Dirk Christofczik

Die Mondsteindiät


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im Pott und der Dealer würde jeden Augenblick die ersten drei Gemeinschaftskarten austeilen. Dann würde sich zeigen, wie viel seine Königspärchen tatsächlich wert waren.

       Kreuz 8 war die erste Karte, die aufgedeckt wurde. Gut für Tom. Das liebliche Gesicht einer Herz Dame erschien auf dem Monitor, nicht schlecht, aber es bestand die Gefahr, dass sein Gegner zwei Damen auf der Hand hatte und mit einem Dreier in Führung gegangen war. Tom versuchte vorauszuahnen, was sein Gegner auf der Hand haben könnte. Ass Bube oder vielleicht Ass 10 konnte er sich gut vorstellen. Viele Spieler hofften auf einen Sieg durch eine Straße oder ein Pärchen Asse. In der Tat wurden viele Runden durch hohe Pärchen gewonnen. Je länger er darüber nachdachte, desto sicherer war er sich, dass Diver66, das war der Spitzname seines Gegners, mit einer Ass Konstellation spielte. Das würde Tom in höchste Gefahr bringen, falls ein Ass auf dem Tisch erscheinen würde. Die dritte Karte wurde aufgedeckt und Tom wäre fast das Herz aus der Brust gesprungen. Er erblickte das edle Gesicht eines Königs, in den Ecken der Karte thronten die diamantförmigen Karos. Er hatte einen Drilling auf der Hand, der Gewinn der Runde nur noch Formsache. Diver66 war jetzt an der Reihe die Setzrunde zu beginnen und er startete sie furios. Er schob sein gesamtes Spielkapital in die Mitte: All In! Dieser Zug zeigte die Verzweiflung seines Gegners. Seine Hand konnte er mit dem Flop nicht komplettieren, deshalb versuchte er jetzt zu bluffen, und Tom zur Aufgabe zu zwingen. Das rang Tom allerdings nur ein müdes Lächeln ab. Blitzschnell klickte er den Button, um die Wette mitzugehen. Entspannt schaute er auf den Bildschirm. Da die Setzrunden mit einem All-In beendet waren, wurden die Karten der Spieler vor den letzten beiden öffentlichen Karten, dem sogenannten Turn und dem River, aufgedeckt. Tom hätte sich beinahe an seiner eigenen Spucke verschluckt, als er sah, dass er die Hand seines Gegners völlig falsch eingeschätzt hatte. Diver66 hatte ein Achterpärchen auf der Hand und somit ebenfalls ein Drilling. Obwohl Tom mit seinen drei Königen immer noch vorne lag, machte sich ein mulmiges Gefühl in seiner Magengegend breit. Kalter Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn, ein Tropfen lief über seine Nase, platschte auf seine Lippen und hinterließ einen salzigen Geschmack. Der Dealer drehte die vorletzte Karte um. Pik 7! Tom ballte die Faust, er war immer noch vorne. »Bitte lieber Gott! Nur ein einziges Mal! Bitte nur dieses Mal! Bitte, bitte!«, bettelte er wie ein Geisteskranker vor sich hin. Dabei übertönte Toms Herzschlag sein Selbstgespräch. »Komm schon! Keine Acht, keine …« Mitten im Satz verstummte Tom. Mit offenem Mund starrte er auf den Bildschirm! Die letzte Karte war eine Herz Acht! Der ganze Inhalt des Potts wanderte zu Diver66 und Tom war pleite! Eine Ewigkeit schaute er auf den Computermonitor, wo er darauf hingewiesen wurde, dass er kein Guthaben mehr hatte, um weiter an dem Spiel teilzunehmen. Er war wie paralysiert, unfähig irgendetwas zu tun, noch irgendeinen Gedanken zu fassen. Sein Herz schlug wieder langsam, Tom war weder aufgeregt oder verzweifelt. Er fühlte nichts, er war kalt und in ihm hatte sich eine Ödnis ausgebreitet: grau, still, gefühllos. Er bewegte seinen rechten Arm, statisch und steif wie ein Roboter, öffnete blind die Schublade seines Schreibtisches. Endlich löste Tom seinen Blick von dem Monitor, wo das Pokerspiel munter weiterlief. Er schaute in die Schublade, zögerte einen Moment und nahm dann seine Dienstwaffe heraus. Er öffnete den Druckknopf und zog die Pistole aus dem ledernen Halfter. Die Glock lag kalt in seiner Hand. Stumm betrachtete er das tödliche Stück Stahl. Seit zwanzig Jahren war er bei der Polizei. Erst als Verkehrspolizist, dann bei der Kripo und seit ein paar Monaten bei einer Sonderheit der Bundespolizei. Noch nie war er gezwungen, seine Waffe zu gebrauchen. Oft malte er sich aus, wie es sein würde, wenn er die Pistole gegen eine Person richten müsste. Wäre er in der Lage das zu tun, was notwendig wäre? Würde er die Waffe heben und ohne zu zögern feuern? Gleich würde er es wissen. Tom Weber legte den Sicherungshebel der Glock um. Langsam hob er die Pistole und steckte sich den Lauf in den Mund. Der Stahl lag ihm kalt auf den Lippen. Ein bitterer Geschmack nach Öl breitete sich auf seiner Zunge aus. Tom war völlig ruhig, als er den Daumen an den Abzug legte. Einen Moment der Stille gönnte er sich noch, ein paar Atemzüge, die letzten Herzschläge! »Blau und Weiß wie lieb ich dich«, dröhnte es plötzlich durch Toms Arbeitszimmer. Vor Schreck hätte er fast den Abzug der Pistole durchgedrückt. Einen Moment dauerte es, bis er realisierte, dass es der Klingelton seines Handys war, der ihn bei seinem Selbstmord störte. Über den Lauf seiner Dienstwaffe schielte er auf sein Handy, das neben dem Aschenbecher auf dem Schreibtisch lag. Noch immer schallte die Vereinshymne aus dem winzigen Lautsprecher des Mobiltelefons. Tom zögerte kurz, dann zog er die Waffe aus dem Mund und legte sie auf den Schoss. Umbringen konnte er sich auch später noch, jetzt wollte er wissen, wer ihn sprechen wollte. Er warf einen Blick auf die Uhrzeit am rechten Rand des Monitors. Erstaunt stellte er fest, dass das neue Jahr bereits fünf Stunden alt war. Tom griff sich sein Handy, aus dem ihm noch die blecherne Stimme von Ährwin Weiss das Schalke-Lied plärrte. Auf dem Display blinkte die Nummer eines Mobilfunkanschlusses, die ihm nicht bekannt vorkam. Mit der irrationalen Idee, der Pokeranbieter könnte es sein, um sich für einen Fehler in der Software zu entschuldigen und sein Geld zurück zu überweisen, nahm er den Anruf entgegen. »Hallo!« »Herr Weber« »Ja!« »Zyprian hier!« Es war Toms Chef! Doktor Balthasar Zyprian, Kriminalrat und Leiter der Sonderkommission Meteor, zu der auch Tom gehörte. Für einen Augenblick überlegte Tom, ob es nicht doch besser gewesen wäre, sich sofort zu erschießen. Sein Chef war ein aufgeblasener Snob, hochnäsig und affektiert. Ein reaktionärer Schleimer, der seinen Vorgesetzten in den Allerwertesten kroch und seinen Mitarbeitern dabei auf den Kopf schiss. Wenn Zyprian ihn am Neujahrsmorgen anrief, dann musste irgendetwas Außergewöhnliches geschehen sein. Tom wurde neugierig. Er klemmte sich das Handy zwischen Ohr und Schulter, mit den frei gewordenen Händen packte er seine Waffe, sicherte sie und steckte sie zurück in das Halfter. »Herr Doktor Zyprian! Ein frohes neues Jahr wünsche ich Ihnen!«, log Tom. »Lassen wir den Quatsch!«, erwiderte Zyprian in seinem berüchtigten Oberschullehrerton, »Es gibt einen weiteren Vorfall!« »Ach? Einen Einschlag?« »Was sonst?«, antwortete Zyprian barsch, »Ein kleiner Brocken ist runtergekommen! Im östlichen bis zentralen Ruhrgebiet.« »Wann kommen die genauen Daten?« »Gar nicht! Es gab einen Systemausfall. Alles was wir haben, wird Ihnen in den nächsten Minuten per Mail zugestellt. Statusmeldung alle drei Stunden, an mich persönlich! Verstanden?« »Natürlich!« »Finden Sie das Ding, rufen Sie das Bergungsteam und das Ganze so schnell wie möglich.« Tom schlug innerlich die Hände über den Kopf zusammen. Er ahnte, dass er einer schier unlösbaren Aufgabe gegenüberstand. Seitdem er in die SOKO Meteorit berufen wurde, waren Zyprian und er wie Katz und Maus. Sie mochten sich nicht, das war schnell klar, allerdings war Doktor Zyprian der Leiter SOKO und deshalb in der besseren Position für einen Zickenkrieg. Tom hatte nicht die geringste Ahnung, wie er einen Meteoriten finden sollte, von dem er lediglich wusste, dass er irgendwo im östlichen Ruhrgebiet eingeschlagen war. Seit Monaten gab es merkwürdige Meteoriteneinschläge in Deutschland und in der ganzen Welt. Es waren nur kleine Steine, nicht größer als eine Kokosnuss, die er und die anderen Teammitglieder überall im Bundesgebiet aufspürten. Zum Glück richteten sie nur wenige Schäden an, landeten in Waldgebieten, Seen oder im Meer. Es gab ein paar beschädigte Häuser, aber Menschen wurden bisher nicht verletzt. Nicht nur die Häufung der Einschläge war merkwürdig, auch die Steine selber waren alles andere als gewöhnliche Meteoriten. Wie Tom im Internet recherchiert hatte, bestanden Meteoriten in der Regel aus einer Eisen-Nickel Legierung oder aus sogenannten Silikatmineralen. Wenn man sich Bilder von Meteoriten anschaute, dann musste man feststellen, dass es ich um unförmige Gesteinsbrocken mit scharfen Kanten und einer rauen Oberfläche handelte. Die Meteoriten, die Tom und seine Leute fanden, sahen ganz anders aus. In ihrer äußeren Erscheinungsform waren sie perfekt wie Kunstwerke. Mit ihren grau-weißen Oberflächen und den unzähligen fingerkuppengroßen Mulden wirkten sie wie die Arbeit eines Bildhauers. Und da war noch etwas: der Geruch! Diese Meteoriten verströmten die feinsten Düfte. Von Minze, über Zitrone bis hin zu Zimt oder Moschus, dazu gesellten sich undefinierbare Aromen, die sich zu einem Hochgenuss für die Sinne vereinten. Aus diesem Grund arbeiteten die Bergungsteams in Vollschutzanzügen, denn man fürchtete, dass die Ausdünstungen der Meteoriten unbekannten Bakterien oder Giftstoffe enthalten könnten. Bei der Hitze während des Eintritts in die Atmosphäre eigentlich unmöglich, trotzdem war man aufgrund der seltsamen Gerüche vorsichtig mit dem Wort eigentlich. Niemand in der SOKO wurde über die Hintergründe der Meteoriteneinschläge informiert. Wissenschaftliche Erkenntnisse, wenn es welche gab, wurden zurückgehalten. Gerüchte machten die Runde. Einmal hieß es, dass der Einschlag eines großen Killermeteoriten bevorstand, ein anderes