Frank Riemann

Das Lied des Steines


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Iowa, Montag 26. April, 07:40 Uhr

      Gregory Bascomp trat aus der Tür, ging ein paar Schritte den schmalen Plattenweg hinunter, blieb vor seinem Dienstwagen stehen und sah sich noch einmal zu seinem Bungalow um. »Wie immer«, dachte er. »Niemand, der die Gardine zur Seite schiebt, um mir zum Abschied zu winken. Ich brauche ein Mädchen«, stellte er sehnsüchtig fest. »Eine, die mein Geld abholt, die Einkäufe tätigt, das Haus in Ordnung hält; und vor allem Anderen, die mich liebt, mich verabschiedet, wenn ich morgens gehe und mich begrüßt, wenn ich nachmittags nach Hause komme. Ich bin nicht fürs Alleinsein geschaffen«.

      Es war bereits ein ganzes Jahr her, dass Suzie ihn verlassen hatte. Sie hatte die Schnauze voll von diesem Kaff, ging nach New York, um Kunst zu studieren.

      »Meine Güte, Greg, hier fällt mir die Decke auf den Kopf. Der Mief erdrückt mich. Sioux City ist schon schlimm, aber hier am Stadtrand werde ich verrecken und niemand wird es bemerken.«

      »Dann suchen wir uns ein Appartement im Zentrum.«

      »Das ist doch nicht das Selbe. In New York habe ich doch ganz andere Möglichkeiten.«

      Obwohl beide in Sioux City aufgewachsen waren, und obwohl er Suzie schon fünf Jahre gekannt hatte, hatte Greg immer das Gefühl gehabt, dass sie irgendwie nur auf der Durchreise war.

      Sie sprach immer davon, eines Tages die Welt zu erobern. Nach Chicago oder New York zu gehen, oder an die Westküste nach San Franzisco oder Los Angeles. Aber das war es nicht alleine. So viele, die in einer kleinen Stadt aufwuchsen, träumten doch davon, fort zu gehen und berühmt zu werden. Aber es war ihre Art, ihr Verhalten. Zum Beispiel schrieb sie fast nie ihren Absender auf irgendwelche Briefe.

      »Die Menschen, die mir wichtig sind, wissen schon, wo sie mich finden«, sagte sie stets, wenn er sie darauf ansprach.

      Allerdings wusste er jetzt nicht, wo sie in New York war. Was sagte das über ihre Beziehung aus? Wenn es denn überhaupt noch eine Beziehung war.

      »Sieh es ein, Greg«, schalt er sich selbst, »Suzie hat nicht nur Sioux City verlassen.«

      Dann war da noch, dass sie ein Jahr, nachdem sie bei ihm eingezogen war, noch immer nicht ihre Bücher aus den Kartons geholt und in die Regale gestellt hatte, obwohl dafür genügend Platz gewesen wäre.

      »Das habe ich noch nie getan. Ich weiß genau, welches Buch sich in welchem Karton an welcher Stelle befindet.«

      Sie ließ auch nie anschreiben. Am Ende der Straße hatte der alte Silver seinen Drugstore. Diesen Namen gaben ihm vor vielen Jahren ein paar kleine Jungs, Greg war selbst einer von ihnen gewesen, wegen seiner Haarfarbe. Sein Vater erzählte ihm einmal, dass Silvers Haare schon grau gewesen waren, als er als junger Mann in die Stadt gekommen war. Bei ihm ließ die ganze nähere Umgebung anschreiben.

      Aber Suzie machte keine Schulden, bei niemandem. Sie meinte, so wäre sie beweglicher, unabhängiger und sie wolle niemals jemandem etwas schuldig bleiben. Daran, dass sie jetzt Greg etwas schuldig geblieben war, zumindest ihre neue Adresse, hatte sie anscheinend nicht gedacht.

      Was ihn zum nächsten Punkt brachte, und er fragte sich nicht zum ersten Mal, wie wichtig er ihr gewesen war. War er vielleicht auch nur eine Durchgangsstation gewesen? Seine Antwort war für ihn jedes Mal alles andere als erfreulich. Er hatte seitdem ein paar Mädchen kennengelernt. Aber entweder war er, oder sie, nach zwei drei Tagen gegangen. Das Gefühl, einen richtigen Neuanfang machen zu können, hatte sich bis jetzt noch nicht wieder eingestellt.

      Er steuerte den Wagen nach rechts, nach einigen hundert Metern abermals nach rechts auf den Hamilton Blvd, der ihn von Norden kommend direkt ins Zentrum führen würde, als sein Funkgerät ansprang: »An alle Einheiten, an alle Einheiten. Wir haben einen Code 501 auf der Allan Street, Code 501 auf der Allan. Alle verfügbaren Einheiten zur Allan. Es gibt bereits hohen Personen- und Sachschaden. Bitte bestätigen Sie.«

      Greg quittierte die Meldung über den Amokfahrer mit der Kennziffer seines Wagens, schaltete seine Rundumlichter und Alarmsirene ein und trat aufs Gaspedal.

      Kurz darauf vernahm er bereits mehrere Sirenen von Polizei- und Rettungsfahrzeugen, die alle auf dem Weg zur Allan Street, im Sioux City Zentrum gelegen, waren.

      Wollongong / Neusüdwales, Montag 26. April, 07:45 Uhr

      Kent Nillensson, weiß, 187 cm, blondes Haar, blaue Augen, unveränderliche Kennzeichen: lange Narbe vom rechten Oberschenkel über die gesamte rechte Seite bis hoch zur Brust, starb im Alter von 38 Jahren.

      Maria Nillensson, weiß, 174 cm, hellbraunes Haar, braune Augen, unveränderliche Kennzeichen: keine, starb im Alter von 34 Jahren.

      Sophia Nillensson, weiß, 147 cm, blondes Haar, blaue Augen, unveränderliche Kennzeichen: hat einen Zwillingsbruder, starb im Alter von zehn Jahren.

      Pattrick Nillensson, weiß, 147 cm, blondes Haar, blaue Augen, unveränderliche Kennzeichen: hat eine Zwillingsschwester, verstarb im Alter von zehn Jahren.

      Das war die nüchterne Bilanz, nachdem das Unbegreifliche geschehen war.

      Die Nachbarn: »Er war immer so ein guter Mann gewesen. Hatte auch für unsere Kinder immer ein liebes Wort oder ein paar Bonbons. Man sah ihn nie ärgerlich; man hörte ihn niemals schreien, er war doch immer so freundlich. Ja, die ganze Familie war immer so nett gewesen.«

      Die Mitarbeiter aus der Werbeagentur: »Ein umgänglicher, ruhiger Kollege, der immer ein offenes Ohr hatte. Wenn man mal ein Problem hatte, stand er einem mit Rat und Tat zur Seite. Bedankte man sich, oder lud ihn einmal auf einen Drink ein, dann war er sogar verlegen. Sehr bescheiden.«

      Sein Chef: »Immer pünktlich, immer korrekt. Fleißig und zuverlässig. Für mich der perfekte Mitarbeiter.«

      Seine Freunde: »Der beste Freund, den man haben konnte...«

      Ihre Freundinnen und Nachbarinnen: »Maria war immer zuvorkommend, äußerst sympathisch und in der Gemeinde sehr engagiert gewesen.«

      Niemand konnte sich vorstellen, dass sich diese liebenswürdige Familie Feinde gemacht hätte.

      Wenn Inspector Henry O`Mailey diese Aussagen im Laufe des Tages aufnehmen würde, würden seine Magenschmerzen noch stärker hervortreten, als sie es jetzt schon taten. Und wenn er noch später den Bericht zu hören bekommen wird, in dem die Spurensicherung und die Pathologie den Tatverlauf rekonstruiert haben werden, dann wird er glauben, den Verstand zu verlieren.

      Jetzt, im Moment, stand er im Eingangsbereich des kleinen Vororthäuschens und hatte schon nach wenigen Schritten rote Flecken an den Schuhen und am Saum seiner Hosenbeine. Weiter ins Haus durfte er noch nicht, da praktisch jeder Quadratmeter von der Spurensicherung untersucht wurde. Das Klacken des Auslösers der Kamera des Polizeifotografen durchbrach in unregelmäßigen Abständen die bedrückende Stille, in der sich selbst die Beamten vor Ort nur flüsternd unterhielten.

      Um einzelne Objekte herum waren Umrisse mit Kreide auf den Boden

      gezogen worden und überall standen kleine Fähnchen, die Beweise markierten und mit Zahlen bedruckt waren, herum. Die höchste Zahl, die O`Mailey von seiner Position aus sehen konnte war eine Neun. Und wenn man sich schon wunderte, wie viel Blut sich in einem menschlichen Körper befand, wie würde man erst überrascht sein, würde man das Blut von vier Menschen auf einmal sehen. Der Inspector staunte jedenfalls nicht schlecht.

      Er steckte sich eine Zigarette ins blasse Gesicht, wandte sich um und verließ das Haus. Sollten die erst einmal mit ihrer Arbeit fertig werden. Bei der Masse an Beweisstücken würde er sowieso nur stören. Wenn alles aufgenommen und katalogisiert war, konnte er immer noch hinein.

      Draußen setzte er sich auf die Treppe, entzündete seine Zigarette, blies graue Schwaden in die Morgenluft, verstaute das Feuerzeug in eine Tasche seines langen Mantels und begann zu grübeln: »Warum ich? Warum nicht Bernstein und Green? Das sind die Helden des Reviers. Ich bin der Handtaschendieb - sticht - alte - Frau - nieder - Mann, oder der betrunkener - Jugendlicher - überfährt