Dirk Christofczik

Die Mondsteindiät


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gedacht war.

       »Haben Sie mit der Ernährungsberaterin gesprochen, die ich ihnen empfohlen habe?«, fragte der Doktor.

       »Diese Frau Floren?«

       »Ja, genau!«

       »Ich war bei ihr, wir haben sehr lange miteinander gesprochen, und sie hat mir einen individuellen Ernährungsplan aufgestellt.«

       »Und?«

       Roman schnäuzte erneut in das Taschentuch, danach tupfte er sich die letzten Tränen vom Gesicht.

       »Es hat eine gewisse Zeit lang funktioniert, ich war fest entschlossen, endlich abzunehmen. Nach zwei Wochen hatte ich vier Kilo runter. Ich war überzeugt, dass ich durchhalten würde. Aber es ging wieder schief.«

       »Was ist passiert?«, wollte der Arzt wissen.

       »Genau das, was immer passiert! Alles stürzte auf mich ein! Bei der Arbeit lief es schlecht, die Krankenkasse schickte eine Ablehnung der Kostenübernahme für die IPL-Behandlung und ein paar von diesen widerlichen Skinheads scheuchten mich eines Abends johlend durch den Bahnhof. Gott sei Dank konnte ich in eine U-Bahn flüchten, sonst hätten mich die Vollidioten totgeschlagen.«

       »Das tut mit Leid«, sagte der Doktor bedrückt.

       »Tja, was dann kam, können Sie sich denken. Von einer Sekunde auf die andere war mir alles scheißegal. Ich habe geheult und wie ein Schwein gefressen. Den halben Supermarkt habe ich leer gekauft: Schokolade, Eis, Kuchen, Chips! Das ganze Sortiment, von A bis Z! Seit zwei Wochen mache ich jetzt wieder Diät, solange bis zum nächsten Rückfall.«

       Doktor Goldberg richtete sich in seinem Stuhl auf. Seine Brille war ihm fast bis zur Nasenspitze gerutscht. Mit einer lethargischen Bewegung schob er sie zurück vor seine eisgrauen Augen.

       »Sie wissen selbst, dass es so nicht weitergeht.«

       »Natürlich weiß ich das.«

       »Nicht nur ihre Geschlechtsanpassung rückt durch Ihre Fettsucht in weite Ferne, auch ihre allgemeine Gesundheit ist durch ihre Lebensweise bedroht. Ihr Blutdruck ist zu hoch, genau wie der Wert ihrer Blutfette und der Harnsäure. Es muss etwas passieren, und zwar schnell.«

       Roman wusste, dass er sich zu Tode fraß, wie ein Raucher wusste, dass er seine Lunge mit jeder Zigarette allmählich in eine Teerhalde verwandelte. Aber er kam nicht los von den Verlockungen der Süßwarenabteilungen. Essen war sein Antidepressivum, Fett und Kalorien der Balsam für seine abgewrackte Seele, die in diesem vermaledeiten Männerkörper steckte. Roman brauchte sich nichts vormachen, ohne ein Wunder würde er immer weiter fressen. Eines Tages würde man bei You Tube sehen können, wie ein toter Fleischberg an einem Kran aus dem Fenster seiner Wohnung gehievt wurde.

       »Es gibt noch eine weitere Möglichkeit, um ihnen zu helfen«, unterbrach der Doktor Romans morbiden Gedanken.

       Was nun kam, wusste Roman genau. Sie hatten schon mehrfach darüber gesprochen und Roman hatte kategorisch abgelehnt. Das war vor mehr als einem Jahr, als er noch vor Tatendrang sprühte und das Abnehmen nur als minimalen Stolperstein vor seinem Ziel der endgültigen Geschlechtsumwandlung ansah. Doch der kleine Stein war zu einem unüberwindbaren Felsen geworden. Ihm wurde bewusst, dass es nur noch einen Weg gab, sein Übergewicht zu bekämpfen: ein Magenband!

      Kapitel 5

      Karl liebte Feuerwerk! Sylvester war für ihn der schönste Tag des Jahres. Der Jahreswechsel erinnerte ihn regelmäßig an seine Kindheit, als er mit seinen Freunden um die Häuser zog und die verrücktesten Experimente mit Knallern ausprobierte. China Böller wurden in Flaschen, Dosen und Briefkästen geworfen. Einmal steckten sie einen dicken Knaller in einen Hundehaufen und die umherfliegende Scheiße prasselte auf eine alte Frau nieder. Damals bibberte Karl einen ganzen Tag in seinem Zimmer, fest überzeugt, dass jeden Augenblick die Polizei klingeln würde, um ihn abzuführen und in irgendein dunkles Verlies zu werfen. Gleich am nächsten Tag war die Angst verflogen und die Knallerei ging weiter. Der Spaß zog sich bis Neujahr, dann schlenderten seine Freunde und er durch die von Feuerwerksresten zugemüllten Straßen und machten sich auf die Suche nach Blindgängern. Es war immer eine besondere Mutprobe, die kurzen Zündschnüre anzustecken und den Böller früh genug wegzuwerfen, bevor er einen die Hand zerfetzte.

       Auch als Erwachsener besorgte sich Karl jedes Jahr ein Sortiment an Knallkörpern und frönte dem Hobby seiner Kindheit. Sein Hartz IV Budget war zwar schmal, doch ein paar Böller gönnte er sich auch dieses Mal.

       Draußen war es bereits dunkel, als Karl aus dem Keller seines Hauses kam, in der Hand eine Keksdose, in der er sein diesjähriges Feuerwerkssortiment verstaut hatte. Regen platschte an die Fensterscheiben, der den Schnee der letzten Wochen in glitschige Matsche verwandelte. Besorgt schaute Karl an die Decke des Wohnzimmers, wo sich ein alter brauner Wasserfleck wie ein Fresko auf dem Putz ausbreitete. Notdürftig hatte er vor dem Winter das Dach abgedichtet, reine Flickschusterei, für mehr war kein Geld da. Nun hoffte Karl, dass das Dach noch wenigstens bis zum Frühjahr hielt. Nicht, dass er dann Geld für Reparaturen an dem maroden Häuschen zur Verfügung hätte, das er nach dem Unfalltod seiner Eltern vor sieben Jahren geerbt hatte, aber am 01.04.12 würde er das Haus räumen müssen. Er hatte das Gebäude an eine Wohnungsbaugesellschaft veräußert, die auf seinem Grundstück und dem anliegenden Brachgebiet eine Siedlung mit Eigenheimen bauen wollte. Die Agentur für Arbeit begrüßte das Angebot und riet Karl auf den Deal mit der Wohnungsbaugesellschaft einzugehen. 50000 Euro bot man ihm für sein Haus und Grund an, die dann natürlich auf seine Hartz V Bezüge angerechnet werden sollten. Karl merkte schnell, dass die Wohnungsbaugesellschaft sein Grundstück unbedingt benötigte und er davon profitieren konnte. Er bot der Gesellschaft an, für eine weitere Zahlung von 30000 Euro auf das Angebot einzugehen. Die Zusatzzahlung sollte natürlich in bar und unter der Hand gezahlt werden. Tatsächlich ging man auf seine Forderung ein, außerdem gewährte man ihm bis zum Frühjahr 2012 das Wohnrecht in seinem Haus. Das Schwarzgeld wurde sofort ausgezahlt und mit einem Schlag verfügte Karl über ein erkleckliches Vermögen.

       Doch das Geld brachte Karl kein Glück. So schlau, wie er mit der Wohnungsbaugesellschaft verhandelt hatte, umso dümmer stellte er sich nach Erhalt des Geldes an. Die gesamte Summe investierte er in angeblich todsicheren Aktien, die ein Bekannter ihm empfahl und auf seinem Namen für ihn erwarb. Tatsächlich schossen die Wertpapiere wie Raketen in die Höhe, während der Rest der Börse von einem Tsunami überrollt wurde. Karl wähnte sich bereits am Ziel seiner Träume, durchforstete das Internet für den idealen Ort für seine Strandbar. Er dachte an die Malediven, Curacao und fantasierte von heißen Nächten in der Karibik, solange bis in die Rückwelle des Tsunami mit voller Wucht traf. Sein vermeintlicher Freund hatte ihn sauber reingelegt. Von einem Tag auf den anderen Tag war er wie vom Erdboden verschluckt, samt Karls Aktien, die gar nicht seine Aktien waren, da sie ihm offiziell gar nicht gehörten. Sein Traum zerplatzte wie eine Seifenblase.

       Im nächsten Jahr würden zwar noch einmal 50000 Euro fließen, aber dafür verlor er sein Haus und die Unterstützung vom Staat. Um ein neues Leben im Süden anzufangen, reichte die Summe nicht.

       Karl ging mit der Knallerdose in die Küche. Sein Jack Russell Terrier Jacko döste in seinem Korb und nahm nicht einmal Notiz von seinem Herrchen. Der Hund war mindestens zwölf Jahre alt, genau wusste es Karl nicht. Genau wie das Haus, war Jacko ein Erbe seiner Eltern. Er mochte den Hund. Das Tier war still, begnügte sich mit einem kurzen Spaziergang am Tag und fraß nicht viel.

       Am Küchentisch war Karls Lieblingsplatz. Dort trank er gern ein Bierchen, schaute aus dem Fenster auf das Brachgebiet neben seinem Haus, wo vor Jahren noch eine Reithalle stand, und beobachtete Vögel und streunende Katzen. Heute hatte er für das Gekreuche und Gefleuche vor seinem Haus keine Augen. Seine Knaller waren das Einzige, was Karl im Moment interessierte.

       Auf dem Küchentisch fand gerade eine Schlacht statt. Eine Kompanie von leeren Bierflaschen marschierte auf ein Heer aus offenen Raviolidosen, zerknüllten Papiertaschentüchern und verkrusteten Tellern zu. Desertierte Kronkorken befanden sich auf der Flucht, einige waren in eine Schlucht gestürzt und lagen reglos auf dem Küchenboden. Halb volle Weinflaschen sicherten die Flanken ab und unterstützten den Vormarsch der Bierflaschen.