Dirk Christofczik

Die Mondsteindiät


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was euch kaputtmacht« oder »Traue keinem über 30!« und lehnte sich jede erdenkliche Regel auf. Das sogenannte Establishment war sein Erzfeind, nun war der einstige Rebell darin verschmolzen und gehörte zu denen, die die Regeln machten, die er früher so verschmähte. Boris war Finanzberater bei der Deutschen Bank, jonglierte an der Börse mit schwindelerregenden Beträgen und verdiente eine Menge Geld. Er war praktisch ständig unterwegs in London, New York, Tokio oder sonst wo. Nun wollte er seine Kinder überraschen und ihnen den Weihnachtsmann nach Hause schicken. Karl wischte über das beschlagene Armaturenbrett und schaute auf die Digitaluhr: 14:56 Uhr, Zeit sich auf den Weg zu machen. Mittlerweile hatte es wieder angefangen zu schneien. Eine weiße Schicht breitete sich über der gefrorenen Decke aus Schnee, Salz und Winterstreu aus. Mühsam stieg Karl aus dem Auto aus. Er trug alte schwarze Lederstiefel mit einer dicken Gummisohle, trotzdem schlidderte er über den Bürgersteig, als trüge er Gleitschuhe an den Füßen. Karl lehnte sich an einen Baum und kontrollierte seine Verkleidung. Er zupfte an seinem Kunstbart herum, bis er ordentlich saß. Die rote Zipfelmütze rückte er ordentlich auf seinem Kopf zurecht, anschließend kontrollierte er den Rest seines Kostüms. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass er als Weihnachtsmann durchging, stapfte er durch den Schnee zu seinem Einsatzort. Vor ein paar Jahren, als er noch seine Arbeit hatte, war er im Haus seines Schulkameraden gewesen. Es war Boris vierzigster Geburtstag und sein Freund schmiss eine Grillparty in seinem Garten, der ihm so groß wie ein halbes Fußballfeld vorkam. Knapp hundert Leute waren zugegen, die sich bei strömenden Regen in einem stickigen Partyzelt drängten. Genauso viel Flüssigkeit, wie es vom Himmel regnete, floss als Bier, Wein und Schnaps in die Blutbahn der Anwesenden. Trotz des Unwetters war es ein gelungenes Fest und Karl erinnerte sich gern an diesen Abend zurück. Vor allen Dingen, weil es das letzte Mal war, dass er sich richtig amüsierte und unter Menschen kam. Heute erkannte er das Anwesen seines Schulfreundes kaum wieder. Das rote Backsteinhaus sah aus, als wäre es die Kulisse einer Märchenverfilmung. An der Dachrinne war eine meterlange Lichterkette befestigt, an der Glühlampen in allen erdenklichen Farben unaufhörlich blinkten. Eine Armee von Weihnachtsmannfiguren hangelte sich an der Hauswand in die Höhe, einer von ihnen hatte den Schornstein auf dem verschneiten Dach erreicht und kletterte zielstrebig daran in die Höhe. Karl erblickte weitere grell leuchtende Lichterketten, die in einem Abstand von weniger als einem halben Meter senkrecht an der Hauswand angebracht waren. Er senkte den Blick und entdeckte einen weiteren Weihnachtsmann, der in einem beleuchteten Schlitten saß und von vier Rentieren gezogen durch den Garten jagte. Ein mannshoher Schneemann beobachtete schweigend die Szenerie, flankiert von einer riesigen Tanne, deren Zweige mit Hunderten schillernden Elektrokerzen bestückt waren. Karl atmete tief durch und dachte an die Kosten für diese Stromverschwendung, dann öffnete er das Tor, das ihn zum Haus führte, ging hindurch und blieb vor der Haustür stehen. Erneut überprüfte er seine Verkleidung, dann schellte er an. Sofort ertönte von innen das Kläffen eines Hundes, das Karl an das Bellen seinen Jack Russel Terrier Jacko erinnerte. Es dauerte einen Moment, dann hörte er Schritte hinter der Tür, die sich ein paar Augenblicke später öffnete. Die Frau seines Freundes erschien im Türrahmen. Karl erinnerte sich nur dunkel an sie, seinerzeit bei der Geburtstagsparty hatte er sich nur kurz mit ihr unterhalten. In seiner Erinnerung war sie arrogant und unnahbar. Sein Eindruck von damals schien sich zu bestätigen, denn die Frau schaute ihn mit kalten Augen von oben herab an. »Ho, ho, ho«, brummte Karl. Ein winziger Pudel flitzte durch den Korridor und klammerte sich an sein rechtes Bein. Der kleine Hund kläffte unaufhörlich, dabei sprang er an Karl hoch, als ob er die Liebe seines Lebens gefunden hätte. »Cora«, herrschte die Frau den Hund an. Boris Frau packte den Pudel am Halsband und zerrte ihn von Karl weg. Sie öffnete eine Tür und schob den Hund in den dahinter liegenden Raum. Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, wurde das laute Bellen gedämpft. »Ho, ho, ho!«, wiederholte Karl. »Lassen Sie den Unsinn und kommen Sie herein. Sie sind unpünktlich.« Karls Stimmung sank ins bodenlose. Er schob den Ärmel des Kostüms nach oben und blickte auf seine Armbanduhr. »Es ist kurz vor drei«, bemerkte er, während er in die Diele des Hauses trat. »Zu früh ist auch unpünktlich«, schnauzte sie ihn an, »Und treten Sie den Schnee von ihren Stiefeln ab, sonst versauen Sie mir die Läufer.« Karl musste schlucken. Die Frau war so unfreundlich, dass ihm die Galle hochkam. Am liebsten hätte er ihr die Meinung gesagt und die fünfzig Euro auf ihre hochstehende Nasenspitze getackert. Doch er riss sich zusammen und schluckte den Ärger herunter. Sein Freund zählte auf ihn und die Kinder freuten sich auf den Besuch des Weihnachtsmannes. Mit einem dicken Hals machte er einen Schritt zurück, klopfte sich die Stiefel gründlich auf der Fußmatte ab und trat zurück in die Diele. Die Hausherrin schloss die Tür hinter ihm. »Wo sind die Kinder?«, fragte Karl. Er erhielt keine Antwort, sondern wurde von der Frau seines Schulfreundes skeptisch beäugt. Sie taxierte ihn wie ein Stück Fleisch in der Auslage eines Metzgers. »Was ist mit Ihrem Sack?« »Wie bitte?« »Ihr Sack? Was ist mit Ihrem Sack?«, wollte sie von ihm wissen. »Mein Sack?«, fragte er vorsichtig. »Was … soll damit sein?« Karl starrte die Frau an. Wohlmöglich trieb sie einen Scherz mit ihm und würde jeden Augenblick ihn schallendes Gelächter ausbrechen. Doch nichts dergleichen geschah, im Gegenteil, die Gesichtszüge der Frau verhärteten sich immer mehr. Sie sah aus als wäre sie zu einer Salzsäure erstarrt. Karl befürchtete, dass ihr Gesicht zerbröckeln würde, wenn sie ihn erneut nach seinem Sack fragte. »Ein Weihnachtsmann ohne Sack ist mir noch nie unter die Augen kommen«, zischte sie zwischen ihren aufgespritzten Lippen hindurch. »Wo ist Ihrer?« Endlich begriff Karl, worauf die Frau hinaus wollte. Er hatte den Sack mit den Geschenken im Kofferraum seines Autos vergessen. Er schämte sich für seine schmutzigen Gedanken und machte sich auf den Weg, den Sack aus seinem Wagen zu holen. Einige Minuten später klopfte er sich erneut die Stiefel auf der Fußmatte ab und betrat das Haus. »Sie sind zu spät!«, empfing ihn die Frau seines Freundes. »Was?«, fragte Karl entgeistert. »Egal! Kommen Sie mit, die Kinder warten im Wohnzimmer. Bleiben Sie eine Minute vor der Wohnzimmertür, dann kommen Sie herein«, instruierte sie ihn im Ton einer Oberschullehrerin, »Und …«, die Frau musterte ihn von oben bis unten, »Setzen Sie sich nicht auf die Couch!« Karl biss sich auf die Unterlippe und hielt den Mund. Nachdem die Frau hinter der Tür verschwunden war, begann er langsam bis sechzig zu zählen. Mit einem tiefen Ho, ho, ho schritt er in das Wohnzimmer. Er hatte den Sack über die Schulter geworfen und blieb zwischen Tür und Rahmen hängen. Mit einem Ruck befreite er sich, wobei er mit dem Sack gegen ein niedriges Tischchen stieß, auf dem eine Porzellanvase ins Wanken geriet. Zu Karls Erleichterung blieb das gute Stück stehen. Er verstand nichts von Kunst, aber die Vase sah erschreckend wertvoll aus. Die Hausherrin saß in einem Sessel aus weißem Leder und beschoss ihn mit tödlichen Blicken aus ihren giftgrünen Augen. Karl trat in den Raum, der die Ausmaße einer Turnhalle hatte. Auf der Couch, die Karl nicht benutzen durfte, entdeckte er die Kinder: zwei Jungen, eineiige Zwillinge, etwa sechs Jahre alt, gleich groß und gleich übergewichtig. Knallrote Pausbacken flankierten die Doppelkinne in ihren speckigen Gesichtern. Fettschürzen spannten ihre T-Shirts, auf denen Spongebob grässlich verzehrt grinste. Beide Kinder hielten einen Nintendo DS in ihren Händen und starrten gebannt auf das rechteckige Display. Krachen, Quietschen und Schreie drangen aus den winzigen Lautsprechern. Nahezu synchron griffen die beiden unaufhörlich in eine Schüssel mit Chips, die zwischen ihnen auf der Couch, Sperrgebiet für Karl, stand, und stopften sich die frittierten Kartoffelscheiben in den Mund. Sein Erscheinen registrierten die beiden nicht. »Jonas, Malte, schaut mal, wer da ist!«, rief die Frau meines Schulkollegen ihren Kindern zu. Plötzlich klang ihre Stimme warm und freundlich. Ihre Arroganz und kalte Distanziertheit war verflogen. Die beiden Jungen starrten grimmig über den Rand ihrer portablen Spielkonsolen hinweg. Gelangweilt musterten sie Karl, dann widmeten sie sich wieder ihrer virtuellen Spielwelt. Karl rollte die Augen unter den buschigen Augenbrauen, die er sich angeklebt hatte. Die Kinder waren ihm vom ersten Augenblick an unsympathisch. Verwöhnte, reiche Bälger, die alles in den Hintern geschoben bekamen und die Arroganz ihrer Mutter geerbt hatten. Er hoffte, schnell wieder aus diesem Haus zu kommen. Wie konnte sein Schulkollege es nur mit dieser Familie aushalten? Die Hausherrin stand von der Couch auf, schob einen niedrigen Telefonhocker in die Mitte des Raumes, dann signalisierte sie Karl mit einem Fingerzeig Platz zu nehmen. Nachdem Karl saß, widmete sie sich ihren Zwillingen, kniete sich vor ihnen auf den Boden aus grauem Granit und klappte behutsam die Spielgeräte zu. Jaulen und Brummen, wie von jungen Hunden, war die Quittung der Kinder. »Wir wollen spielen!«, schimpften sie im Duett und versuchten die Spielgeräte wieder aufzuklappen. Ihre