Azura Schattensang

Schattenkönig


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gaben die Bediensteten schließlich auf und legten ihr stattdessen eine dunkelgrüne Bluse und enge, braune Hosen zurecht. Dazu stellten sie ein Paar Stiefel aus Wildleder parat.

      Zufrieden betrachtete Aurelia sich im Spiegel. Der Stoff war glatt und schmiegte sich eng an ihre Haut. Ihr Haar hatte man zu einem langen Zopf geflochten und kleine weiße Blüten hineingesteckt. Sie wusste nicht, warum die Bediensteten so viel Aufhebens um ihr Äußeres gemacht hatten, doch das Ergebnis gefiel ihr.

      Es klopfte an der Tür und Kyle trat ein.

      „Bist du so weit?“, wollte er wissen und vergaß beinahe den Mund zu schließen, als er sie sah.

      Sie schenkte ihm ein gewinnendes Lächeln und hakte sich bei ihm unter.

      „Aber natürlich“, säuselte sie und lotste ihn aus dem Zimmer. Draußen auf dem Flur schien er seine Fassung wiedergewonnen zu haben, denn er ging forschen Schrittes den Gang entlang und zog sie mit sich.

      „Kyle, wir befinden uns immer noch auf Schloss Ehrenthal, richtig? Ich schätze, ich war einige Zeit außer Gefecht gesetzt. Was ist bisher geschehen und was ist das für ein Treffen?“, wollte sie wissen und versuchte vergeblich sein Tempo zu drosseln.

      „Wir befinden uns immer noch auf Schloss Ehrenthal, das ist korrekt. Seit dem Tode König Roderichs sind zwei Tage vergangen...“

      „Was?!“ Sie blieb ruckartig stehen und riss ihn zu sich herum.

      „Du warst erschöpft und brauchtest Ruhe.“ Er wich ihrem Blick aus.

      „Aber ich habe noch nie zwei ganze Tage verschlafen. Zwei Tage!“

      Kyle sah sie immer noch nicht an. „Die Nachricht vom Tode Roderichs hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Canthan steht kurz vor einem Bürgerkrieg. Die Rebellen wollen eine unabhängige Regierung, wohingegen viele aus der ländlichen Bevölkerung der Monarchie verbunden sind. Wir versuchen eine Möglichkeit zu finden beide Seite zufrieden zu stellen“, fasste er die Ereignisse der vergangenen Tage kurz zusammen.

      „Wie stellt ihr euch das vor? Mit Roderich hat das letzte verbliebene Mitglied der königlichen Familie den Tod gefunden.“ Endlich sah Kyle sie an. Sein Blick war schwer zu deuten, doch sie wusste, dass er ihr etwas verschwieg und dass es ihr nicht gefallen würde, wenn sie es erfuhr.

      Sie stellte keine weiteren Fragen, sondern ließ sich von ihm den Gang hinunter führen, bis sie einen kleinen Saal erreichten. In der Mitte des Saals stand ein runder Tisch, an dem bereits mehrere Leute auf dick gepolsterten Stühlen saßen. Unter ihnen waren Sharon, Orias und ein blonder Mann, der zweifelsfrei Sharons Bruder Levin sein musste. Die Ähnlichkeit der beiden war frappierend.

      Alle Anwesenden wandten sich ihr zu, als sie den Raum betrat. Auf der anderen Seite des Tisches saßen Meister Albion und noch jemand, den sie nicht kannte. Es war ein sehr dünner Mann mit einem langen, grauen Bart und stechenden grauen Augen. Er schien mit dem Meister in ein tiefes Gespräch versunken zu sein, doch als er sie sah, verstummte er und sprang überraschend geschmeidig von seinem Stuhl. Auch Meister Albion erhob sich. Sie ließ den Blick weiter durch den Raum wandern und entdeckte eine weitere vertraute Person.

      „Constantin!“ rief sie und stürmte auf ihn zu.

      Lachend schloss er sie in seine Arme.

      „Ein Glück, du bist wohl auf“, sagte er erleichtert.

      „Dir scheint es ebenfalls nicht schlecht ergangen zu sein“, erwiderte sie und knuffte ihn in die Seite. Dann löste sie sich aus seiner Umarmung und fasste Kyle am Arm. „Ich fürchte, ihr kennt euch bereits. Das erste Zusammentreffen war vielleicht nicht das Beste, aber das lässt sich hoffentlich noch ändern.“ Sie sah zu Kyle auf und ihr Lächeln erlosch, als sie seinen Blick sah. Sie wandte sich zu Constantin und fand den gleichen Ausdruck in seinem Gesicht.

      Die beiden maßen sich mit finsterer Miene und es schien, als versuchten sie den jeweils anderen zu Tode zu starren. Die Luft um sie herum gefror förmlich zu Eis. Aurelia wusste nicht, was dies zu bedeuten hatte, doch ehe die Situation eskalierte, ergriff der hagere Mann neben Meister Albion das Wort.

      „Da nun endlich alle eingetroffen sind, schlage ich vor, dass wir Platz nehmen und mit den wichtigsten Themen beginnen.“ Er klatschte auffordernd in die Hände und die Anwesenden, Aurelia und Kyle eingeschlossen, suchten sich einen Platz am Tisch. Constantin ließ sich neben Meister Albion nieder und zwinkerte ihr aufmunternd zu, während sie und Kyle sich schräg gegenüber an den Tisch setzten.

      „Da nicht jedem die Namen aller anwesenden Person bekannt sind, nehme ich mir die Freiheit mich selbst und sämtliche Anwesenden kurz vorzustellen.“ Der dünne Mann machte eine kurze Pause. „Mein Name lautet Norwin Weyhers. Ich war der oberste Zauberer des königlichen Rates und engster Vertrauter König Heinrichs. Neben mir sitzen Meister Albion und sein Schüler Constantin Korell vom Orden der weißen Zauberer.“ Er nickte den beiden zu. „Ebenfalls anwesend sind Aurelia Nachtschatten, eine weitere Schülerin des Ordens und der ehemalige General der königlichen Leibgarde Kyle Farland.“ Er räusperte sich kurz, als leises Gemurmel aufbrandete, als Kyles Name genannt wurde. „Zu meiner linken darf ich Arvid Nader, oberster Berater König Roderichs und den Schatzmeister Ludbrock vorstellen. Des Weiteren begrüße ich Lord Roxley und unsere Gäste aus Arthenholm in unserer illustren Runde.“ Mit einer Hand deutete er auf Sharon. „Mir gegenüber sitzen die Hohe Magierin Quoos, ihr Bruder Oberst Levin Quoos und Leutnant Orias Moll.“

      Aurelia beobachtete verstohlen die Anwesenden, während Norwin fortfuhr, die restlichen Personen vorzustellen. Mit am Tisch saßen noch die Rebellenführer Thoumas und Jorg. Beides waren grobschlächtige Kerle, wobei Thoumas einen scharfen Verstand zu besitzen schien. Er hatte die Augen eines Raubvogels und ließ den Blick, ebenso wie sie, umher schweifen. Als sein Blick auf sie fiel, stellten sich ihr die Nackenhaare auf. Es lag ein mörderischer Ausdruck in seinen Augen. Sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen, während sie sich tiefer in ihren Stuhl presste. Der Rebellenführer wirkte, als würde er ihr am liebsten einen Dolch ins Herz rammen und sie hegte keine Zweifel daran, dass er es wirklich tat, wenn sich die Gelegenheit dazu bot. Doch warum nur? Was hatte sie ihm getan?

      Sie spürte, dass Kyle sie von der Seite her ansah, doch sie hielt den Blick auf die Tischplatte gerichtet. Kyle hatte sich ihr gegenüber ebenfalls seltsam verhalten. Was wurde hier nur gespielt?

      „Der Grund weswegen wir uns heute hier eingefunden haben, ist die Entscheidung über das weitere Schicksal Canthans.“ Norwin setzte sich und riss Aurelia aus ihren Gedanken. „Das Land ist aktuell ohne Führung und steht kurz davor in Chaos zu versinken. Wir werden später die bestehenden Möglichkeiten besprechen, doch zunächst möchte ich kurz die Ereignisse, welche sich auf Schloss Ehrenthal vor zwanzig Jahren ereignet haben, zusammenfassen.“

      „Das sollte interessant werden“, murmelte Constantin halblaut und fing sich einen vernichtenden Blick von Meister Albion und Sharon ein. Er hob entschuldigend die Hände, doch kam nicht umhin Aurelia grinsend zu zuzwinkern. Sie erwiderte sein Grinsen, dann setzte sie sich auf und sah Norwin aufmerksam an. Je länger sie ihn betrachtete, um so deutlicher wurde seine Verwandtschaft mit Meister Albion. Sie entdeckte immer mehr Details, die er sich mit seinem jüngeren Bruder teilte, auch wenn die Ähnlichkeiten nicht so hervorstachen wie bei Sharon und Levin. Dann sprach Norwin weiter.

      „Vieles liegt noch immer im Dunkeln, doch einige Teile des Puzzles konnten wir bereits zusammenfügen.“ Er räusperte sich. „Alles begann, nachdem Roderich von einer seiner vielen Expeditionsreisen zurückkehrte. Seine Leidenschaft galt hauptsächlich dem Sammeln von historischen Artefakten und der Erforschung längst vergangener Kulturen. Eines Tages kehrte er zurück und war wie verwandelt. Der sonst so freundliche und offenherzige Roderich hatte sich in einen kalten, grausamen Mann verwandelt.“

      Bei diesen Worten begann Kyle kaum merklich zu nickten. Scheinbar erinnerte er sich an diesen Tag.

      „Ich hielt ein wachsames Auge auf Roderich gerichtet, denn seine Wesensveränderung gefiel mir nicht. Er war nie ein starker Zauberer gewesen und doch spürte ich plötzlich einen starken Anstieg seiner Macht. Auch seine Geschwister waren in Sorge, denn er zog sich immer mehr zurück.“