Dirk Christofczik

Die Mondsteindiät


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er machte nur seine Arbeit. »In Ordnung! Ich wünsche …« Zyprian hatte bereits aufgelegt. Tom hasste diesen ungehobelten Kerl. Wenigstens vom Selbstmord hatte ihn der Leiter der Sonderkommission Meteor abgehalten, ob das gut war, würde sich erst noch zeigen. Tom starrte die Waffe auf seinem Schreibtisch an. Die Lust sich eine Bleikugel in den Schädel zu jagen, war ihm vergangen. Zumindest für den Augenblick, denn seine Arbeit war wie ein starkes Schmerzmittel für ihn. Wenn er ermittelte und auf der Straße war, vergaß er seine Probleme, verscheuchte sie zeitweise in die hintersten Stübchen seines Gehirns. Erst wenn er wieder nach Hause kam, zurück in seine Wohnung, dann verfiel er seiner Sucht, die stärker war als sein Verstand. Das verlorene Geld, das er in den virtuellen Schlund des Online-Pokerns geworfen hatte, tat zwar weh, war aber nicht der Grund für seine Lebensmüdigkeit. Vielmehr quälte ihn die Tatsache, dass er nichts anderes mit seinem Leben anzufangen wusste, als jede freie Minute vor dem Rechner zu hocken und zu zocken. Poker spielen war nur ein Ast an dem dicken Stamm namens Internet. Seit er Ende der Neunziger Jahre zum ersten Mal Online ging, war er süchtig nach nahezu allen Auswüchsen, die das Netz bot. Anfangs trieb er sich in diversen BTX-Chats herum, meistens erotischer Natur und verprasste Hunderte Euro im Monat, um sich verbal zu befriedigen. Es folgten AOL-Rooms, in denen er Porno Bilder tauschte und den einen oder anderen schlüpfrigen Kontakt herstellte, aus denen sich allerdings niemals etwas Reales ergab. Sein erster Einzelverbindungsnachweis wurde von seiner Telefongesellschaft in einem Karton versandt. Es folgte Online-Roulette, Sportwetten und diverse Online-Rollenspiele, in deren Welten er sich die Nächte um die Ohren schlug. Nebenbei lud er Filme und Musik aus dem Netz, bis die Kupferleitung glühte. Sein Leben spielte sich außerhalb der Arbeit nur im Internet ab. Tom vernachlässigte und verlor seine Freunde. Seine Arbeitskollegen waren die einzigen realen Kontakte, alle anderen Bekannten waren Avatare. Es wunderte ihn nicht, dass er schließlich beim Pokern hängen geblieben war. Es war nur eine weitere Versuchung des Molochs Internets, der er nicht widerstehen konnte. Nun hatte Tom zumindest eine neue Aufgabe, die ihn für eine Weile vom Pokern und seinen Suizidgedanken abbringen würde. Er stand von seinem Bürostuhl auf. Sein T-Shirt klebte auf dem Rücken, klamm von der anstrengenden Pokernacht. Tom war müde und ausgezehrt, sowohl physisch als psychisch, dabei verströmte er einen widerlichen Gestank nach kaltem Schweiß und muffiger Unterwäsche. Trotzdem war er plötzlich voller Neugier und Elan, denn die Aussicht aus der Wohnung rauszukommen und an einem Fall zu ermitteln, durchströmte ihn mit Tatendrang. Er griff sich seine Arbeitstasche, die neben dem Schreibtisch auf dem Boden stand, und holte sein Dienstlaptop hervor. Nachdem der Rechner gestartet und Online war, öffnete er das Mail Programm und aktualisierte seinen dienstlichen Account. Die von Zyprian angekündigte Mail befand sich bereits in seinem Postfach. Neugierig las Tom die Informationen über den Meteoriten, der etwa zur Jahreswende über dem zentralen bis östlichen Ruhrgebiet auf die Erde eingeschlagen war. Da die Angaben nur sehr spärlich waren und sehr wenig Details enthielten, war Tom sofort klar, dass es ein schwieriges Unterfangen werden würde, den Meteorit zu lokalisieren. In den letzten zwölf Monaten gab es allein in Deutschland acht bestätigte Meteoriteneinschläge, von den lediglich fünf Einschlagstellen ausfindig gemacht werden konnten. In den meisten Fällen waren die Meteoriten so klein, dass sie erst von der Flugraumüberwachung registriert wurden. Meistens gab es Sichtungen von Bürgern, die dann besorgt bei der Polizei anriefen. Im aktuellen Fall kam erschwerend dazu, dass die Flugüberwachung in der Silvesternacht mit Störungen zu kämpfen hatte und der Meteorit nur kurz registriert werden konnte. Meldungen von besorgten Bürgern lagen bisher nicht vor, offensichtlich war der Meteorit zwischen den Raketen und Knallern nicht aufgefallen. Tom studierte eine Weile die Bilder und Grafiken, die man in den Stunden seit dem Einschlag eilig zusammengestellt hatte. Nach einigen Minuten, in denen er ideenlos auf die Dokumente starrte, loggte er sich mit seinem dienstlichen Laptop in sein Heimnetzwerk ein und druckte eines der Satellitenbilder aus der Mail aus. Es war eine Aufnahme des Ruhrgebiets, ähnlich der Bilder, die man von der Wettervorhersage aus dem Fernsehen kannte. Die Aufnahme war wenige Stunden alt, was eine Datumsangabe am unteren Rand des Fotos besagte. Jemand hatte mit einem Edding einen Kreis auf das Foto gemalt, der große Teile des östlichen und zentralen Ruhrgebiets markierte. Ein riesiger Heuhaufen, in dem irgendwo die Nadel in Form eines Steines aus dem Weltall steckte. Tom wartete vergeblich auf einen Geistesblitz, der ihm auf die Idee brachte, wo er seine Ermittlungen beginnen sollte. Trotzdem kam er nicht umhin, irgendwo anzufangen. Aus diesem Grund hob er seine Hand und legte seinen Zeigefinger auf die Mitte des eingekreisten Gebietes: Bochum!

      Kapitel 7

      Graue Lichtstreifen drängten sich durch die Ritzen der Schlafzimmerrollladen. Die Null-Nacht war endlich zu Ende: null Schlaf und null Erholung! Seine Gedanken waren die ganze Zeit bei dem unbenannten Etwas gewesen, das nur wenige Meter von seinem Haus abgestürzt war. Mit seiner blühenden Science-Fiction Fantasie malte er sich die unheimlichsten Dinge aus. Er dachte an fiese kleine Aliens, die in Miniaturraumschiffe die Welt erobern wollten und die Menschen wie Fliegen zerdrücken würden. Allerdings fand er keine Erklärung dafür, warum diese Außerirdischen ihren Angriff auf die Erde in Bochum beginnen sollten. Aber möglicherweise war es eine konzertierte Aktion und in jeder größeren Stadt der Welt ist eines dieser Objekte heruntergekommen. Vielleicht stand das Ende der Welt bevor, zwei Jahre zu früh, aber warum sollten sich Aliens auch an den Maya Kalender halten. Karl überlegte einfach liegen zu bleiben, bis die Außerirdischen in sein Schlafzimmer eindringen würden, um ihn wie die restliche Menschheit zu assimilieren.

       Plötzlich hörte er Jacko aus der Diele jaulen. Der Hund hatte Hunger, daran änderte auch eine Alieninvasion nichts. Karl spürte ein Grummeln im Magen, die unmissverständliche Aufforderung seines Magens nach Kaffee und Brot. Langsam raffte er sich auf und verließ das Bett. Mit einem mulmigen Gefühl schlurfte er zum Fenster. Er legte seine Hände an das Rollladenband, dann schloss er die Augen und zog den Rollladen hoch. Langsam öffnete er seine Lider, vorbereitet auf ein Weltuntergangsszenario, brennende Häuser, ein Himmel voller Raumschiffe oder Menschen, die eingesponnen in Arachnoiden-Alien-Kokons an den Bäumen des Brachgebietes hingen. Doch es war alles so, wie es immer war. Aus einem stahlgrauen Himmel nieselte Schneeregen, die Sonne versteckte sich hinter einem dunklen Wolkenband. Der Grüngürtel vor seinem Haus lag unberührt da, Zweige und Ästen wippten im Wind hin und her. Karl atmete durch!

       Im Korridor traf Karl auf Jacko. Der Hund saß vor der Haustür und jaulte leise vor sich hin. Als er Karl bemerkte, drehte er sich um und schlich ihm auf seinen Gicht geplagten Beinen entgegen, dabei schaute er ihn aus seinen wässrigen, vom Grauen Star getrübten Augen erwartungsvoll an. Karl streichelte seinem treuen Begleiter über den Kopf, dann füllte er seinen Napf mit Futter und wechselte in seiner Schale das Wasser aus. Anschließend brühte er sich einen Kaffee auf und schmierte sich ein Käsebrot. Am Küchentisch aß und trank Karl, dabei schaute er durch das Küchenfenster auf das Dickicht. Bei dem Gedanken nachzusehen, was da draußen heruntergefallen war, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Andererseits war er ein neugieriger Mensch, und bevor er nicht mit eigenen Augen gesehen hatte, was da draußen lag, würde er keine Nacht in Ruhe schlafen.

       Karl stellt seine Kaffeetasse ab, biss noch einmal von seiner Stulle ab, dann stand er auf und rief seinem Hund zu: »Jacko, Zeit zum Gassi gehen.«

       Der Schneeregen hatte sich in heftigen Schneefall verwandelt. Dicke Flocken rieselten vom Himmel, verschwanden aber postwendend, wenn sie auf dem nassen Boden aufkamen. Karl trug seinen Parka, eine alte Jeans mit Ölflecken und schmutzige Gummistiefel. Ungewöhnlich elanvoll wetzte Jacko Richtung Dickicht und verschwand einen Augenblick später zwischen den dichten Büschen. Karl trottete die schmale Stichstraße hoch, die sich von der Castroper Straße, an seinem Haus und der Brache vorbei, bis zu einem Nebengang des Deutschen Telekom Geländes führte, das sich weitläufig zwischen der Justizvollzugsanstalt Krümmede und den Bochumer Stahlwerken ausbreitete.

       Nach einigen Metern führte ein Trampelpfad zwischen den Büschen und Bäumen hinein in den wilden Grüngürtel. Karl blieb stehen. Er könnte jetzt umdrehen, die Polizei rufen oder einfach vergessen, was in der letzten Nacht geschah. Oder er fand heraus, was in der vergangenen Nacht wie eine reife Frucht vom Himmel geplumpst war. Zwiespältig schaute er den schmalen Weg entlang, der ein Stück in die Brache hineinführte und dann vor einer dichten Wand aus Büschen und Bäumen endete.

       Karl überlegte nicht lange,