frauenstimme in ihrem Rücken angesprochen. Erleichtert drehte Lene sich um. Endlich jemand, der ihr helfen würde!

      Eine ältere, dicke Dame in Rot und Schwarz stand da und lächelte ihr aus geschminktem Gesicht breit zu. Lene starrte. Was für ein Hut! Ein halber Garten aus künstlichen Blumen und Straußenfedern fand darauf Platz, und um den Hals der Dame wogte und wehte eine Federboa. „Weißt wohl nicht wohin, Fräuleinchen, was?“, fragte die Dame.

      „Ich, nein, das heißt, doch!“, stammelte Lene und hielt der Dame den Zettel hin. „Linkstraße. Können Sie mir sagen, wie ich da hinfinde?“

      Die Dame warf einen kurzen Blick auf die Anzeige und schlug die Hände mit allen Zeichen des Entsetzens zusammen. „Du willst dich doch nicht in die Fänge so eines Vermittlungsbüros begeben?! Fräuleinchen, man merkt, dass du noch nie in Berlin warst!“ Die Dame musterte Lene von oben bis unten. „Du suchst wohl deine erste Stellung, was?“

      „Ja. Das heißt: nein!“, erwiderte Lene. „Ich war schon in Stellung, fast fünf Jahre bei unserem Herrn Lehrer daheim. Aber jetzt such ich mir was in Berlin. Und bitte, wenn Sie so freundlich wären, wenn Sie mir sagen würden, was ist denn so schlimm an einem Vermittlungsbüro?“

      „Die ziehn dir nur das Geld aus der Tasche, da bist du fünf Mark los, so schnell kannst du gar nicht schaun, und dann ist nichts mit Stellung, und dann ist Nacht und du stehst auf der Straße und weißt nicht wohin. Aber nun schau mal nicht so unglücklich, Fräuleinchen. Wie heißt du denn überhaupt?“

      „Lene, gnädige Frau!“ Lene machte einen Knicks.

      „So, Lene. Ich will dir mal was sagen, am besten kommst du erst mal mit zu mir. Wir finden schon was für dich. Aber wir müssen dir erst ein bisschen den Großstadtpep beibringen und dich zurechtmachen; ich will ja nichts sagen, aber das Dorf sieht man dir schon von weitem an. Komm nur mit, ein paar Stationen mit dem Pferdeomnibus, und schon sind wir da!“

      „Ja aber, ich kann doch nicht so einfach, das ist doch zu gütig ...“, murmelte Lene unsicher. Irgendetwas war ihr nicht ganz geheuer. Die Dame schien ihr allzu hilfsbereit. Oder war das hier so in der Stadt?

      Die Dame lachte und fasste sie am Arm. „Jetzt zier dich mal nicht, bist hier in Berlin und nicht mehr auf dem Dorf. Wart nur ...“ Unter unaufhörlichem Geplauder lotste die Dame sie durch die Bahnhofshalle auf den Ausgang zu, indem sie Lenes Oberarm fest umklammert hielt. Nur noch zwei, drei Schritte waren sie von der Tür entfernt, als diese sich öffnete und zwei Wachtmeister in blauer Uniform und Pickelhaube hereinkamen.

      Die Dame ließ Lenes Arm los. Und auf einmal war sie weg.

      Verblüfft drehte Lene sich um, blickte nach allen Seiten, sah eben noch, wie die Dame in fliegender Hast um die Ecke bog. Ihre Federboa wehte hinter ihr her.

      Erst war eine seltsame Leere in Lenes Kopf, dann begann es darin zu wirbeln. Die aufdringliche Freundlichkeit — das Angebot, sie mit nach Hause zu nehmen — der feste Griff am Arm — die Wachtmeister — das fluchtartige Verschwinden ...

      Ihr Herz schlug schnell und dumpf.

      Was hatte diese Dame mit ihr vorgehabt? Und war sie überhaupt eine Dame? War sie nicht allzu grell geschminkt gewesen? Der Satz des Herrn Lehrer: Willst du in der Gosse enden?

      Auf einmal erschien ihr Berlin wie ein bodenloser Morast. Wäre sie nie hierhergekommen!

      Lene rannte hinter den Schutzleuten her. „Ach bitte, Verzeihung ...“

      Die Wachtmeister drehten sich nach ihr um. „Ja?“ Wie streng und kurz angebunden das kam! Auf einmal fand sie keine Worte, stand nur da, den Zettel noch immer in der Hand, und schwieg.

      Der ältere der beiden nahm ihr den Zettel aus der Hand und las