Frank Riemann

Das Lied des Steines


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die, wenn sie lange genug im Wasser lagen, wieder anfingen zu leben, weil sich in ihren verfärbten, aufgedunsenen Leibern eine eigene Art von Leben entwickelte. Und er hatte genug von den betrunkenen und frustrierten Vätern, die ihre kleinen Kinder erschlugen, weil sie schrien. Diese kleinen unschuldigen Körper. Grün, gelb und blau geschlagen, verdrehte Gelenke, gebrochene

      Knochen und zertrümmerte Schädel. Er hatte es nicht mehr nötig, sich spektakuläre Mordopfer anzusehen, um sich etwas zu beweisen. Es gab jüngere Kollegen, die richtig heiß auf so etwas waren, aber dazu gehörte Ben nicht. Er hatte die Schnauze voll. Er würde sich später mit den Fotos und dem Bericht des Rechtsmediziners begnügen.

      »Nein, der Bericht reicht mir erst mal.«

      Der junge Polizist schlug seinen kleinen Notizblock auf und meldete in einem emotionslosen Ton: »Cora Bastion, 48 Jahre alt, weiblich, verheiratet, eine Tochter. Vermutliche Todesursache: Tod durch die Einwirkung einer Stichwaffe, könnte ein Stilett oder ein größerer Dolch gewesen sein. Genaueres natürlich erst, wenn der Gerichtsmediziner mit ihr fertig ist. Ihre Überreste werden gerade abtransportiert.«

      »Ihre Überreste?« Ben war erstaunt.

      »Ja, der Täter muss wie wahnsinnig auf sie eingestochen haben. Ein Arm wurde fast komplett vom Rumpf getrennt. Sieht nicht schön aus.«

      »Mein Gott«, dachte Ben. »Es scheint ihm überhaupt nichts auszumachen. Wie alt mochte er sein? Zwanzig Jahre vielleicht? Gab es eine Zeit, in der mich so etwas auch völlig kalt gelassen hat? Hat es die jemals gegeben? Wie wahnsinnig? Mord aus Leidenschaft? Liebe? Hass? Eifersucht? Aufnahmeritual in eine der örtlichen Gangs?«

      »Geben Sie mir ihre Adresse«, bat er den Kollegen.

      Zwanzig Minuten später hatte ihn sein dunkelblauer 1967er Buick Wildcat zur Wohnung der Toten gebracht. Er wollte immer schon einen amerikanischen Wagen haben, seit er klein war.

      Zwei Wochen nach seinem zehnten Geburtstag hatte er zum ersten Mal einen gesehen. Seine Mutter schenkte ihm einen Pullover, den sie selbst gestrickt hatte. Seine Eltern besaßen nicht viel Geld, und mussten hart arbeiten, um ihn und seine fünf Geschwister zu ernähren. Im Herbst des Jahres sah er ihn, und es wäre beinahe das Letzte gewesen, das er zu sehen bekam.

      Ben und seine Freunde kontrollierten einen Vorort von Santiago. Er war noch nicht lange dabei, und er war der Jüngste. Sie verabredeten sich, um es den Torros aus dem Nachbarort zurück zu zahlen.

      Vor einigen Tagen hatten diese nämlich ihr Clubhaus, das zwischen alten Autowracks versteckt auf einem Schrottplatz lag, vollkommen zerstört. Das konnten sie natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Zu Acht durchstöberten sie das Gebiet der Torros. Der kleine Ben fühlte sich nicht gerade wohl in seiner Haut, aber Hector war ja bei ihnen. Er war der Anführer der Diabolos, schon 16 Jahre alt und Ben vergötterte ihn.

      »Wir trennen uns jetzt!«, kommandierte Hector. »Jeweils zu zweit schwärmt ihr aus und durchstreift die Straßen nach Süden bis zum Fluss.«

      »Komm schon!«, schnauzte Roul Ben an, ergriff ihn am Kragen seines neuen Pullovers und zog ihn hinter sich her. Ben mochte Roul nicht besonders. Eigentlich nannten ihn alle Mondgesicht, weil er so viele Pickel hatte, aber er war der Redner der Gruppe. Er konnte am besten lügen und wenn er an seinen toten Hund dachte, der alt und krank war und eingeschläfert werden musste, und ihm die Tränen über sein aufgequollenes Gesicht liefen, hatte jeder Mitleid mit ihm, und er konnte einem alles verkaufen.

      Ben und Mondgesicht zogen durch die Straßen und hielten die Augen offen nach einem Zelt, einer Bretterhütte, einem leerstehenden Haus, einem Container, einem ausrangierten LKW, oder was sich sonst noch als Treffpunkt der Torros eignen würde.

      »Warte mal«, meinte Roul nach einer Weile und stellte sich in einer Einfahrt an die Wand. »Meine Mutter gibt mir immer soviel Wasser zu trinken. Sie meint, ich würde davon abnehmen und glaubt, dass meine Haut dadurch besser werden würde. Sie nennt das verschlacken, oder so. Und dann muss ich immer den ganzen Tag davon pinkeln. Verrückte Alte.«

      »Ist gut«, antwortete Ben, sah um die nächste Ecke und erschrak. Es waren ungefähr zehn Jungs, und sie sahen nicht freundlich aus. Sie bekämen die Prügel ihres Lebens, sobald die Torros um die Ecke biegen würden. Rasch eilte er zu Roul zurück, der sich gerade die Hose zuknöpfte und sich mit einer Hand durch die Haare fuhr. »Sie kommen. Zehn Mann. Lauf!«

      »An der nächsten Straße trennen wir uns!«, rief Roul, der schon einige Meter vor ihm war. »Ich rechts, du links. Such die Anderen.« Und schon war er verschwunden.

      Dass Ben nicht ohne Grund lief, verrieten ihm die Geräusche hinter ihm, das Stampfen der Füße und das Geschrei seiner Verfolger. Er rannte über die Straße und dann nach links. Er schaute über seine Schulter zurück und achtete darauf, ob die Anderen sich auch trennen würden, aber zu seinem Entsetzen stellte er fest, dass alle nur hinter ihm her waren. Anscheinend betrachteten sie ihn als das leichtere Opfer. Roul war zwar fülliger und schneller einzuholen, aber er war auch größer und stärker und würde vermutlich mehr Widerstand leisten, als der jüngere Ben.

      Wie lange und wie weit er lief, wusste er hinterher nicht mehr zu sagen. Ben lief nur immer weiter in nördliche Richtung. Er bemerkte auch nicht, dass die Straßen etwas belebter wurden. Und dass die Torros immer noch auf seinen Fersen waren, entmutigte ihn eher, als dass es ihn anspornte. Er bekam kaum noch richtig Luft. Sein Kopf begann zu dröhnen und seine Bewegungen wurden langsamer, schleppender. Ben stolperte und stürzte. Er wollte sich fortzaubern, wollte aus dem Bett fallen und aufwachen oder zwei Stunden in die Vergangenheit reisen, dann würde er nach Hause gehen, aber nichts davon geschah. Er krümmte sich zusammen und umfasste mit beiden Armen seinen Kopf, um sich wenigstens notdürftig vor dem zu schützen, was nun kommen musste.

      Und dann fielen sie über ihn her, wie seine dicken Cousinen über einen Kuchen. Es tat weh, er schmeckte Blut, zuckte unter den Schlägen und Tritten zusammen und schrie nach seiner Mutter. Erst als zwei Männer dazwischen gingen, seine Peiniger vertrieben und ihm auf die Beine halfen, konnte er wieder etwas sehen.

      Hier stand er nun. Dreckig, zerlumpt, sein schwarzes Haar völlig verfilzt, Blut im Gesicht, alle Knochen schmerzten und da fuhr es genau vor ihm vorbei, dieses große amerikanische Auto. Die Erwachsenen redeten wild auf ihn ein, aber er hörte sie gar nicht richtig. Er hatte nur Augen für diesen Wagen. Er war sehr groß und lang. Er hatte viele Türen und dunkle Fenster. Er war von tiefem blau und er glänzte wie das weite Meer. Ben kannte die Marke nicht, aber in diesem Moment war dieses Auto für ihn zu einem Symbol der Kraft und Sicherheit geworden. Er wollte nicht mehr weglaufen, oder geschlagen werden. In so einem Wagen konnte einem nichts mehr zustoßen.

      Und so hatte er angefangen all sein Geld zu sparen, auch auf der Polizeischule. Er wollte für Recht und Sicherheit einstehen und er wollte einen amerikanischen Wagen. Als es dann soweit war, reichte sein Geld lediglich für einen heruntergekommenen 1967er Buick, aber er liebte ihn.

      Als Ramon Bastion ihn einließ, fühlte Ben sich nicht wohl. Er hatte den Mann der Toten aus dem Bett geholt, in Unterwäsche stand er vor ihm. Es war immer eine scheußliche Angelegenheit, jemanden vom Tod eines geliebten Menschen zu unterrichten.

      »Was hat meine Alte jetzt schon wieder angestellt? Hat sie wieder das Gemüse geklaut? Hören Sie, Kumpel, wenn sie wieder Ärger gemacht hat, warum warten Sie nicht, bis sie nach Hause kommt, und kommen immer zu mir?«

      »Senor Bastion, Ihre Frau kommt nicht mehr nach Hause.«

      Bastion öffnete eine Flasche Bier mit den Zähnen, nahm einen tiefen Schluck, rülpste vernehmlich und knurrte: »Na toll. Und wer macht mir jetzt mein Essen?«

      »Sie haben mich vielleicht nicht richtig verstanden. Ich bin Kommissar Latas, Mordkommission. Senor Bastion, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Frau ermordet wurde.« In Bens Kopf formten sich schon die nächsten Floskeln von `Es tut mir sehr leid` über `Wir werden alles daran setzen, den Mörder Ihrer Frau zu verhaften` bis zu `Wenn es Neuigkeiten gibt, werden wir Sie natürlich sofort benachrichtigen`, als Bastion seine Gedankengänge unterbrach...

      »Das sieht ihr wieder ähnlich. Lässt sich irgendwo abmurksen