Frank Riemann

Das Lied des Steines


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welches Bild sich ihm hier bot.

      Wollongong / Neusüdwales, Montag 26. April, 09:00 Uhr

      Henry O`Mailey saß in Heathers Cafè, wo er öfters vorbei sah, wenn er überlegen musste, was ihm dieses Mal noch schwerer fiel als üblich. Er trank einen Kaffee, wodurch seine Magenschmerzen erneut auftraten. Vor ihm stand auch ein Stück Mohngebäck, das er allerdings nicht angerührt hatte. Obwohl er es bestellt hatte, wusste er, er würde es wahrscheinlich gar nicht essen. Der untersetzte, in sich zusammen gefallene Mann, wirkte hinter dem Tisch noch kleiner. Er stützte seine Ellenbogen auf den Tisch und drückte seine Handballen auf die Augen. Dann fuhr er sich durch sein unordentliches rot-braunes Haar und kratzte sich am Kinn. Dabei erzeugten seine Stoppeln ein kratzendes Geräusch. Er dachte nicht an eine Rasur, obwohl er sie nötig gehabt hätte. Seine grauen Augen schienen noch trüber, als sonst. Er kramte eine Zigarette aus seinem Mantel und entzündete sie, während er scheinbar teilnahmslos geradeaus starrte. In seinem Innern sah es hingegen wahrhaftig anders aus.

      Seit die Spurensicherung das Haus für ihn freigegeben hatte, hatte er bereits zehn Zigaretten geraucht, ohne, dass es ihm bewusst gewesen wäre. Und es war erst 09:00 Uhr morgens.

      Was O`Mailey vom Eingang des Hauses aus sah, war erst die Einleitung des Schreckens, der sich dort abgespielt haben musste.

      Im ganzen Haus verteilt fand man die Überreste der Familie Nillensson. Die vollständigsten Teile waren noch die Oberschenkelknochen der Erwachsenen. Völlig zerstörte und ausgenommene Körper. Organe, die überall herumlagen, blanke Knochen, zerfetztes Gewebe, auf einer Treppe ein zerschmetterter Schädel und überall Blut, auf dem Boden, an den Wänden, auf den Möbeln, auf der Treppe und auf dem Geländer, ja sogar an den Decken und an den Lampen. Schlimmer als im Schlachthaus. Als ob ein Künstler der Body-Art-Szene verrückt geworden wäre und ein unvergleichliches Kunstwerk habe schaffen wollen.

      Und signiert hatte er es auch. Im Wohnzimmer war eine Regalwand umgeworfen worden und auf der hellen Tapete befanden sich seltsame Zeichen. O`Mailey hatte sie sich auf einen Block geschrieben. Oder besser gesagt, er hatte versucht, sie eins zu eins zu übernehmen.

      Seine Notizen lagen vor ihm neben der Kaffeetasse auf dem Tisch. Er blickte darauf, ohne die wenigen anderen Gäste im Cafè und ihre Gespräche wahrzunehmen. Er verstand ihre Bedeutung nicht, denn so etwas hatte er noch nie zuvor gesehen. Und er wusste auch nicht, ob sie überhaupt etwas zu bedeuten hatten.

      Im Wohnzimmer der getöteten Familie nahmen die mit Blut geschriebenen Zeichen die gesamte breite Wand ein. In mehreren Reihen prangte die ungewöhnliche Schrift dort wie eine Botschaft. Im ersten Moment dachte O`Mailey, es würde sich um japanisch handeln, was aber nicht zutraf. Es gab zwar Sequenzen, die japanischen Schriftzeichen ähnelten, doch standen sie nicht für sich alleine, sondern wurden durch seltsame Schnörkel miteinander verbunden, die dem arabischen hätten entsprungen sein können. Auch endete die Schrift nicht am Ende der Zeile, sondern rutschte tiefer und führte in entgegengesetzter Richtung weiter. So zogen sich Bögen und Haken, Schleifen, Kreise und Querstriche in einer ununterbrochenen Linie über die komplette Fläche der Wand.

      Heather schob ihren runden Körper durch den Raum und kam auf O`Mailey zu, in einer Hand eine halbvolle Kaffeekanne. »Willst du noch Kaffee, Henry?«

      Sie stand vor ihm und wartete auf eine Antwort. Weil sie keine bekam und sah, dass seine Tasse noch fast voll war, drehte sie sich um und verschwand wieder hinter der Theke.

      Henry schien zu träumen. Er dachte an das Haus und an die Schriftzeichen, die natürlich keinen Sinn ergaben. In seiner Kindheit hatte es auch oft Ereignisse gegeben, die er nicht verstanden hatte und Eines kam ihm jetzt in den Sinn.

      Er lebte damals mit seiner Mutter in Sydney, in einem Haus, in dem es beinahe nur Frauen gab. Nur ein Mann war permanent anwesend. Die Anderen, die vorbeikamen, gingen schon nach kurzer Zeit wieder. Seine Mutter sagte damals: »Das ist so: Wenn sie gekommen sind, gehen sie wieder.« Dann lachte sie immer, aber Henry verstand nicht, worüber. Er begriff nicht, was sich dort abspielte, und warum er nicht bei ihr sein durfte, wenn die Tür verschlossen war. Erst Jahre später, nach ihrem Tod und nachdem er in ein Waisenhaus kam, wurden ihm die Zusammenhänge klar.

      Eines Tages gab seine Mutter ihm Geld und einen Zettel mit einer Notiz. Er sollte die Straße entlang gehen, bis zur Kreuzung, dann rechts herum bis zur Apotheke und dem Mann das Geld und den Zettel geben.

      Er schlenderte los, blickte auf den Zettel, wusste aber, da er nicht lesen konnte, nicht, was er zu besorgen hatte. Der Apotheker schaute auf das Papier und grinste ihn breit an, als ob er Kenntnis von einem Geheimnis hatte, dass sich Dummkopf O`Mailey nicht erschloss.

      Seine Mutter nannte ihn immer Dummkopf, seinen Namen Henry sollte er erst im Waisenhaus bekommen.

      Der Mann nahm das Geld, stellte ein kleines Päckchen auf den Ladentisch, gab ihm einige Münzen zurück und grinste erneut.

      Dummkopf trödelte zurück, schob sich ein blass gewordenes Bonbon, das er tief unten in seiner Hosentasche gefunden hatte, in den Mund und sah die Szene, an die er sich jetzt in Heather`s Cafè, durch den Anblick des furchtbaren Tatorts und der blutigen Schrift ausgelöst, erinnerte.

      Auf der Straße lag etwas, das Dummkopf nicht sofort erkannte. Auf seinem Hinweg zur Apotheke war es noch nicht dort gewesen, oder er hatte es übersehen. Er ging einige Schritte näher heran und stellte fest, dass es sich um ein überfahrenes Tier handeln musste. Ein Lastwagen musste es erwischt haben, da der Haufen, der dort auf der Straße lag, nicht grade klein und ziemlich zermatscht war. Es war wahrscheinlich ein Hund gewesen, obwohl man den zerstörten Schädel nicht mehr genau erkannte. Das Rückgrat stand seltsam abgewinkelt ab und aus dem aufgeplatzten Kadaver breiteten sich die Innereien auf der Straße aus.

      Dummkopf wurde übel, er verschluckte sein Bonbon und hustete es wieder aus. Aber aus irgendeinem Grund konnte er seine Augen nicht von der leblosen Masse abwenden. Dann geschah etwas, was er überhaupt nicht verstand.

      Ein Junge, der größer und älter war als er selber, ging mit einem langen Stock in der Hand auf das tote Tier zu und blieb davor stehen. Er stocherte und rührte mit seinem Stab in dem Fleischklumpen herum und zog blutige rote Striche auf die Fahrbahn. Sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos. Es zeigte weder Trauer, Ärger, Schadenfreude noch Ekel.

      Dummkopf fragte sich, was er dort tat. Suchte er etwas?

      »Warum taten Menschen das, was im Haus der Familie Nillensson geschehen war?«, fragte sich Henry O`Mailey in Heathers Cafè.

      Er nahm einen großen Schluck Kaffee. Er war kalt geworden und schmeckte widerlich. Sein Gebäck hatte er nicht angerührt, beim Gedanken daran wurde ihm übel. Er legte zwei Dollar auf den Tisch, steckte seinen Notizblock ein, stand auf und verließ das Cafè.

      »Mann«, sagte Heather zu den drei Müllmännern, die auf ihrer Tour immer eine Pause bei ihr einlegten, »schlecht gelaunt ist der ja meistens, aber man kann sich noch halbwegs vernünftig mit ihm unterhalten. So habe ich ihn ja noch nie erlebt.« Die Drei nickten gelangweilt und ließen sich von ihr Kaffee nachschenken.

      O`Mailey schloss seinen Mantel und stellte den Kragen hoch. Die ganz warmen Tage waren vorbei, es ging allmählich auf den australischen Winter zu. Die Temperaturen würden dann in Südaustralien um die zehn Grad Plus zwar noch zu ertragen sein, aber er mochte dieses ungemütliche Wetter nicht. Jetzt waren es ungefähr vierzehn Grad Celsius und es begann ganz leicht zu regnen, was seiner Stimmung auch nicht gut tat. In diesem Teil des Kontinents regnete es hauptsächlich im Frühling, also von September bis Dezember; dass Ausläufer pazifischer Zyklone Regenfronten an Land trieben, war im April eher selten.

      Henry stieg in seinen Käfer, startete den Motor, schaltete die Scheibenwischer ein, die schon älter waren und die Windschutzscheibe mehr schlecht als recht vom Regen befreiten. Die Feuchtigkeit machte dem Vergaser zu schaffen und so ruckelte der Wagen durch die Straßen.

      Das, was die Nachbarn dem Inspector erzählt hatten, brachte ihn nicht weiter. Kent Nillensson sei ein ausgeglichener liebenswürdiger Familienvater gewesen. Er selber fiel ja sowieso als Verdächtiger