Azura Schattensang

Schattenkönig


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die Treppe hinabzusteigen. Levin und Orias folgten ihm und auch der Rest der Gruppe wagte den Abstieg. Nach dem sie den schier endlos langen Gang hinter sich gelassen hatten, gelangten sie in die Kammer.

      Entsetzt sog Levin scharf die Luft ein. Die Papiere, die er in der Nacht vor seiner Gefangennahme entdeckt hatte, waren verschwunden. An der Stelle, an der der wuchtige Tisch gestanden hatte, prangte nun ein riesiger schwarzer Fleck. Ringsherum fanden sich noch Reste der Asche. Mit offenem Mund starrte er auf den Boden. Dann ließ er seinen Blick über die Wand wandern. Die Zeichen für das riesige Tor befanden sich immer noch auf dem Stein, aber es wirkte so, als habe jemand in aller Eile versucht die Kreide zu verwischen. Einige Symbole waren völlig unkenntlich geworden, doch er hoffte, dass Meister Albion oder Norwin sich trotzdem einen Reim darauf machen konnten. Er steckte die Hand in seine Hosentasche und seine Finger schlossen sich um die Papiere darin. Vorsichtig zog er sie heraus und betrachtete die zerknitterten Seiten. Beinahe hätte er vergessen, dass er sie für dieses Treffen eingesteckt hatte.

      „Scheinbar hat jemand versucht sämtliche Spuren zu verwischen“, brummte Norwin.

      „Weiß jemand, was es hiermit auf sich hat?“, wollte Sharon wissen und betrachtete das Tor eingehend.

      Meister Albion trat neben sie und betrachtete es ebenfalls. „Es sieht mir schwer nach Portalmagie aus. Vielleicht ist es ein Tor in die Unterwelt, oder was meinst du, Norwin?“

      Norwin zog die Stirn kraus und legte die Finger ans Kinn. „Aber warum sollte jemand hier unten ein Tor in die Unterwelt öffnen?“

      „Könnte es sein, dass die Frauen durch dieses Portal verschwunden sind?“ fragte Levin.

      „Es wäre jedenfalls eine Erklärung für ihr spurloses Verschwinden“, überlegte Norwin. „Nur zu welchem Zweck?“ Er trat näher an die Wand und begutachtete die Zeichen. „Einige Symbole sind merkwürdig... und den Rest kann man nicht richtig erkennen!“ Er warf die Arme in die Luft und seufzte enttäuscht.

      „Vielleicht kann euch das weiterhelfen?“ Levin reichte ihm die Papiere.

      Meister Albion machte große Augen, als er über Norwins Schulter hinweg einen Blick auf die Seiten warf.

      „Levin! Woher hast du das?“, wollte Sharon erstaunt wissen. Levin hob entschuldigend die Schultern. „Ich hatte sie bei meinem Besuch hier unten eingesteckt. Es tut mir leid, aber ich hatte bei dem ganzen Trubel völlig vergessen, dass ich sie noch besitze. Sie lagen die ganze Zeit über in unserem Zimmer.“

      Aurelia war näher herangetreten, um ebenfalls einen Blick auf die Blätter zu erhaschen. Sie waren übersät mit verschlungenen Symbolen. An den Rändern befanden sich säuberlich geschriebene Anmerkungen.

      „Weiß jemand etwas damit anzufangen?“, warf sie fragend in die Runde.

      „Noch nicht. Aber wir werden es herausfinden.“ Norwin rieb sich die Hände und seine Augen bekamen einen merkwürdigen Glanz.

      „Ich werde meine Kontakte in der Akademie in Thyrr bemühen. Vielleicht kann man uns dort weiterhelfen“, schlug Sharon vor.

      „Eine ausgezeichnete Idee“, sagten Norwin und Meister Albion gleichzeitig und strahlten sie an.

      Aurelia machte ein erstauntes Gesicht. „Was ist das für eine Akademie?“

      Sharon schnalzte verächtlich mit der Zunge. „Die Akademie für Zauberei in Thyrr, im Süden von Arthenholm, ist die berühmteste und angesehenste Ausbildungsstätte für Zauberer des gesamten Kontinents. Dort lernen die talentiertesten Magier ihr Handwerk. Ich habe dort ebenfalls meinen Abschluss gemacht.“ Der Stolz in ihrer Stimme war unüberhörbar und Aurelia verdrehte die Augen.

      „Schon gut...“, murmelte sie und beugte sich zu Constantin herüber. „Ich weiß, dass ich nicht die mächtigste Zauberin bin, aber sie muss sich nicht gleich so aufplustern“, flüsterte sie ihm ins Ohr. „Aufgeblähte Henne!“

      Constantin bemühte sich ein Lachen zu unterdrücken.

      „Albi und ich waren in unseren jungen Jahren ebenfalls dort Schüler.“ Norwin legte grinsend einen Arm um seinen jüngeren Bruder.

      „Das ist schon eine Ewigkeit her“, sagte Meister Albion und schüttelte den Arm seines Bruders ab. Mit würdevoller Miene stricht er seine Tunika glatt. „Zu dieser Zeit regierte noch Heinrichs Vater.“

      Aurelia und Constantin sahen sich grinsend an. Nicht oft bekamen sie die Gelegenheit zu sehen, dass jemand den Meister in Verlegenheit brachte.

      „Nun gut. Sharon, wir wären dir sehr dankbar, wenn du Kontakt mit der Akademie aufnehmen könntest.“ Meister Albion warf einen langen Blick durch den Raum und seufzte. „Ich denke, wir können zurückkehren. Viel mehr wird uns der Aufenthalt hier unten nicht bringen.“

      Bevor er sich zum gehen wenden konnte, hielt Aurelia ihn zurück. „Auf der Akademie wurde doch mit Sicherheit auch Historie gelehrt?“

      „Durchaus, warum fragst du?“ Meister Albion sah sie durchdringend an und Aurelia wandte den Blick ab.

      „Wurde dort auch über die Ereignisse während des großen Krieges gesprochen?“

      Der Blick des Meisters schien sich nun förmlich durch sie hindurch zu bohren. „Welchen Krieg meinst du genau?“

      „Den gegen den dunklen Herrscher. Ich wüsste gerne mehr über Ansgard und Thea.“

      Sharon lachte auf. „Die alte Liebesgeschichte?“

      Aurelia warf ihr einen vernichtenden Blick zu und sah Meister Albion abwartend an.

      Er wirkte ziemlich erleichtert. „Ich denke, hier ist der falsche Ort für diese Geschichte. Lasst uns wieder nach oben gehen.“ Damit drehte er sich um und schritt aus dem Raum. Die anderen folgten ihm dicht auf. Eigentlich hatte Aurelia Meister Albion nach den Ereignissen des Krieges gegen den dunklen Herrscher befragen wollen, aber sein warnender Blick hatte sie davon abgehalten. Scheinbar wollte er Lilliths Befürchtungen noch nicht mit den anderen Teilen. Während sie zurück gingen, betrachtete sie mit finsterer Miene Sharons Rücken und fragte sich wann sie, Levin und Orias, wohl nach Arthenholm zurückkehren würden. Gegen ihren Bruder und Orias hatte sie nichts einzuwenden, die beiden waren immer sehr nett und höflich. Aber Sharon brachte sie nach wie vor zur Weißglut. Schon alleine ihre herablassenden Blicke schürten in ihr die Wut.

      Als sie den Innenraum der Bibliothek erreichten, empfing sie warmes Sonnenlicht und Aurelias Stimmung hellte sich etwas auf. Sie verdrängte Sharon aus ihren Gedanken und musterte die hohen Bücherregale. Lächelnd beschloss sie, den Nachmittag in der Bibliothek zu verbringen. Sie war sich ziemlich sicher hier auf interessante Literatur zu stoßen.

      Sie hatten die Eingangstür noch nicht ganz erreicht, als diese plötzlich aufgerissen wurde. Ein Dienstbote stürzte herein und blieb wie vom Donner gerührt stehen. Gehetzt sah er sich um. „Verzeiht mein unerlaubtes Eindringen“, sagte er schnell und verbeugte sich hektisch. „Aber eine weiße Frau ist plötzlich im Schloss aufgetaucht und wünscht die zukünftige Königin sowie ihre Berater zu sprechen.“

      Alle sahen sich verwundert an.

      „Hat sie auch einen Namen?“, wollte Kyle wissen und lockerte bereits sein Schwert.

      „Sie sagt, ihr Name sei Lillith Blutauge.“ Der Bote verbeugte sich wieder. „Ich habe sie in den Empfangssaal geführt. Sie wartet dort.“

      „Das hast du gut gemacht“, sagte Norwin und schickte ihn fort.

      „Das ist ja eine Überraschung“, sagte Aurelia aufgeregt.

      Kyle sah sie stirnrunzelnd an. „Woher kennst du Lillith?“

      Sie blieb ihm eine Antwort schuldig, raffte ihr langes Kleid und hastete hinaus. Schnellen Schrittes überquerte sie den Innenhof und verschwand im Hauptgebäude.

      „Wer ist diese Lillith?“ fragte Sharon, während sie und die anderen Aurelia folgten.

      „Eine alte Bekannte“, antwortete