Azura Schattensang

Schattenkönig


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vor zwanzig Jahren, unterhielt ich mich mit seiner hochschwangeren Schwester Amelia und ihrem Mann Thjark darüber. König Heinrich und Königin Gwendolyn waren noch in einer Konferenz, weswegen sie nicht dabei sein konnten. Es war schon spät und ich wollte mich auf mein Zimmer zurückziehen, als ich den Flur betrat und die Schreie hörte. Ich hastete zum Ort des Geschehens und musste mit Entsetzen feststellen, was sich im kleinen Ratssaal zugetragen hatte. Ohne zu zögern machte ich kehrt und eilte, so schnell es ging, zu Amelia und Thjark zurück.“

      Wie gebannt hing Aurelia an Norwins Lippen. Auch die anderen hörten ihm aufmerksam zu. Keiner verursachte auch nur den leisesten Laut, sodass in den kurzen Pausen eine gespenstische Stille im Raum hing.

      „Wir wussten, was es zu bedeuten hatte und was getan werden musste. Thjark hielt uns den Rücken frei, während ich Amelia aus dem Schloss hinaus brachte. In ihrem Zustand war das Reisen nicht einfach, doch sie biss die Zähne zusammen und wir schafften es bis ans andere Ende des Königreiches. Bei der Familie einer guten Freundin von mir, suchten wir Unterschlupf.“ Norwin richtete den Blick auf Aurelia. „Amelia brachte ihre Tochter zur Welt, doch die Strapazen der Reise hatten ihr so zugesetzt, dass sie wenige Tage später verstarb. Die Familie versprach ihr am Sterbebett, gut auf ihre Tochter zu achten und sie wie ihr eigenes Kind groß zu ziehen. Ich kehrte zum Schloss zurück, um die Entwicklungen zu verfolgen. Mit dem guten Gewissen, dass die Letzte aus dem Geschlecht der Algrims weit ab von allem ein wohlbehütetes Leben führen würde.“ Er faltete die Hände und stützte sein Kinn darauf, während er Aurelia noch immer unverwandt ansah.

      Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken und eine bittere Erkenntnis zupfte an den Rändern ihres Verstandes. Sie spürte eine Berührung und sah, dass Kyle ihre Hand gefasst hatte. Auch die anderen warfen nun interessierte Blicke in ihre Richtung. Constantin runzelte die Stirn und verschränkte die Arme vor der Brust, während er über Norwins Worte nachzudenken schien.

      „Vieles deutet darauf hin, dass Roderich von einer dunklen Macht besessen wurde. Wie dies geschehen konnte und aus welchem Grund wissen wir noch nicht. Jedoch steht fest, dass uns eine viel größere Gefahr droht. Darum ist es umso wichtiger, dass Canthan vereint unter einem Banner steht. Die Rufe nach Veränderung sind nicht zu überhören und wir werden sie nicht ignorieren“, brachte Norwin das Thema zurück zum eigentlichen Grund ihres Zusammentreffens. Er machte eine kurze Pause, in welcher Jorg und Thoumas gewichtige Blicke miteinander tauschten.

      „Wir Rebellen wünschen ein größeres Mitspracherecht des einfachen Volkes“, ergriff Thoumas das Wort. „Wir wollen eine Gewaltenteilung. Das Volk soll in Bereichen wie der Gesetzgebung und den Steuern Einfluss nehmen können.“

      Norwin nickte ihm verständnisvoll zu. „Jedoch geht dies nur in Zusammenarbeit mit dem König oder der Königin...“, wies er den Rebellenführer darauf hin.

      Thoumas schnaubte abfällig.

      „Na schön. Kommt endlich zum Punkt, alter Mann. Die Spannung ist kaum noch auszuhalten“, grollte er und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, ehe er Aurelia mit einem finsteren Blick bedachte.

      Falls Norwin über diese Frechheit erzürnt war, ließ er es sich nicht anmerken. Stattdessen strich er über sein Gewand und holte Luft.

      „Verzeiht“, unterbrach Aurelia Norwin, ehe er zu reden begann. „Scheinbar muss mit etwas entgangen sein. Ihr wollt einen neuen König oder eine Königin auf den Thron setzen. Aber wie Ihr selber sagtet, wurde die königliche Familie bis auf eine einzige Ausnahme ausgelöscht. Woher wisst Ihr, ob Amelias Tochter noch am Leben ist?“ Sie fürchtete die Antwort auf diese Frage. Inständig hoffte sie, dass sie dies alles nur missverstanden hatte. Vielleicht war es nur ein Produkt ihrer wilden Fantasie. Vermutlich hatte sie einfach zu viele Geschichten gelesen. Kyle drückte ihre Hand fester und verstärkte damit ihre Befürchtungen.

      „Wenn mich meine Augen nicht täuschen, sitzt sie mir sehr lebendig gegenüber. Aurelia Algrim, Tochter von Amelia und Thjark. Aufgezogen von Elmar und Lorain Nachtschatten, gemeinsam mit ihrer Tochter Loreley.“

      Aurelia sprang so heftig von ihrem Stuhl auf, dass er umkippte. „Dieses Märchen soll ich Euch glauben?! Das kann nicht stimmen!“ Kyle fasste sie am Arm, doch sie riss sich los. „Das ist... das ist gelogen. Ihr sucht doch nur eine Marionette für Euren ausgeklügelten Plan.“ Sie trat einen Schritt zurück. „Ich glaube Euch kein Wort!“ Damit wirbelte sie herum und stürmte aus dem Saal.

      In ihrem Kopf herrschte ein einziges Durcheinander. Alles an was sie bis jetzt geglaubt hatte, jede Erinnerung, jede vermeintliche Wahrheit, erschien plötzlich wie ein Trugbild. Ihre Welt stürzte polternd in sich zusammen.

      Sie rannte den Gang entlang, bis zu dem Zimmer, in dem sie vor wenigen Stunden erwacht war. Zögernd hielt sie inne, dann öffnete sie die Tür und schloss sie hinter sich mit einem Knall. Hastig drehte sie den Schlüssel und verriegelte die Tür. Dann lehnte sie sich dagegen und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Eines stand fest - sie musste fort von hier. Sie würde keine Sekunde länger auf diesem Schloss verweilen. Vermutlich war Kyle schon auf dem Weg zu ihrem Zimmer. So, wie sie ihn kannte, würde er nicht zögern und das Schloss der Tür aufbrechen. Kyle. Ein scharfer Stich durchfuhr ihr Herz, als sie an ihn dachte. Er hatte es gewusst. Er musste es die ganze Zeit über gewusst haben. Wütend schlug sie mit der Faust gegen die Wand. Der Schmerz fuhr bis in ihre Schulter. Fluchend ging sie zum Fenster und sah hinaus. In der Ferne konnte sie die Berge sehen und eine Idee formte sich in ihrem Kopf. Lächelnd öffnete sie die Fensterläden, blickte hinunter und musterte dann die Vorhänge. Ein freudloses Grinsen stahl sich auf ihre Lippen. Oh nein. Sie würde keinen weiteren Augenblick hier verbringen.

      Kapitel 2

      „Ich hatte Euch davor gewarnt, dass sie so reagieren würde!“ Gereizt erhob sich Kyle von seinem Platz und folgte Aurelia. Er war von Anfang an gegen dieses Vorhaben gewesen, doch Norwin hatte sich nicht davon abbringen lassen. Am Morgen hatte er noch mit dem Gedanken gespielt, ihr selbst die Wahrheit über ihre Vergangenheit zu sagen, doch er fürchtete um ihre Reaktion. Wahrscheinlich hätte sie ihm gar nicht erst geglaubt. Er fluchte. Warum musste die ganze Situation nur so verworren sein? Wütend auf sich selbst und auf Norwin, schritt er den Gang entlang. Hoffentlich beging Aurelia keine Dummheit. Er erreichte die Tür zu ihrem Zimmer und blieb unsicher stehen. War sie hineingegangen oder hatte sie sich einen anderen Platz gesucht? Aber wohin hätte sie gehen sollen? Sie kannte sich im Schloss nicht aus. Versuchsweise klopfte er an die Tür. Erleichtert atmete er auf, als er ihre Stimme hörte.

      „Wer ist da?“ Die Worte klangen gedämpft durch das Holz.

      „Ich bin es. Kyle. Aurelia, ich komme rein“, sagte er und drückte die Klinke hinunter. Verdutzt sah er auf. Sie hatte die Tür von innen verschlossen. „Aurelia. Bitte, mach die Tür auf!“

      „Verschwinde!“ War alles was sie darauf zu sagen hatte.

      Wenn er es gewollte hätte, hätte er die Tür mit Leichtigkeit aufbrechen können, doch zu welchem Zweck? „Aurelia!“, versuchte er es erneut.

      „Ich will dich nicht mehr sehen! Verschwinde endlich!“

      Ihre Worte trafen ihn härter, als er es für möglich gehalten hatte. Betrübt ließ er den Kopf hängen. Er konnte sie verstehen. Immerhin hatte man soeben ihre Vergangenheit, ihre gesamte Existenz, als Lüge enttarnt.

      „Aurelia... egal was gesagt wurde. Du bist immer noch du! Daran wird sich nichts ändern.“ Er trat dicht an die Tür und lehnte die Stirn gegen das Holz. „Auch wenn du es gerade nicht hören willst. Ich bin für dich da. Ich werde immer da sein!“ Er musste sich fest auf die Unterlippe beißen, um nicht mehr zu sagen. Das Verlangen sie in seine Arme zu schließen, wie in jener Nacht vor wenigen Tagen, war schier unerträglich. Doch sie war seine Königin. Mehr als dieses Versprechen, konnte er ihr nicht geben. Auch wenn sein Herz daran zerbrach. Zerknirscht wandte er sich von der Tür ab und ging davon. Vielleicht würde sie sich bis zum Abend beruhigt haben. Ziellos begann er durch das Schloss zu wandern.

      Am Abend erschienen die Bediensteten, welche Aurelia zugeteilt waren, an seinem Zimmer. Die