Dirk Christofczik

Die Mondsteindiät


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Reflexartig kniff er seine Augen zusammen, als das grelle Licht die grauen Betonwände im Keller erhellte. Eilig bewegte er sich durch die kahlen Gänge, passierte die riesigen Trockenräume, die mit Maschendraht eingezäunt waren. Ein Hemd baumelte einsam an einer Wäscheleine, eine Szene wie aus einem postapokalyptischen Traum.

       Mit schnellen Schritten bog er in den Gang ab, in dem sich seine Kellerparzelle befand.

      407 war auf die Holztür gepinselt, die Nummer seiner Wohnung. Er suchte den Schlüssel für das Vorhängeschloss an seinem Bund. Einen Moment befürchtete er, dass der Schlüssel auf dem Regal im Korridor lag, doch dann fand er ihn an seinem Bund. Er schloss die Tür zu seiner Parzelle auf, öffnete sie und trat hinein. Mit der Hand tastete er über die Wand, fand den Lichtschalter und betätigte ihn. Eine Neonröhre erwachte stotternd zum Leben. Sie flackerte unentschlossen, dann zündete sie und erleuchtete den viereckigen Kellerraum hell wie ein Flutlicht. Koffer hausten neben alten Farbeimern, Kisten mit Krimskrams und niemals ausgepackten Umzugskartons in einem wackeligen Ikea Regal. Verstaubte Tapetenrollen, schmutzige Plastikeimer und Stapel alter Schallplatten waren ihre Zimmergenossen. Ein betagter Videorekorder versteckte sich hinter einem verklebten Tapetentisch und gaffte sehnsüchtig zu dem Röhrenfernseher hinüber, der sein Gnadenbrot in der hintersten Ecke des Kellers verzehrte. Er beachtete die Requisiten eines vergangenen Lebensabschnitts nicht, sondern griff zielstrebig nach einem Schuhkarton, den er erst vor wenigen Wochen dort deponiert hatte. Mit der Pappkiste unter dem Arm verließ er den Keller. Fünf Minuten später saß er auf einem Stuhl in seiner Küche. Der Schuhkarton stand vor ihm auf dem Resopaltisch, daneben das Notebook, das er vor ein paar Jahren beim Pokern gewonnen hatte. In der Hand hielt er eine eiskalte Flasche Bier, die er mit einem Zug halb leerte. Er unterdrückte ein tiefes Rülpsen. Geistesabwesend starrte er auf den Karton. Blind stellte er die Flasche auf den Tisch, gerade weit genug vom Rand entfernt, damit sie nicht herunterfiel. Wie ein Magier hob er seine Hände, bewegte sie lethargisch auf den Karton zu und hob den Deckel so vorsichtig hoch, als erwarte er eine böse Überraschung. Er legte den Deckel beiseite, rückte mit dem Hinterteil bis auf die Stuhlkante und stützte sich mit den Ellenbogen auf der Tischplatte ab. Neugierig schaute er in das Innere des Kartons und musterte den Gegenstand darin. Eine Weile verharrte er in der Position, seinen Blick wie ein Traktorstrahl in die Schachtel gerichtet, dann nahm er behutsam den Gegenstand aus der Kiste und stelle ihn auf den Tisch. Eine Minute, vielleicht zwei saß er regungslos da, um sich dann aufzurichten, das Notebook auf den Schoß zu nehmen und den Computer zu starten. »Auf geht’s«, sagte er zu sich selber, öffnete ein leeres Word-Dokument und begann zu schreiben.

      Kapitel 2

      Die Sonne stand im Zenit und brannte heiß. Der feine, weiße Sandstrand glühte wie Holzkohlen unten den Fußsohlen der Urlauber. Angestellte der zahlreichen Luxus-Resorts kämpften den aussichtslosen Kampf gegen die Hitze und wässerten schmale Streifen des Strandes, damit sich ihre betuchten Gäste nicht die pedikürten Füße verbrannten.

       Karl lümmelte sich auf einem Liegestuhl und genoss eine kalte Margarita, das Glas hatte einen Salzrand, so wie er es mochte. Ein extragroßer Sonnenschirm schützte ihn vor der ungeheuren Kraft der strahlenden Sonne. Gemächlich drehte Karl seinen Kopf zur Seite und warf einen Blick auf die besetzten Tische seiner Strandbar. Das Geschäft lief wie geschmiert, der Rubel rollte und ihm ging es prächtig. Vergessen war die Zeit, als er ohne Arbeit und Geld im grauen Deutschland dahinvegetierte. Jetzt war er am Ziel seiner Träume! Endlich besaß er seine eigene Bar auf den Malediven!

       Den Vormittag hatte er im Spa des angrenzenden Hotels verbracht, sich massieren lassen und mit einer kakaobraunen Latinamaus namens Maria geflirtet. Jetzt war er schläfrig, deshalb schloss er die Augen und fiel sofort in einen sanften Dämmerschlaf.

       Tok, Tok, Tok

       Karl brabbelte wie ein kleines Baby. Sabber lief aus seinem Mundwinkel.

       Tok, Tok, Tok

       »Junger Mann? Hallooooo!«

       Im Halbschlaf nahm Karl eine Stimme wahr. Er war zu müde, um zu reagieren.

       Plötzlich sackte er zusammen und fiel ins Leere.

       »Vorsicht!«

       Jemand packte ihn an der Schulter und schüttelte ihn wie einen Milchshake durch.

       »Aufwachen junger Mann«, nuschelte ihm jemand zu.

       Schlaftrunken schaute Karl sich um. Ein Augenpaar direkt vor seinem Gesicht, eine pechschwarze Hand hielt seinen Arm, etwas Muffiges versuchte, in seine Nasenlöcher einzudringen.

       »Nun kommen Sie zu sich! Auch der Weihnachtsmann darf nicht parken, wo er will«, quasselte eine unverständliche Stimme auf ihn ein.

       Jetzt traf es ihn wie der Schlag und plötzlich war er hellwach. Er dämmerte auf keinem Liegestuhl, er besaß keine Strandbar und schöne Latina beachteten ihn nur, wenn sie mit Luft gefüllt waren und in einem Beate-Uhse-Karton frei Haus geliefert wurden.

       Die Realität war sein Auto, ein verrosteter Nissan, Baujahr 1995. Jemand hatte die Fahrertür aufgerissen und er wäre fast in eine Schneewehe gestürzt, die man zurzeit an jedem Straßenrand fand. Vor einer Woche hatte der Winter mit eisiger Hand zugeschlagen. Eine dichte Schneedecke überzog die ganze Stadt, dazu herrschten Temperaturen wie am Nordpol.

       Karl schaute in das Gesicht des Mannes, der die Tür aufgerissen hatte, aber er sah nur eine rot geäderte Erdbeernase, die wie eine Knolle zwischen dem Rand einer Wollmütze und dem hochgezogenen Kragen einer Daunenjacke hervorlugte. Der Mann zog den Kragen ein Stück runter. Zwei unvollständige Reihen von nikotinverfärbten Zähnen bleckten zwischen zwei blau angelaufenen Lippen hervor.

       »Der Weihnachtsmann hat wohl ein kleines Nickerchen gemacht«, frotzelte der Mann. Mittlerweile war Karls Schlafdemenz verflogen. Er saß in seinem Wagen, irgendwo in Wanne-Eickel. Karl trug rote Hosen und einen roten Mantel, dazu eine Zipfelmütze in derselben Farbe. In seinem Gesicht klebte ein langer weißer Rauschebart aus Kunststoff. Sein Job war es in einer Familie den Weihnachtsmann zu mimen, somit verdiente er sich ein paar Euro, die er dringend benötigte. Seit zwanzig Monaten war er arbeitslos. Das Arbeitslosengeld war mittlerweile ausgelaufen, deshalb lebte er von Hartz IV und war froh über jeden Euro, den er sich dazu verdienen konnte.

       Den Job als Weihnachtsmann machte er für einen alten Klassenkameraden, der seine beiden Kinder überraschen wollte. Fünfzig Euro bekam er für seinen Auftritt, schnell verdientes Geld, das die ARGE nicht zu interessieren hatte.

       Aufgrund des Schneechaos hatte er sich schon um zwei Uhr nachmittags auf den Weg gemacht. Normalerweise brauchte er nur fünfzehn Minuten bis nach Wanne-Eickel. Die Straßen waren überraschend gut befahrbar, obwohl schon seit Tagen in den Nachrichten von zur Neige gehenden Streusalzvorräten gesprochen wurde. Zumindest in Bochum und Umgebung schien man noch Reserven zu haben. Zwar türmten sich an den Straßenrändern vom Schmutz verfärbte Schneewehen, doch die Fahrstreifen waren gut geräumt und problemlos zu befahren. Um halb drei hatte Karl die Straße erreicht, in der sein Bekannter wohnte. Er wollte nicht zu früh anklingeln, deshalb hatte er seinen Nissan in eine Parklücke gelenkt und sich seinen Träumen von einem besseren Leben ergeben.

       Karl zog seinen Kunstbart bis zum Kinn herunter.

       »Was ist los?«, brummte er so tief als hätte seine Weihnachtsmannshow bereits begonnen.

       »Sie stehen vor meiner Einfahrt«, erwiderte der alte Mann freundlich. »Und ich würde jetzt gern rausfahren, ich habe gleich einen Termin beim Urologen. Die Blase!«

       »Tut mit Leid, bin schon weg«, grummelte Karl durch seinen falschen Rauschebart. Er drehte den Autoschlüssel im Zündschloss und bekam ein Stottern des Motors als Antwort.

       »Rentiere sind wohl doch zuverlässiger«, kommentierte der Rentner mit einem süffisanten Grinsen, welches Karl am liebsten mit einem Kopfstoß beantwortet hätte. Wortlos knallte er die Fahrertür zu. Nach dem dritten Startversuch erwachte der Motor seines altersschwachen Nissan zum Leben. Mehr rutschend als fahrend steuerte Karl den Wagen aus der Einfahrt des Rentners und fand ein paar Meter weiter eine freie Parklücke. Er befand sich nur noch wenige Meter vom Haus seines Schulkollegen entfernt. Boris war der Name