Gabriele Beyerlein

In Berlin vielleicht


Скачать книгу

fünfstöckigen neuen Häusern mit strahlenden, wunderschönen Fassaden und reich dekorierten Toren vorbei, an einer Baustelle und an trostlosen Ruinen, in deren Erdgeschossen und Kellern noch Geschäfte ausharrten und auf großen Plakaten wegen bevorstehenden Abrisses mit Sonderangeboten warben.

      Dann ging sie an alten, vergrauten Häusern entlang, deren Prachtzeit in ferner Vergangenheit gelegen haben musste und deren Front unter einer Flut von Reklametafeln kaum mehr zu erkennen war. So also ist es in Berlin, dachte sie und nahm jede Einzelheit in sich auf. Solange sie schaute, musste sie nicht denken.

      „Plissee-Brennerei Woldemar Wimmer“, las sie halblaut, „Lotterie-Contor, Krügers Bierhaus, Besatzartikel Flach & Engel — was das wohl sein mag? —, Nähseiden Engros Isidor Salomon, Priesters Costumes, Röcke, Backfisch Kleider, Rauchwaren Gebrüder Feiler, Bäckerei & Conditorei, Privat Mittagstisch Wilhelm Pollin, Festsäle-Centrum, Destille. Was ist denn das?“

      Dann hatte sie die Hausnummer dreizehn erreicht. Noch einmal verglich sie mit dem Zettel. Dreizehn, da stand es. Im Dorf daheim gab es kein Haus mit der Nummer dreizehn. Weil das eine Unglückszahl war. Hierher schien es zu passen.

      Es war eines von den alten Häusern. Ein schönes Haus, bei dem man gleich sah, dass vornehme Leute darin lebten: Angedeutete Säulen hatte es zwischen den hohen Fenstern und reich mit steinernen Blumenranken und geflügelten Löwen verzierte Friese. Es war nicht von Reklametafeln entstellt, dafür schmückte es ein kunstvolles Schild über dem hohen Tor, das von Wappen, Krone und zwei Marmorfiguren halbnackter Athleten gekrönt war. Weil hier ein Polizeihauptmann wohnte? Nein, das Schild verkündete die feinen Stahlwaren von Wilhelm Bankowsky, Hoflieferant Sr. Majestät des Kaisers und Königs. Noch größer wiederholte sich dieses Schild über dem Geschäft im Erdgeschoss, das selbiger Hoflieferant betrieb. Im weniger eindrucksvollen Nachbarhaus führte eine steile Treppe nach unten in einen Kellerladen. Milch u. Sahne. Obst, Gemüse & Südfrüchte versprach dort die Aufschrift auf dem Haussockel.

      Das Tor zum Haus Nummer dreizehn stand offen. Lene trat in eine modrig riechende Einfahrt, die durch das Gebäude in den Hinterhof führte. Auch hier Schilder: Hausieren strengstens verboten!, Das Spielen der Kinder auf Hof Flur und Treppe sowie das Umherstehen vor der Haustüre ist streng untersagt! und neben der linker Hand ins Haus abgehenden Tür die Schilder mit den Namen der Haushaltsvorstände. Da stand er: Polizeihauptmann Adolf Grossmann, 2. Stock.

      Etwas drückte Lene den Atem ab. Da war der Wunsch, umzudrehen, den Pferdeomnibus zum Bahnhof zu nehmen, ins Dorf zurückzufahren. Sie könnte sich doch noch beim Lenz-Bauern verdingen, er hatte noch keine neue Jungmagd gefunden, und der Herr Lehrer konnte ihr vielleicht helfen, dass sie ihre Papiere wiederbekam ...

      Damit Grete dann zu ihr sagte: Erst waren wir dir nicht gut genug, aber nun haben sie dich in Berlin wohl nicht haben wollen, na ja, Hochmut kommt vor dem Fall!?

      Nein! Nie wieder, hatte sie sich geschworen.

      Lene strich sich das Wasser aus den Haaren, streifte umständlich ihre kostbaren Stiefel auf der Kokosmatte ab und stieg die Treppe hinauf. „Frisch gebohnert!“ behauptete ein Schild, das an einer Treppenstufe angeschraubt war, aber dass das nicht stimmte, sah Lene gleich. Die Treppenstufen waren grau und abgetreten.

      Wenn man sie mit Sand scheuern, wachsen und polieren würde wie den Flur im Schulhaus, könnten sie wieder blitzen. Ja, das wollte sie gleich morgen tun. Dann würde die gnädige Frau zu ihr sagen: Wie du das machst, Lene! Ich wusste gar nicht, dass die Treppe wieder so schön werden kann! Und eine zweite Portion Nachtisch würde die gnädige Frau ihr geben, als Extralob. Bei so vornehmen Leuten gab es bestimmt jeden Tag Nachtisch und nicht nur sonntags wie bei Lehrers, und ganz besondere Sachen, von denen Lene bisher nur aus Büchern wusste, Zitronencreme und Schokoladenmouse oder so eine gute rote Grütze mit Vanillesoße, wie die Frau Lehrer sie zum Geburtstag vom Herrn Lehrer gekocht hatte ...

      Lene nickte vor sich hin: Wenn sie fleißig war und ihre Arbeit gut machte, würde sie sich an den köstlichsten Sachen satt essen dürfen. Was wollte man mehr vom Leben? Und alles andere würde sich finden. Wahrscheinlich war der Herr Polizeihauptmann sowieso den ganzen Tag auf seiner Wache, es kam viel mehr auf die gnädige Frau an, und die war bestimmt ganz anders als ihr Mann. Sie hatte Kinder wie die Frau Lehrer, und die war zu ihr auch immer wie eine Mutter gewesen.

      Entschlossen zog Lene an dem Klingelzug im zweiten Stock und hörte in der Wohnung das scheppernde Gebimmel der Glocke.

      Kurz darauf folgte Poltern von schnellen, kurzen Schritten, aus der Tiefe der Wohnung drang Kindergeheul. Die Tür wurde aufgerissen. Ein Junge von sechs, sieben Jahren stand da und musterte sie. „Du tropfst!“, erklärte er. „Wer bist du?“

      „Ich bin die Lene, euer neues Dienstmädchen!“ Sie lächelte ihm zu. Es schien ihr wie ein glückliches Vorzeichen, dass dieser Junge ihr die Tür geöffnet hatte. Nun würde alles gut.

      „Ach so!“ Er drehte sich um und schrie in die Wohnung zurück: „Mutti, da ist die Neue!“

      Neugierig sah Lene in den Flur. Unwillkürlich hielt sie die Luft an. So eine Pracht! Ein dunkelrot gemusterter Teppich zog sich über die ganze Länge, dunkelrot mit goldenen Ranken auch die Tapeten, braun und gold die überhohe Decke, in ihrer Mitte eine prächtige goldene Stuckrosette. Drei Petroleumlampen brannten, dennoch herrschte ein geheimnisvolles Dämmerlicht. Linker Hand ragte ein monströses Möbelstück aus dunkel gebeiztem Holz in den Flur — fast wie ein griechischer Tempel aus einem Buch des Herrn Lehrer sah es aus: Säulen trugen einen figurengeschmückten Fries, unter dem einige schmiedeeiserne Kleiderbügel hingen, zwei göttinnenartige Wesen hielten einen großen Kristallspiegel, ein Mohrenkind reckte eine silberne Schale in die Höhe. Auf beiden Seiten dieses Tempels hing eine Sammlung von Schwertern und Spießen an der Wand. Vom Ende des Flures starrten Lene furchterregende Masken irgendwelcher wilden Völker entgegen.

      Nun öffnete sich die angelehnte Tür unter den Masken und eine Dame trat hindurch und kam auf Lene zu, ein kleines, weinendes Mädchen auf dem Arm.

      Lene machte einen Knicks und grüßte.

      „Dich schickt der Herr Polizeihauptmann?“, fragte die Dame und runzelte die Stirn. Ihre Stimme klang genervt und eine Spur zu schrill. „Mein Gott, du kommst wohl frisch vom Land? Dabei habe ich ihn doch gebeten ... Na, wenn der gnädige Herr dich engagiert hat, da kann man nichts machen. Hoffentlich schlägst du mir nicht die Gläser und das Porzellan kaputt! Das ziehe ich dir vom Lohn ab, das sage ich dir gleich! Jetzt komm erst mal rein! Wie heißt du überhaupt?“

      „Lene Schindacker, gnädige Frau.“ Es war, als gehe eine Tür in ihr zu, die sich gerade einen Spalt weit geöffnet hatte. Nein, die Frau Polizeihauptmann hatte nichts mit der Frau Lehrer gemeinsam.

      „Gut, Lene! Hör zu, ich habe jetzt keine Zeit, dir alles zu zeigen und zu erklären. In einer Stunde kommt der gnädige Herr nach Hause, dann muss alles in Ordnung sein und das Abendessen auf dem Tisch stehen. Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht! Ich habe deine Vorgängerin fristlos entlassen müssen, sie hat in meiner Abwesenheit ihren sogenannten Bräutigam in meiner Küche empfangen! In meiner Küche! Und nun stehe ich alleine da mit der ganzen Arbeit, und Olgachen ist auch noch krank! Komm mit, zieh dir erst mal was Trockenes an, und dann kannst du gleich das Zimmer in Ordnung bringen und den Tisch decken!“

      Hinter der gnädigen Frau betrat Lene das Zimmer am Ende des Flures. Ein schmaler, nach links führender langer und düsterer Schlauch war es mit einem einzigen Fenster im linken Eck. Ein mit Spiel- und Malsachen übersäter Tisch stand vor diesem Fenster. Der ganze Raum war mit dunklen Möbeln überladen, zwei Jungen bauten am Boden mit Bausteinen. Neben dem Tisch gab es eine weitere Tür — wie groß war diese Wohnung denn noch?!

      Die gnädige Frau öffnete diese zweite Tür. „Die Küche!“, sagte sie knapp. Lene hätte beinahe einen Schrei der Bewunderung ausgestoßen. In letzter Sekunde schloss sie wieder den Mund, die gnädige Frau sollte nicht merken, dass sie so etwas noch nie gesehen hatte, sonst hieß es nur wieder, man merke, dass Lene vom Land kam!

      Lene hatte davon gehört,