Dirk Christofczik

Die Mondsteindiät


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höchste Zeit, die Küche auf Vordermann zu bringen. Neujahr war ein guter Tag, um sauber zu machen, entschied er spontan und entzog sich dem Durcheinander.

       Ohne sich weiter um das Chaos in seiner Küche zu kümmern, griff sich Karl seine Knallerdose und ging ins Wohnzimmer. Dort sah es nicht viel besser aus. Überall lag Müll auf dem Boden, dazwischen schmutzige Unterhosen, gebrauchte Taschentücher und leere Bierflaschen. Er setzte sich auf den abgewetzten Cordsessel, dann schob er einen Stapel Unrat zur Seite, damit er die Dose auf dem antiquierten Marmortisch abstellen konnte.

       Die nächste halbe Stunde war er damit beschäftigt, seine Chinaböller auszupacken und nach Größe und Stärke zu ordnen.

       Danach buk er sich eine Fertigpizza im Backofen auf, trank ein paar Flaschen Bier und schaute die obligatorischen Silvestersendungen im Fernsehen.

       Karl schreckte verwirrt aus seinem Sessel auf. Im Fernsehen grölten die Atzen ihre unsägliche Partymusik. Er schaute auf die Wanduhr und stellte fest, dass er den ganzen Abend verschlafen hatte. Es war kurz nach halb zwölf, Gott seid Dank hatte er das Feuerwerk nicht verpasst. Eigentlich ging er immer eine Stunde vor Neujahr nach draußen, dann war es noch ruhig genug, um seine Knaller auch zu hören. Um Mitternacht herrschte dann ein riesiges Tohuwabohu und das eigene Feuerwerk ging in einer Kakofonie aus China Böllern und Raketen unter.

       Jetzt wurde es allerdings Zeit nach draußen zu kommen, wenn er noch Spaß mit seinem Knallern haben wollte.

       Karls Knochen knackten wie Schiffsplanken, als er sich mühsam aus dem Sessel aufraffte. Die Rückenschmerzen wurden immer schlimmer, gerade morgens nach dem Aufwachen, fühlte er sich oft wie ein alter Mann. Manchmal würde er morgens am liebsten liegen bleiben, den ganzen Tag, vielleicht auch den Rest seines Lebens.

       Seufzend schnappte sich Karl die Dose mit den Böllern und schlürfte in den Korridor. Dort zog er seinen Parka an, danach verstaute er die Knaller in den tiefen Taschen der knielangen Jacke. Seine Füße steckte er in dieselben Lederstiefel, die er auch als Weihnachtsmann getragen hatte. Mit einem Grinsen erinnerte er sich an die Posse im Haus seines Schulkollegen. Sämtliche Anrufe seines ehemaligen Kumpels hatte Karl ignoriert. Es gab nichts mehr zu besprechen.

       Karl wollte gerade das Haus verlassen, als ihm einfiel, dass er ein dringend benötigtes Utensil für sein Feuerwerk vergessen hatte. Er ging zurück ins Wohnzimmer und nahm die dicke Zigarre vom Tisch, die er sich wie jedes Jahr zu Sylvester besorgt hatte. Rauchen war ihm zuwider, aber mit der Glut der Zigarre ließen sich Zündschnüre hervorragend anstecken. Karl schnappte sich noch ein Einwegfeuerzeug, welches er zusammen mit der Zigarre in seinem Parka verstaute, dann machte er sich auf den Weg.

       Während seines Nickerchens hatte es aufgehört zu regnen. Trotzdem war es draußen feucht. Die Eisdecke auf dem Gehweg vor seinem Haus, Schneeschaufeln war für Karl ein Fremdwort, zeigte deutliche Auflösungserscheinungen, stellenweise lugte der graue Asphalt bereits durch. Vorsichtig tapste Karl über den schwammigen Untergrund in Richtung des Grüngürtels, der sich auf dem Gelände der ehemaligen Reithalle ausbreitete. Dichtes Gebüsch, Unkraut und hohe Farne hatten sich in den letzten Jahren explosionsartig vermehrt und das Gebiet wirkte wie ein tropischer Urwald, der aus Südamerika ins triste Bochum teleportiert worden war. Ein Paradies für Jacko, der sich mit seinen altersschwachen Läufen gern durch das Dickicht trollte. Aber Jacko war nicht der einzige Hund, der in der Brachlandschaft Auslauf fand. Viele Herrchen der Umgebung ließen ihre Vierbeiner dort laufen, was zu einer fortschreitenden Kot-Verminung des Gebietes führte. Gespickt von Hundehaufen, war es ein Kunststück in der Gegend zu spazieren und hinterher ohne Hundescheiße unter den Schuhen wieder herauszukommen.

       Karl nahm die Zigarre aus der Tasche und zog sie unter seinen Nasenlöchern entlang. Nichts duftete aromatischer als eine Zigarre, solange sie nicht brannte. Seufzend sog er den Duft des Tabaks in seine Nase. Leider blieb ihm nichts anderes übrig, als die Zigarre anzuzünden. Karl steckte sie in den Mund. Mit dem Einwegfeuerzeug zündete er die Zigarre an und paffte eine Qualmwolke in die Luft. Er achtete darauf keine Lungenzüge zu machen, damit ihm nicht schwindelig wurde.

       Jetzt konnte der Spaß losgehen. Vereinzelt hörte man bereits die Detonationen von Böllern in der Ferne, einige Raketen sprühten ihre bunten Funken in den Himmel, trotzdem war es noch ruhig genug, damit Karl seine eigene Knallorgie genießen konnte.

       Ehrfürchtig nahm er einen Chinaböller D aus seiner Tasche, eine beeindruckende rote Stange, die nicht viel kürzer als seine Zigarre war. Die kurze Zündschnur war nach seinem Geschmack. Grinsend zog er heftig an der Zigarre, bis die Glut hellrot leuchtete. Dann nahm er den Chinaböller und hielt das Ende der Zündschnur in die Glut, bis sie sich mit einem Zischen entzündete. Karl beobachtete seelenruhig die lodernde Zündschnur, die sich im rasenden Tempo dem zylindrischen Knallkörper näherte. Nur noch wenige Sekunden, bis der Böller explodieren würde. Karl blieb weiter gelassen. Er wartete, wartete, dann warf er den Knaller mit einer legeren Handbewegung von sich in die Luft, wo er nur einen Augenblick später mit einem lauten Krachen zerbarst. Karl kicherte wie ein Schuljunge, griff sich den nächsten Böller aus der Tasche und ließ ihn johlend in die Luft gehen. Einen Knaller nach dem anderen ließ er explodieren, zwischendurch zog er immer wieder an der Zigarre, um die Glut wieder zu entfachen. Karl war in seinem Element, steckte einen Böller in einen Schneehaufen, einen anderen warf er in den Gulli vor seinem Haus und freute sich diebisch über den dumpfen Knall, der durch die Nacht hallte. Als er ungefähr die Hälfte seines Sortiments verpulvert hatte, hauchte das Jahr seine Existenz aus und wurde vom nächsten in die Vergessenheit gejagt.

       Geschreie und Gejohle waren dumpf aus der entfernten Nachbarschaft zu hören. Erste Raketenbatterien erstürmten noch etwas zaghaft den Himmel. Dumpfe Explosionen und zischende Heuler durchbrachen die Stille der Nacht. Die Sterne schienen sich Bunt zu färben, der Himmel verwandelte sich in ein Meer aus roten, blauen und goldenen Entladungen.

       Karl stand da, paffte geistesabwesend seine Zigarre und beobachtete faszinierend das prachtvolle Schauspiel. Normalerweise war er kein besonders nachdenklicher Mensch, er lebte in den Tag hinein, ließ alles auf sich zukommen. Die Dinge kamen, wie sie kamen und waren nicht vermeidbar. Es gab keinen Grund sich die Gegenwart mit den Gedanken über die Zukunft zu verleiden. Doch regelmäßig zu Sylvester überkam ihn während des Jahreswechsels ein Gefühl der Nichtigkeit. Ihm wurde dann in einem Anfall von Depressionen bewusst, dass seine Existenz nur ein Fliegenschiss im Universum war. Gefangen in einem winzig kleinen Ausschnitt der Geschehnisse, vergleichbar mit einem einzigen Bild in einem endlosen Comicheft. In diesem Moment wurde Karl wieder einmal deutlich, wie wenig Zeit ihm blieb, um seinen Traum von einer Zukunft im Süden zu verwirklichen. Sein Leben war so kurz wie die gleißend helle Leuchtspurkugel, die er am Himmel beobachtete und die jeden Augenblick verglühen würde. Steil und schnell wie ein Jäger im Sturzflug raste der Lichtpunkt auf den Boden zu. Vorbei an dem glühenden Sprühregen der anderen Feuerwerkskörper bahnte er sich seinen Weg, ohne zu ahnen, dass er jeden Augenblick vergehen würde. Doch er wehrte sich vehement, wollte einfach nicht aufgeben und er glühte weiter.

       Karl betrachtete stirnrunzelnd den anwachsenden Lichtpunkt. Eine Rakete wäre längst verglüht, ebenso wie Leuchtspurmunition oder irgendeine andere exotische Pyrotechnik. Karl stutzte und starrte gebannt auf den Lichtpunkt, der sich nur noch wenige Meter über den Wipfeln der angrenzenden Bäume befand. Eine Sekunde später verließ das Geschoss sein Sichtfeld. Für einen Moment geschah gar nichts, dann folgte ein gewaltiges Krachen und ein greller Lichtblitz zuckte zwischen den Bäumen und Büschen des Brachgebietes. Karl riss erschrocken die Augen auf und wankte nach hinten. Er stieß gegen seinen Briefkasten, verlor das Gleichgewicht und fiel mit dem Hintern auf den matschigen Schnee. Perplex blieb er sitzen, starrte in das Buschwerk, wo wieder alles ruhig und dunkel war. Sein Hinterteil wurde nass, während er versuchte, sich zu beruhigen. Noch immer hämmerte sein Herz wie eine Dampframme und sein Puls bollerte im Rhythmus alter Metallica-Songs. Schließlich schaffte er es, sich langsam aufzuraffen. Erst jetzt bemerkte er, dass die Zigarre noch immer in seinem Mundwinkel steckte. Mit der Zunge stupste er sie aus dem Mund. Zischend verglühte die Zigarre im wässrigen Schnee, so wie die Lichtkugel gerade eben auf dem Gelände der ehemaligen Reithalle.

       Was hatte er da gerade gesehen, fragte sich Karl. Vorsichtig näherte er sich dem Grüngürtel, der nur wenige Schritte von seiner Haustür begann. Ein Feuerwerksartikel war es auf jeden Fall nicht, beantwortete