Frank Riemann

Das Lied des Steines


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Tag. Wenn ich noch einmal Mist baue, könnte es das gewesen sein. Dann kann ich Milch ausfahren oder werde Nachtwächter in den Fabriken am anderen Ende der Stadt. Und dann ausgerechnet auch noch so ein Fall. Ich habe zwei Möglichkeiten«, überlegte er. »Erstens, es war der Hausherr. Zweitens, es war jemand Anderes, logisch, oder? Quatsch, der Hausherr war tot. Auf jeden Fall war es ein Irrer. So weit, so gut.«

      Das Motiv in so einem Fall herauszubekommen, dürfte schwierig werden. Hatte man das Motiv, verringerte sich der Kreis der Verdächtigen rapide. Und genau das war das Problem. Der Täter wird kaum aufs Revier marschieren und gestehen: »Ja, ich war es. Ich bin dem Mann am Sonntagabend gefolgt, bin in sein Haus eingedrungen als alle schliefen. Ich habe zuerst die Eltern unten abgestochen, als erstes den Mann. Das ging schnell. Dabei habe ich neben dem Bett gekniet und ihm sein eigenes langes Küchenmesser direkt ins Herz gestoßen. Allerdings ist davon die Frau aufgewacht, und weil sie sich bewegt hat, war sie nicht sofort tot, so wie der Mann. Ich traf sie nur in den Arm, und sie schrie laut auf. Sie wollte weg, aber das Messer hatte sie auf der Matratze festgenagelt. Während eines kurzen Gerangels gelang es mir, mich auf sie zu setzen. Mann, das hat mir gefallen, wie diese Schlampe sich so unter mir gewunden hat. Ich zog das Messer aus ihrem Arm und stach es ihr immer wieder in die Brust. Ich wollte einfach nur, dass sie still war. Unter uns gesagt, ihre Titten waren nicht so toll. Als sie endlich aufgehört hatte sich zu bewegen und ich mich etwas beruhigt hatte, bemerkte ich, dass ein kleiner Junge in der Tür stand. Er lief weg, als ich zu ihm rüber sah. Kurz vor der Haustür erwischte ich den kleinen Bastard und Sie können sich vorstellen, was ich mit ihm gemacht habe. Seine letzten Worte, kurz bevor ich ihm das Messer zum ersten Mal in den Rücken gestoßen habe, waren: »Lauf Sophia, lauf!« Da wusste ich, meine Arbeit war noch nicht beendet. Eine Prinzessin, ein Püppchen wartete noch auf mich. Die Kleine kreischte besonders schön und nachdem auch sie still war, mit ihr hatte ich besonders viel Spaß, habe ich Allen die Arme und Beine abgehackt, ihnen ihre Leiber aufgeschlitzt und alles, was ich in ihren Körpern gefunden habe, und das war nicht wenig, im ganzen Haus verteilt. Und alles nur, weil dieses Arschloch mir am Zeitungsstand die letzte Ausgabe der Sunday Telegraph weggeschnappt hatte. Sonst noch Fragen, Herrschaften?«

      »Nein«, dachte O`Mailey. »So geht das nicht. Ich werde mich zuerst über alle ähnlichen Fälle informieren. Moment, natürlich nachdem ich alle Personen befragt habe, mit denen die Nillenssons Kontakt hatten. Danach werde ich mich mit den ähnlichen Fällen beschäftigen. Dabei werde ich dann die Spuren der damaligen Täter verfolgen. Ja, das ist gut«, sprach er sich selbst Mut zu. »So fange ich an, das müsste doch funktionieren.«

      Die Zigarette war herunter gebrannt, die Glut hatte schon beinahe seine vergilbten Fingerkuppen angesengt. Er trat die Kippe aus und wollte gerade eine neue entzünden, als ein junger Seargent mit gelbem Gesicht und grüner Nase das Haus verließ, sich auf dem Rasen erbrach und O`Mailey durch einen schwachen Wink bedeutete, dass er jetzt hinein könne.

      Vorher hatte er ja nur einige größere Blutlachen, unten vor der Treppe zum Obergeschoss, und einige wenige Organe gesehen, ohne sie jedoch genau identifizieren zu können. Aber was er jetzt in sich aufnahm, als er durch das ganze Haus ging, hatte er trotzdem nicht erwartet.

      Ely / East Anglia, Montag 26. April, 07:55 Uhr

      Louis Cramshaw kam gerade die Treppe herunter, wie an jedem Morgen um diese Uhrzeit. Und was andere Leute für den lästigen Alltagstrott hielten, war für ihn nur der Beweis, dass sein Leben in geregelten Bahnen verlief.

      Die Treppe befand sich im Landhaus, das schon seit Jahrhunderten in Familienbesitz war. Es lag einige Kilometer außerhalb von Ely, man könnte aber immer noch sagen, im Einzugsbereich der Stadt. So sauber das Haus war, so hervorragend der Garten gepflegt wurde, so gut in Schuss der Fuhrpark war, genauso war das gesamte Leben der Familie Cramshaw.

      »Louis, mein Lieber«, sagte seine Mutter, in dem Moment, in dem er in den Speiseraum bog, »setz dich zu uns und nimm ein Croissant zu dir, bevor du ins Büro fährst. Du isst zu wenig. Du wirst noch so dünn, wie dein alter Herr.« Und mit dieser Bemerkung nickte sie in die Richtung, in der sein Vater saß. Gezeichnet durch sein Gebrechen, meinte man immer, wenn er sich bewegte, Knochen stöhnen und Gelenke ächzen zu hören.

      Nach 15 Minuten artiger Konversation, einem Croissant, einer Tasse Kaffee, einem Glas frisch gepressten Orangensaft und einem Schluck Wasser, fuhr er in die Stadt. Mit Missbilligung nahm seine Mutter zur Kenntnis, dass er seine beidseitig gebratenen Eier nicht angerührt hatte.

      Kurz vor halb Neun kam er am Polizeirevier an. Das Gebäude war überschaubar und er hatte auch nicht sehr viel zu tun. Gerade als er das Revier betrat, stürzten uniformierte Kollegen an ihm vorbei und zur Tür hinaus. Ein wenig wehmütig blickte er ihnen nach, wie immer, wenn es einen neuen Einsatz gab, mit dem er wieder einmal nichts zu tun hatte. Dafür würde er aber hinterher die Berichte mit großer Begeisterung lesen.

      Er stieg die Treppe hinauf, bog nach links in den Gang ein und betrat nach wenigen Metern sein Büro. »Alles in Ordnung«, dachte er. Die Akten standen in der richtigen Reihenfolge im Regal, der Schreibtisch war aufgeräumt, so wie er ihn am Tag zuvor verlassen hatte, der Papierkorb war leer, und als erstes gab er jetzt den Kakteen auf der Fensterbank ein paar Tropfen Wasser, wie jeden Montag und Donnerstag um kurz nach halb Neun.

      Er war fast fertig mit seiner Tätigkeit, als Betty hereinkam. Er hatte einmal vergeblich versucht, ihr brav den Hof zu machen. Sie sagte ihm, dass sie etwas mehr Draufgängertum bevorzuge, und seitdem sah er sie mit anderen Augen. Seine Mutter hatte ihn dazu erzogen, sich vor Mädchen, die allzu schnell zur Sache kommen wollten, sie nannte sie leichte Mädchen, zu hüten. Wenn die neumodischen Sitten der Gesellschaft die waren, dass Mann und Frau schon vor der Ehe zusammenkamen, dann sollte man sich zumindest schon lange kennen und miteinander vertraut sein.

      Betty war eine der Telefonistinnen des Reviers; eine, von denen immer zwei erreichbar waren. So taten sechs Telefonistinnen in drei Schichten rund um die Uhr ihren Dienst. Louis mochte Betty am liebsten, auch wenn sie vielleicht etwas fragwürdig sein sollte.

      Sie legte ihm die handschriftlichen Berichte vor, die die Beamten gestern kurz vor Dienstschluss noch schlampig hingekritzelt hatten, und die er jetzt ins Reine tippen sollte.

      »Was ist denn das für ein Einsatz, zu dem die halbe Mannschaft ausrücken muss?«, erkundigte sich Louis mit unverhohlener Neugier.

      »Genau weiss ich das auch nicht. Ruth hat die Meldung angenommen und weitergeleitet. Sie sagte irgendetwas von Geiseln und einem Selbstmörder auf dem Marktplatz.«

      »Wahrscheinlich«, schnaubte Louis sarkastisch. »Selbstmörder, Geiseln, wir sind hier in Ely und nicht in der South-Bronx.«

      »Ich habe einmal gehört, dass nicht Alle, die es vorhaben, es auch wirklich tun. Sich das Leben nehmen, meine ich. Mal sehen, was daraus wird.« Mit diesen Worten verließ sie sein Büro.

      Louis wusste, was jetzt passieren würde. Sie werden den Platz großräumig absperren, um die Schaulustigen fernzuhalten. Sie werden versuchen, Kontakt zum Geiselnehmer herzustellen, Scharfschützen werden ihn oder sie ins Visier nehmen und man wird verhandeln. Es war aufregend, sich die Szenerie vorzustellen. Aber, schließlich waren wir hier in Ely. Dennoch spann Louis den Faden weiter. Betty sagte Selbstmörder. Das erschwerte die Angelegenheit. Solche Leute konnte man nie hundertprozentig richtig einschätzen. Sicher war schon ein Psychologe unterwegs. Einer von denen, für die alles nicht so schlimm war, die über alles noch einmal reden wollten und die immer sicher waren, dass sich Alles noch irgendwie zum Guten wenden ließe.

      Man stelle sich das einmal vor: »Warum ich mich vom Dach stürzen will? Das werde ich Ihnen sagen. Meine Frau, meine hochschwangere Frau, hatte einen Autounfall, beide tot. Mein Geld ist bei einer Fehlspekulation draufgegangen. Man hat mich gefeuert, ich habe jetzt keinen Job mehr. Ich habe erfahren, dass ich eine unheilbare Krankheit habe und dass ich qualvoll sterben werde. Mein Haus ist abgebrannt, in dem sich noch meine Mutter befunden hatte, auch tot. Und jetzt ist auch noch mein Hund weggelaufen, ganz davon abgesehen, dass mein Cricket-Team abgestiegen ist.«

      »Aber das ist doch nicht so schlimm. Das Leben geht weiter, wir können ihnen helfen.«