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in der Praxis erprobt, Verbesserungen eingearbeitet und dann schließlich Gesetz. Einen wichtigen Beitrag leisteten dafür die Expertengruppen an der Pädagogischen Akademie der Wissenschaften (APW), die sich aus Wissenschaftlern der einzelnen Fachgebiete, wissenschaftlichen Mitarbeitern und aktiv im Schuldienst arbeitenden Pädagogen zusammensetzten.

      Die Lehrpläne galten für das ganze Land. Der Vorteil bestand darin, dass Schüler, die mit ihren Eltern in einen anderen Teil der Republik zogen, sehr schnell auf den Stand des Wissensniveaus der neuen Schule kamen.

      Die im Westen oft vorherrschende Meinung, dass alle DDR-Lehrer Mitglieder der SED waren, entspricht nicht den Tatsachen. Zahlreiche Lehrer gehörten keiner Partei an, mussten aber unter moralischem Zwang am Parteilehrjahr teilnehmen. Zentrale Weiterbildungsveranstaltungen begannen zumeist mit Vorlesungen und Seminaren zum Marxismus-Leninismus, wobei aktuelle Ereignisse unter dieser Sicht betrachtet wurden. Eine abweichende politische Meinung zu vertreten, wurde schon fast unter dem Aspekt der Blasphemie betrachtet.

      Der Leser wird die geschilderten Ereignisse vielleicht als extrem empfinden. Aber der Roman wäre nie geschrieben worden, wenn sie nicht Realität gewesen wären.

      Lehrer Müller und Prag 1968

      Die im DDR-Plattenbaustil errichtete Neubauschule war an die Ecke von drei sich treffenden, stark vom Verkehr frequentierten Straßen erbaut worden. Die Lehrer fürchteten um das Leben der von ihnen unterrichteten Schüler, und es grenzte an ein Wunder, dass in den ersten Jahren nach der Eröffnung kein Kind zu Schaden gekommen war, denn Ampeln wurden zu aller Ärger erst sehr spät installiert.

      Dazu waren mehrere Eingaben beim Rat der Stadt notwendig gewesen und wahrscheinlich auch einige schwere Autounfälle, die, nebenbei bemerkt, für die Schüler stets eine Abwechslung ihres öden Schuldaseins darstellten.

      Horst Müller war seit ihrer feierlichen Eröffnung Lehrer dieser Schule. Sein ehemaliger Direktor hatte, nachdem er für die Leitung der neuen Bildungseinrichtung eingesetzt wurde, ihn gleich mitgenommen, weil er dessen Arbeit schätzte.

      Horst unterrichtete in den Fächern Musik und Geschichte von der fünften bis zur zehnten Klasse.

      Bisher hatten sie ihn in Ruhe gelassen. Er unterrichtete gewissenhaft stur nach Lehrplan, denn schließlich sollten sie ihm nichts nachsagen können.

      Der Kollege, der ihn ständig mit der Frage nervte, warum er als Geschichtslehrer immer noch nicht der Partei der Arbeiterklasse, der SED (SED - Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, die führende Partei in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR)), beigetreten sei, war im Jahr vor der Schuleinweihung an einer Embolie nach erfolgreicher Operation gestorben.

      Müller argumentierte seine Weigerung stets mit den hohen Beiträgen, die Parteimitglieder - kurz: Genossen - zu zahlen hätten und mit der dort geforderten Parteidisziplin. Er beschwichtigte diese Ablehnung mit dem Hinweis, dass er bisher mit der Politik der Partei übereinstimme, aber er wolle sich doch das Recht auf eigene Meinung nach wie vor selbst vorbehalten. Mochten sie doch von ihm denken, was sie wollten. Von seiner christlichen Überzeugung her war ein Parteibeitritt kein Thema für ihn.

      Nach dem Tode des auf ihn angesetzten Genossen ließen sie ihn - wie schon erwähnt - in Ruhe, jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, als die Schule die neue Direktorin bekam. Sie trat 1987 ihren Dienst an und wurde vom Schulrat als Genossin Sanam vorgestellt. Müller fand sie anfangs schön und sympathisch.

      Aber diese Frau wurde für ihn nur der I-Punkt von Erkenntnissen und Überzeugungen, die in ihm seit den Ereignissen des Jahres 1968 in der Tschechoslowakei gekeimt waren.

      ***

      Als Horst Müller damals seinen Urlaub in Prag der Schulleitung bekannt gab - denn sie wollte immer wissen, wo die Kollegen zu erreichen waren -, wurde er zum damaligen Direktor, dem Genossen Schneeacker, gerufen.

      „Sagen Sie mal, Kollege Müller, wissen Sie überhaupt, in was für ein Land Sie dort fahren? Haben Sie denn nichts von den dortigen antisozialistischen Umtrieben gehört?“

      Müller fand die kluge Antwort, die man solchen Leuten nur sagen konnte:

      „Herr Schneeacker, ich weiß, was ich meinem Land, der Deutschen Demokratischen Republik, schuldig bin, deren Staatsbürger ich mich nennen darf.“

      „Ich kann diese Reise zwar nicht verhindern, aber ich möchte Ihnen doch dringend davon abraten.“

      „Du kannst mir viel erzählen„, dachte sich Müller und war froh, dass sie seine Gedanken nicht auch noch kontrollieren konnten, „Im Januar hast du mir auf einem gemeinsamen Nachhauseweg erzählt, dass du im Krieg bei der Waffen-SS warst. Du bist doch der Letzte, dem ich eine sozialistische Überzeugung abnehme.“

      Durch eine Bekannte hatte Müller im Jahr zuvor einen tschechischen Journalisten kennen gelernt und ihm bei Übersetzungsarbeiten geholfen. Aus dieser ersten Begegnung wurde eine gute Freundschaft, die Jahre andauern sollte.

      Anfang des Jahres 1968 traf er Pavel auf dem Weg zur Schule. Müller war völlig überrascht, als er von seinem Freund stürmisch umarmt wurde.

      „Horst, wir sind frei. Alexander Dub?ek ist gewählt worden.“

      Müller verstand ihn nicht ganz, aber freute sich doch mit ihm. Sie verabschiedeten sich in großer Herzlichkeit.

      Umso ernüchterter war Herr Müller, als ein Schüler auf ihn zutrat und sich neugierig erkundigte, wer der Mann da gewesen sei. Müller zog es vor, nicht zu antworten.

      Mit großem Interesse verfolgte Müller von nun an die Ereignisse im Nachbarland.

      Pavel war Korrespondent der Zeitschrift „Sw?t v obrazech“ („Welt in Bildern“) und schrieb auch Artikel für das Blatt „Literarni listi“ („Literaturblätter“), das besonders in den Tagen des Widerstandes gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes eine wichtige illegale Informationsquelle blieb.

      Horst Müller war Geschichtslehrer mit Leib und Seele. In der Tschechoslowakei konnte er Geschichte mit den Händen greifen. Das sollte er sich entgehen lassen? Nein, Herr Genosse Schneeacker, deine hohlen Argumente ziehen bei mir nicht.

      Er war von Bekannten seiner Eltern, die dort einmal im Urlaub gewesen waren, eingeladen worden. Sie wohnten nicht weit von der Karlsbrücke in Prag. Der Weg zum Hradschin war außerordentlich reizvoll. Dort konnte er eine für ihn unvergessliche Beobachtung machen. Er erblickte freudig erregte Menschen, die einigen Männern zujubelten, als sie in das historische Gebäude des tschechischen Staatspräsidenten Ludvik Svoboda traten. Unter ihnen erkannte er Alexander Dub?ek.

      Die Freude der Menschen war spontan. Sie kam aus ihrem Herzen. Müller verglich die Pflichtübungen in seinem Land mit dieser Szene, und er wurde sehr nachdenklich.

      Die Bekannten übersetzten ihm abends die Rundfunksendungen. Da sprachen Bürger frei und offen aus, was sie bewegte. O, wie er die Tschechen um ihren Dub?ek beneidete.

      In der Kneipe „U dvou ko?ek“ („Zu den zwei Kätzchen“) luden ihn zwei Arbeiter zum Bier ein. Sie schwärmten von der „Demokrace“, waren aber gleichzeitig von großer Sorge erfüllt, dass ihr Weg von den Warschauer Vertragsstaaten nicht geduldet wird.

      „Sagen Sie allen Menschen in der DDR, dass wir den Sozialismus nicht beseitigen wollen. Wir wollen ihn nur demokratischer und menschlicher.“

      Überall sah er am Tage die Menschen Zeitung lesen. Einen solchen Hunger an Informationen hätte er sich nie vorstellen können. Von der Nationalstraße auf den Wenzelsplatz kommend, erblickte er in tschechischer Sprache die Inschrift: „Breshnew, Ulbricht …. sind die Kreuzritter von heute“, in einem Hausflur: „Karel Gott ist unser Mann“ und auf dem Pet?in, wo der Prager Fernsehturm errichtet war, sah er die russische Schrift, die den aus der Sowjetunion stammenden Touristen Informationen über die Anlage gab, schwarz durchgestrichen mit der Bemerkung: „To neni pro nas! Das ist nichts für uns!“

      Pavel sagte zu ihm, die