Wilfried Baumannn

Das letzte Schuljahr


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sehnte sich Müller auch: grenzenlos reisen zu können. Sein Land kam ihm wie ein Gefängnis vor. Jeden Tag sah er diese elende Mauer, ein unüberwindbares Hindernis für seine Wünsche. O ja, er gönnte den Tschechen ihre Freiheit, denn ihre Ziele entsprachen auch seinen Interessen.

      Er traf amerikanische Studenten aus Washington D.C., die ihm erzählten, wie sehr sich die Menschen hier für praktische Demokratie interessierten. Nur ein einziges Mal traf er einen Mann, in Tabor, der Dub?ek am liebsten erschossen hätte und ihn als Verräter titulierte.

      Die alten Parteidogmatiker waren eine Minderheit geworden. Aber sie waren noch gefährlich stark.

      Kurz bevor er Mitte August nach Berlin zurück fahren wollte, machte er abends vor dem Waldsteingarten eine eigentümliche Entdeckung. Eine Reihe schwarzer Limousinen, den üblichen Staatskarossen gleichend, hatte dort Halt gemacht. Leute huschten durch das kleine Tor, als ob sie nicht gesehen werden wollten.

      Er erzählte gleich am nächsten Tag seinem Freund Pavel, was er gesehen hatte. Der konnte sich keinen Reim darauf machen. Vielleicht war diese Beobachtung für die folgenden Ereignisse ohne Bedeutung, oder hatte sie etwas damit zu tun?

      Als Müller nach Berlin zurückgekommen war, erzählte er seinen Bekannten mit begeisterter Freude von dem, was in der Tschechoslowakei geschah. Er begegnete viel Skepsis.

      Dann überschlugen sich die Geschehnisse. Invasion der Truppen der Warschauer Vertragsstaaten - nein „brüderliche Hilfe“. Verantwortungsbewusste tschechische Patrioten hätten um ein Eingreifen ersucht. Nur, wer waren diese „Patrioten“? Müller dachte an seine Beobachtung in der Nähe des Waldsteingartens.

      Er schnitt auf Band die verzweifelten Aufforderungen des Prager Rundfunks mit, die er über Kurzwelle empfangen konnte: „Lieben deutschen Freunde! Hier ist Prager tschechoslowakische Rundfunk. Wir und das tschechische Volk sind mit der Okkupation unseres Landes nicht einverstanden. Lieben deutschen Freunde, verhalten Sie sich ruhig …“, dann den Aufruf des eigenen Senders, der mit unwahrscheinlichem Zynismus die Aggression als brüderliche Hilfe und die menschlichen Züge des tschechischen Weges als Konterrevolution bezeichnete.

      Müller ekelte es. Er traf in diesen Tagen eine ehemalige Kommilitonin und machte seiner Empörung Luft. Sie reagierte:

      „Horst, sei bloß ruhig. Ich bin in der Partei und verpflichtet, dich zu melden.“

      „Wenn du das mit deinem Gewissen vereinbaren kannst? Die Wahrheit lässt sich nicht für immer unterdrücken.“

      Der Student Jan Parlach verbrannte sich in Prag vor dem Wenzelsdenkmal, um gegen die Okkupation und für die Freiheit seiner Heimat ein Fanal zu setzen. Die Parteileute wurden nervös.

      Überreizt und gespannt war auch die Atmosphäre in der Vorbereitungswoche auf das neue Schuljahr 1968/69.

      In der ersten Unterrichtsstunde nach den Schulferien und dem Fahnenappell, auf dem die Schüler in Pionier- oder FDJ-Kleidung (FDJ – Freie Deutsche Jugend – kommunistische Jugendorganisation in der DDR – Zeichen der FDJ-Kleidung war ein blaues Hemd mit dem Wappen einer strahlenden Sonne am Hemdsärmel) zu erscheinen hatten, musste eine obligatorische Politinformation abgehalten werden, in der die aktuellen Geschehnisse während der Ferienzeit ins parteiideologisch „richtige“ Licht gerückt werden mussten.

      An den Reaktionen vieler Kollegen stellte Müller fest, dass eine Anzahl so dachte wie er. Das beruhigte seine aufgeputschten Gefühle etwas.

      „Natürlich werden die Schüler wieder mit Argumenten der Westmedien kommen“, ereiferte sich Genosse Direktor Schneeacker.

      Eine Genossin der Schulparteileitung (SPL) fand dann die befreiende Lösung:

      „Wen der Feind lobt, der hat Fehler gemacht.“

      Nun war alles wieder in Butter. Das ideologische Schema stimmte wieder, in das alles eingeordnet werden konnte.

      Sie zeigte sogar Verständnis für den Widerstand des tschechischen Volkes; aber, so betonte sie, der Sieg des Sozialismus sei nicht aufzuhalten und eines Tages werden die tschechischen Menschen im Rückblick auf ihre Geschichte den Truppen des Warschauer Vertrages für ihre selbstlose Hilfe dankbar sein.

      Schade, dass sie es nicht mehr erleben konnte, wie sich später die Regierungen der Warschauer Vertragsstaaten für diesen Einfall vor dem tschechischen Volk entschuldigten.

      Müller sollte diese Politinformation in einer neunten Klasse durchführen. Eine Genossin der SPL (Schulparteileitung) wollte bei ihm hospitieren.

      „Sie waren in Prag, Kollege Müller, und ich kann mir vorstellen, dass es Ihnen schwer fällt, unbefangen über diese Dinge dort zu sprechen. Fragen Sie doch einfach, was die Schüler darüber wissen. Außerdem hat mein Sohn einen Kurzvortrag zu den Ereignissen vorbereitet.

      Der Fahnenappell wird Ihnen die Zeit auch noch etwas verkürzen.“

      Sie zwinkerte ihm bedeutungsvoll zu, und er merkte, dass die Genossen untereinander auch nicht so einmütig dachten.

      Erst später erfuhr er, dass die Genossin noch ein anderes Motiv hatte, ihm aus dieser vertrackten Situation, die ihm Beruf und Altersversorgung gekostet hätte, zu helfen. Sie stammte aus der gleichen ostpreußischen Stadt, in der er während des Krieges geboren wurde. Müller konnte in seinem Leben immer wieder die Erfahrung machen, dass Menschen, die von dort kamen, innerlich tief miteinander verbunden waren.

      Trotzdem wurmte es ihn, dass er vor den Schülern bisher keine Stellung bezogen hatte.

      Als er im Geschichtsunterricht einer sechsten Klasse die Hussitenbewegung nach dem vorgeschriebenen Lehrplanstoff behandelte, spielte er den Kindern Bed?ich Smetanas Komposition „Tabor“ aus dem Zyklus „Mein Vaterland“ vor.

      Er erläuterte die Komposition so, dass man leicht Rückschlüsse auf die Gegenwart ziehen konnte.

      Er ging sogar noch einen Schritt weiter und erklärte ihnen den Inhalt der folgenden Sinfonischen Dichtung „Blanik“:

      „Das ist ein Berg in der Tschechoslowakei, in dem nach der Sage die Befreier der Tschechen warten. Eines Tages werden sie heraus kommen und ihnen die Freiheit bringen.“

      Die Kinder schauten ihn groß an. Einer wollte sich sogar die Platte kaufen.

      Als er seinem Freund Pavel davon erzählte, holte der stumm ein kleines Relief aus der Schublade und zeigte es ihm bewegt.

      „Nur meine besten Freunde dürfen das sehen.“

      Horst Müller sah die Darstellung des Wenzelsdenkmals mit einem angelehnten Kranz.

      „Jan Parlach“, murmelte er, „was bedeutet aber die Inschrift ,NEPOMINAME’?“

      „Wir werden es niemals vergessen.“

      „Weißt du, neulich traf ich unseren Pionierleiter. Er war so voller Hass gegen euch. Ich sagte ihm, ich bezweifle, dass überhaupt jemand die Truppen um Hilfe gebeten hätte. Er antwortete mir, dass er gut mit Heinz Hoffmann, dem Verteidigungsminister, bekannt sei und der hätte in diesem Zusammenhang die Namen Bilak und Husák erwähnt.“

      „Das kann ich mir nicht vorstellen, denn Husák versucht ja noch zu retten, was zu retten ist“, zweifelte Pavel.

      Das war nun schon 20 Jahre her. Pavel verstarb Mitte der 70er Jahre ganz unerwartet an einem Herzinfarkt.

      Vorbereitungswoche - Müller macht sich seine eigenen Gedanken

      Das neue Schuljahr 1988/89 begann mit der üblichen Vorbereitungswoche, in der die Lehrer sich um ihre Fachräume, die Lehrbücher und Materialien zum Unterrichten kümmerten und vor allem politisch eingeschwenkt werden sollten. Außerdem erhielten die Klassenleiter die Stundenpläne des ihnen anvertrauten Schülerkollektivs und alle Kollegen ihren persönlichen Einsatzplan. Dann mussten organisatorische Fragen des Schuljahres gelöst werden, wie die Überarbeitung der Hausordnung, die Bekanntgabe des Schuljahresarbeitsplanes,