Gabriele Beyerlein

In Berlin vielleicht


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zu als ein Bett, und das nicht einmal für dich allein. Zehn Leute in einer Kammer, Männer, Frauen und Kinder durcheinander, einer steigt über den anderen drüber, und die restliche Zeit würdest du auf der Straße herumhängen und in Kneipen. Die Arbeiter saufen sich in den Destillen die Seele aus dem Leib, und so ein junges, frisches Mädchen wie du — ich kann jetzt hier nicht deutlicher werden vor den Kindern, aber dafür habe ich dich nicht erzogen! Auch wenn ich dir nichts mehr zu befehlen habe, weil ich nicht mehr dein Lehrer bin und nicht mehr deine Herrschaft, ein wahres menschliches Interesse habe ich doch an dir und ich will nicht tatenlos dabei zusehen, wie du vor die Hunde gehst! Also schlag dir gefälligst das mit der Fabrik aus dem Kopf!“

      Lenes Finger krampften sich um den Becher mit warmer Milch, dass die Knöchel weiß hervortraten. Sie konnte auf einmal nichts mehr denken, schaute nur auf die Haut, die sich auf der Milch gebildet hatte.

      „Wir meinen es ja nur gut mit dir, Lene!“, beteuerte die Frau Lehrer. „Du träumst dir immer was zurecht, aber die Wirklichkeit, die sieht anders aus. Wenn du dich nicht beim Lenz-Bauern verdingen willst — es stimmt schon, zur Magd bist du mir eigentlich zu schade. Du hast so eine rasche Auffassungsgabe und musikalisch bist du auch noch. Eine wie du wäre zur Lehrerin begabt, aber das ist ja nun leider nicht möglich, dazu fehlt dir nun mal der familiäre Hintergrund, und wir können die Welt nicht ändern. Aber ich könnte mir dich gut in einer besseren Familie als Dienstmädchen vorstellen. Ich habe gehört, das Hausmädchen von der Frau Pastor wird heiraten. Wenn du willst, rede ich mit der Frau Pastor und empfehle dich. Das kann ich reinen Gewissens tun und dann wissen wir, dass du in guten Händen bist. Und jetzt hol noch mal Brot herein, drei Scheiben!“

      Lene Schindacker!, hörte Lene die Stimme des Herrn Pastor. Das sechste Gebot! Wir warten!

      Nie und nimmer würde sie in dessen Haus gehen. Das war ja noch schlimmer als die Grete Lenz ...

      „Ich hab mir nun mal vorgenommen, ich geh nach Berlin!“, erklärte sie und wunderte sich selbst darüber, wie laut und bestimmt ihre Stimme klang. „Und geschworen hab ich mir, das Dorf hier sieht mich nicht wieder! Weil ich eben bei Ihnen nicht bleiben kann, weil Sie mich nicht mehr ...“ Hastig stürzte sie in die Küche. Dort lehnte sie sich an die Wand und weinte in ihre Schürze.

      Als Lene mit dem Brotkorb in der Hand wieder das Zimmer betrat, sagte die Frau Lehrer: „Dann geh eben als Dienstmädchen nach Berlin! Aber zu anständigen Leuten, mit Familienanschluss! Da hast du eine Unterkunft, freie Kost und Logis, bist den Gefahren der Großstadt nicht schutzlos ausgesetzt und lernst noch etwas in der Haushaltsführung dazu.“

      „Keine schlechte Idee!“, meinte der Herr Lehrer und strich sich den Bart. „So kann es gehen, da kommst du nicht unter die Räder. Ja, Lene, das machst du! Berlin — unsere Reichshauptstadt! Die Museen, die Bibliotheken, die Oper, die Theater! Und nicht zu vergessen: Seine Majestät! Ach, was gäbe ich drum ... „

      Heute hatte sie keinen Blick für das Schloss. Barfuß lief Lene die Allee entlang, fast rannte sie. Schon vor Morgengrauen war sie aufgestanden, damit sie noch von der Mutter Abschied nehmen und von da aus zur Bahnstation wandern konnte, ehe sie den Zug nach Berlin nahm, aber nun war sie doch spät dran. Der Frau Lehrer war immer noch etwas und noch etwas eingefallen, was sie ihr an Ermahnungen und Ratschlägen mit auf den Weg geben wollte, die Kinder hatten sich an sie gehängt, Beate hatte sogar geheult, und das war schlimm, weil es Lene beinahe auch die Tränen in die Augen getrieben hatte und sie sich doch so fest vorgenommen hatte, nicht zu weinen. Schon gar nicht beim Abschied vom Herrn Lehrer.

      Er hatte ihr lange die Hand auf die Schulter gelegt und lauter Sachen gesagt, die sie sich nicht gemerkt hatte, weil sie überhaupt nichts gehört hatte, nur die Hand hatte sie gefühlt und sein Gesicht gesehen, das ernst und doch so weich aussah, als würde er die Mondscheinsonate spielen. Dann hatte er ihr erklärt, sie dürfe sich als Abschiedsgeschenk ein Buch aus dem mittleren Fach von seinem Schrank aussuchen, und sie hatte sich lange nicht entscheiden können. Es war so gut gewesen, ganz nah neben ihm vor seinem Schrank zu stehen und die Bücher in die Hand zu nehmen, die er liebte, gewünscht hatte sie, der Augenblick würde nie zu Ende gehen. Erst als er sie gedrängt hatte, sich endlich zu entscheiden, hatte sie schließlich den Gedichtband genommen. Weil dies das Buch war, mit dem sie ihn am öftesten gesehen hatte, es roch sogar nach seinem Pfeifentabak. Und weil es das Buch war, das er am meisten vermissen würde — dann würde er wenigstens immer an sie denken.

      Lene schniefte kurz. Mehr erlaubte sie sich nicht.

      Das Buch lag mit ihren anderen Reichtümern in der Rückentrage, mit dem Konfirmationskleid und der Unterwäsche und der guten Schürze und mit dem Gesangbuch, das sie von ihrer Patin, der Altbäuerin, bekommen hatte und in das die Patin Lenes Konfirmationsspruch hineingeschrieben hatte: „Befiehl dem Herrn deine Wege, er wird's wohl machen.“ Die Schuhe, die kostbaren neuen Schuhe, die sie von der Mutter zur Konfirmation geschenkt bekommen hatte und die viel zu schade waren, um auf den steinigen Straßen abgelaufen zu werden, hingen mit den Schnürsenkeln unten an die Trage geknotet und baumelten bei jedem Schritt.

      Mit der Post hatte die Mutter die Schuhe geschickt. Eine Woche vor der Konfirmation war das Paket im Schulhaus angekommen und Lene war fast das Herz stehen geblieben vor Überraschung, denn so ein Paar Lederstiefeletten war teuer, der Lohn von Monaten musste dafür draufgegangen sein. Und sieben Taler hatte die Mutter auch dazugetan — sieben Taler, das waren ganze einundzwanzig Mark, mit denen konnte sie auf jeden Fall die Fahrkarte nach Berlin bezahlen und zur Not auch eine Unterkunft für ein paar Tage, bis sie eine Anstellung fand.

      Dafür war die Mutter zur Konfirmation nicht im Dorf erschienen. Das war Lene gleich, ganz und gar gleich. Es war sogar gut, denn so hatte nicht wieder so etwas passieren können wie bei der Prüfung ...

      Lene erreichte die Wirtschaftsgebäude. An der Stalltür zögerte sie kurz. Die ganze Nacht hatte sie nicht schlafen können und hatte sich so vieles zurechtgelegt. Am längsten hatte sie darüber nachgedacht, was sie dem Herrn Lehrer sagen sollte, aber dann hatte sie nur stumm dagestanden und zu allem genickt, was er ihr gesagt hatte, obwohl sie es irgendwie gar nicht gehört hatte, und nichts geantwortet als: „Und vielen Dank auch!“ Was sie der Mutter zum Abschied sagen würde, hatte sie sich auch überlegt, aber nun war auch das auf einmal alles weg.

      Sie blieb in der offenen Tür stehen. Die Mutter saß auf dem Melkschemel neben einer Kuh und zog gleichmäßig an den Zitzen. Prall schoss der Milchstrahl in den Eimer.

      „Ja, Mutter“, sagte Lene, „ich geh dann. Nach Berlin. Als Dienstmädchen. Die Frau Lehrer hat eine Anzeige aus der Zeitung geschnitten. Von einer Stellenvermittlung. Da soll ich hin, hat sie gesagt, und mir eine anständige Herrschaft aussuchen, eine mit Ordnung und Moral.“

      Die Mutter sah kurz auf, ohne das Melken zu unterbrechen. „So. Gehst du also wirklich. Nach Berlin, sagst du? Du glaubst wohl, du bist zu Höherem berufen? Na, was willst du auch daheim!“

      Lene wusste keine Antwort.

      „Dass du auch was sparst!“, forderte die Mutter. „Auf ein Sparbuch, hörst du? Und halt dich brav und lass dir nichts vormachen!“

      Lene nickte. „Die Frau Lehrer hat gesagt, ich soll nicht in einen Haushalt, wo Söhne, ich mein, junge Herren ...“ Sie brach ab.

      Die Mutter lachte verächtlich auf „Die Frau Lehrer! Die kennt das Leben, was! Söhne! Als ob es nicht auch verheiratete Gockel gäbe, die hinter jeder Henne her sind!“

      Lene stieg das Blut in den Kopf Der Siewer-Bauer — unausgesprochen und doch zum Greifen nah hing der Name ihres Nicht-Vaters in der stickigen Stallluft.

      Der Milchstrahl klang im Eimer, Fliegen summten, die Kühe malmten das Heu. Eine Kuh rasselte an der Kette. Eine muhte. Das Schweigen wurde lang.

      „Ach, Mutter!“ Lene stockte, ging ein paar Schritte näher, ohne auf den Mist zu achten. „Ach, Mutter ...“ Ihre Stimme schwankte.

      Die Mutter stand auf, griff sich an den Hals und löste ihr Kettchen mit dem silbernen Kreuz, das kleine Kreuz, ohne das Lene ihre Mutter niemals gesehen hatte. „Da! Bind's dir um! Und dass du's nicht verlierst!“ Dann nahm sie Eimer und Schemel, gab der nächsten