Gabriele Beyerlein

In Berlin vielleicht


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nannte. Die Frau Lehrer hatte immer davon gesprochen, wie sehr sie sich so eine Küche wünschen würde — aber so schön hatte Lene sich eine solche Küche nicht vorgestellt! Ein großer, heller Raum mit zwei Fenstern zum Hinterhof und weiß gestrichenen Wänden. Steinfliesen am Boden, ein Tisch in der Mitte, ein weiß und blau lackiertes Buffet, Wandborde mit Kupfertöpfen und -pfannen, mit in blauen Blumenmustern bemalten Steingutkrügen und -schüsseln, mit Schneidebrettern und Tellern aus Porzellan, halbhohe Kommoden und Schränkchen, auf denen eine Küchenwaage mit Marmorplatte, ein Bolzenbügeleisen und eine Ansammlung von Haushaltsgegenständen, die Lene nicht einmal kannte, ihren Platz hatten, und da die berühmte Kochmaschine, der Traum der Frau Lehrer: Wie ein rechteckiger Ofen sah sie aus, weiß emailliert die Wände, aus Messing die wie Löwentatzen geformten Füße, silbrig glänzend die Griffe, tiefschwarz die Herdplatte.

      „Da oben auf dem Hängeboden ist dein Schlafplatz“, erklärte die gnädige Frau und wies auf ein Brett, das unter der Decke über dem Herd eingezogen war. „Da kannst du auch dein Gepäck verstauen und dich umziehen! Dort hinter dem Vorhang ist die Leiter! Mach schnell, ich muss an den Herd!“ Damit eilte die gnädige Frau aus der Küche.

      Lene wollte gleich dem Befehl gehorchen, da entdeckte sie den emaillierten Ausguss an der Wand und darüber den blitzenden Hahn. Sie stockte mitten in der Bewegung. Sollte es hier tatsächlich fließendes Wasser geben? Sie hatte davon gehört — auch darüber hatte die Frau Lehrer gesprochen —, aber dergleichen noch niemals gesehen. Vorsichtig drehte sie an dem Hahn. Sofort kam Wasser heraus, spritzte in den Ausguss und verschwand wieder durch ein Loch. Lene strahlte. Sie schloss den Hahn und öffnete ihn wieder, versuchte es noch einmal und noch einmal. Was für ein unerhörter Luxus! Nie wieder würde sie frisches Wasser vom Brunnen herein- und Schmutzwasser hinausschleppen müssen! Was das Zeit und Kraft sparte! Unzählige Male jeden Tag war sie daheim mit dem Wassereimer hin- und hergegangen. Hier würde die Arbeit nicht so schwer sein wie bei der Frau Lehrer. Vielleicht hatte sie es ja doch gut getroffen.

      Sie beugte sich unter den Wasserhahn und ließ sich den kühlen Strahl in den Mund laufen, trank ausgiebig. Dann wischte sie sich mit dem Handrücken das Gesicht ab und holte die Leiter hervor. „Reinlichkeit das Herz erfreut“ war mit Rosenmuster umrankt auf den Vorhang gestickt. Lene grinste. Dass es bei der Frau Polizeihauptmann nicht besonders reinlich war, hatte sie gleich gemerkt. Bei der Frau Lehrer jedenfalls hatte nie so viel Staub auf den Möbeln gelegen, wie es in dem Zimmer nebenan der Fall war.

      Sie legte die Leiter an den Hängeboden und stieg hinauf. Vergebens versuchte sie hineinzukriechen, die Rückentrage war im Weg. Auf der Leiter balancierend nahm sie die Trage ab und schob sie vor sich auf das Brett, beinahe hätte sie das Gleichgewicht verloren. Endlich gelang es ihr, auf allen vieren in den Verschlag zu kriechen. Er war kaum höher als ein Meter, im Sitzen stieß sie sich beinahe den Kopf. Eine Matratze mit Kissen und Decke lag darin, sonst nichts. Aber schön warm war es hier oben. Mühsam schälte Lene sich aus dem nassen Kleid, dauernd eckte sie an Decke oder Wand an. Es dauerte lang, bis sie sich in ihr Konfirmationskleid gezwängt hatte. Eigentlich war es eine Schande, dieses kostbare Kleid zur Arbeit anzuziehen, aber sie hatte nichts anderes. Sie nahm noch eine blaue Schürze aus der Trage, breitete das nasse graue Kleid zum Trocknen aus und kletterte wieder nach unten. Als sie sich eben die Schürze umband, kam die gnädige Frau zurück.

      „Hast du keine weiße Schürze?“

      „Nein, gnädige Frau!“

      „Das darf doch wohl nicht wahr sein! Du musst dir morgen zwei große weiße Schürzen und zwei kleine zum Servieren kaufen und auch gleich zwei weiße Häubchen, die wirst du dann ja wohl auch nicht haben! Ich borge dir das Geld, wenn du es nicht hast, und behalte es dann von deinem Lohn ein. Das Kleid ist immerhin ganz passabel, wenigstens schwarz! Das graue kannst du zur Hausarbeit tragen, aber wenn der gnädige Herr zu Hause ist und du bedienen musst, immer das schwarze! So, und jetzt geh ins Berliner Zimmer!“

      „Berliner Zimmer?“, fragte Lene verständnislos.

      „Du weißt ja nicht einmal die einfachsten Sachen! So ein Durchgangszimmer wie nebenan, das den repräsentativen Teil der Wohnung mit den Räumen zum Hof hin verbindet, nennt man Berliner Zimmer! Unter der Woche halten wir uns die meiste Zeit darin auf. Meinst du, ich lasse die Kinder im Salon spielen? Also räum die Spielsachen auf und mach schnell noch etwas sauber, es muss dringend Staub gewischt werden, die Staublappen sind hier in dem Körbchen. Dann deck den Tisch, die Tischdecke liegt in der untersten Kommodenschublade obenauf. Das Geschirr mit dem einfachen blauen Rand, Suppenteller und kleine Teller, nur für drei Kinder, ich bringe Olga schon ins Bett!“

      Die Jungen zeigten wenig Neigung, Lene beim Aufräumen zu unterstützen. Auf ihre Frage nach ihren Namen antworteten sie, als sei es eine Auszeichnung, dass sie sich überhaupt mit ihr abgaben: Karl der Älteste, Wilhelm, der ihr die Tür geöffnet hatte, der Mittlere, Frieder, der Jüngste, noch im kurzen Kleid. Unsicher, wohin die Dinge gehörten, schob Lene Spiel- und Malsachen auf einen Stapel und schichtete herumliegende Bausteine in den zugehörigen Kasten. Der kleine Frieder stimmte ein zorniges Gebrüll an, als sie der Burg zu Leibe rückte, die er mitten im Weg errichtet hatte.

      „Was machst du mit dem Kind?“, schrie die gnädige Frau aus der Küche.

      „Nichts! Ich räum nur die Bauklötze weg!“, erwiderte Lene und holte den Staublappen. Die Frau Lehrer hatte sie nie verdächtigt, den Kindern etwas anzutun, nur wenn einmal eines schrie.

      Wie einen dunklen harten Knoten spürte sie eine stumme Wut in sich. Beim Staubwischen tobte sie diese aus. Die Möbel waren lang nicht sauber gemacht worden, die graue Staubschicht war auf dem dunklen, glänzenden Holz deutlich sichtbar. Anscheinend war Lenes Vorgängerin schon länger gekündigt und die gnädige Frau war sich zu schade, selbst sauber zu machen. Wie vollgestellt alles war und wie viel Zeit das kostete! Kristallvasen und -schalen, Kerzenhalter und kleine Bronzefiguren, Aschenbecher und Porzellandosen, Uhren und Schreibutensilien, es nahm kein Ende. Und dann die vielen Verzierungen an den Möbeln, die gedrechselten Säulen und aufwändigen Schnitzereien, die kleinen Geländer und zahllosen Vorsprünge! Wie viel schneller war es gegangen, die glatten, einfachen Möbel der Frau Lehrer vom Staub zu befreien ...

      Lene holte die Tischdecke aus der Kommode und stand ratlos vor dem Geschirrschrank. Einfacher blauer Rand, Suppenteller, kleine Teller. Wo mochte das Besteck sein? Endlich fand sie, was sie suchte, deckte sechs Gedecke und warf noch einmal einen prüfenden Blick auf alles. Was für ein Glück, dass die Frau Lehrer ihr beigebracht hatte, wie man einen Tisch deckte, rechts die Messer, links die Gabeln, oben die Löffel!

      Die gnädige Frau kam herein, den Brotkorb in der Hand. „Warum hast du für sechs Personen gedeckt, kannst du nicht bis fünf zählen?“

      „Was, wieso, der gnädige Herr, die gnädige Frau, Karl, Wilhelm, Frieder und ich, das sind doch sechs?“

      Die gnädige Frau stieß ein kurzes Lachen aus. „Und du! Mein Gott, was bist du doch für eine Landpomeranze! Es mag ja sein, dass bei euch im Dorf das Gesinde mit der Herrschaft am Tisch sitzt, aber bei uns nicht! Dein Platz ist in der Küche! Du bedienst uns bei Tisch und kannst selber essen, wenn unsere Mahlzeit beendet ist, merk dir das! Und jetzt räum das sechste Gedeck wieder ab!“

      Lene lag zusammengekauert auf ihrer Matratze, das Kopfkissen wie eine Puppe im Arm. Ganz nass geweint war es schon. Bei Tag zu weinen hatte sie sich bereits als kleines Mädchen soweit als möglich abgewöhnt. Es hätte damals alles nur schlimmer gemacht, den Siewer-Bauern aufgebracht und die Mutter unwirsch gemacht. Die Zeit der Tränen war nachts.

      „Gib dich zufrieden und sei stille in dem Gotte deines Lebens ...“, sang Lene leise vor sich hin. Sie liebte dieses Lied schon seit langem. Im Schulunterricht hatten sie es gelernt, es hatte eine schwierige Melodie. Der Herr Lehrer hatte es auf dem Klavier begleitet und war schier verzweifelt, weil die meisten Kinder immer wieder falsch gesungen hatten. Aber abends, wenn sie es dreistimmig gesungen hatten — nur der Herr Lehrer und die Frau Lehrer und sie, weil die Kleinen es auch noch nicht konnten —, da hatte es wunderschön geklungen.

      „Wie dir's und andern oft ergehe, ist ihm wahrlich nicht verborgen; er sieht und kennet aus der Höhe der betrübten Herzen Sorgen“, sang Lene.