Monika Kunze

Steh-auf-Frauchen


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wenn auch nicht still.

      Die ersten Kraftwerker hingegen, die nach der Schicht nach Hause wollten, hatten alles mit angesehen: wie sich ein Kranausleger riesigen Ausmaßes von dem Tieflader löste und mit Getöse auf die Straße donnerte. Ein Ungetüm, das sich dunkel abzeichnete gegen den strahlend blauen Himmel.

      Sie hörten Bremsen quietschen, konnten nicht unterscheiden, von welchem Fahrzeug. Ein Pkw blieb ruckartig stehen.

      Plötzlich flog etwas durch die Luft, das aussah wie eine Schlenkerpuppe. Aber dieses Etwas war ein kleiner Mensch, der aus Leibeskräften schrie. Als er nach einigen Metern fast wie in Zeitlupe am Flussufer landete, ging das Schreien in leises Wimmern über und erstarb dann ganz.

      Eine bedrückende Stille breitete sich aus.

      Es war, als ob die Welt den Atem anhielte.

      Auch die Menschen verstummten und waren wie erstarrt. Niemand von ihnen schien zu wissen, was als Nächstes zu tun sei.

      Sollten sie zuerst zu dem Kind, das stumm im Gras lag, oder zu der jungen Frau, die auf dem Bürgersteig lag und noch immer ein Stück vom Kinderwagen fest umklammert hielt?

      Das stählerne Ungetüm hatte sie gestreift, das hatten einige gesehen. In dem Fall würde wohl jede Hilfe zu spät kommen. So riefen sie sich gegenseitig ihre Vermutungen zu.

      Marlene spürte von all dem nicht viel. Sie war so voller Angst und Sorge – schämte sich auch, dass sie einen Moment lang dankbar gewesen war für die schmerzfreie Dunkelheit, die auch hätte den Tod bedeuten können. Was sollte denn aus Alex werden? Wo war er überhaupt? Wieder begann sie zu tasten, löste ihre Hand irgendwie von dem Stück Metall, das sie wohl die ganze Zeit umklammert gehalten hatte. Sie musste mit beiden Händen suchen, dann würde sie ihn bestimmt schneller finden.

      Doch ihre Finger spürten nur Sand und Steine. Und Schmerzen.

      Mit dem beschämenden Gefühl, ihrem geliebten Sohn in höchster Not nicht beistehen zu können, glitt sie wieder in die Bewusstlosigkeit. Als sie gleich darauf erneut zu sich kam, wollte sie sich umschauen, aber es gelang ihr nicht, die Augen zu öffnen. Das Gehör? Es funktionierte!

      »Oje, das viele Blut …«, hörte Marlene eine weibliche Stimme lamentieren.

      »Ich glaube, ein Auge liegt neben der Frau!«, flüsterte eine andere.

      Sie hörte wieder das Geräusch, das Füße machen, wenn sie im Sand scharren. Sie konnte unterscheiden, wie Stimmen wisperten, andere schrien.

      »Ein Arzt muss her und die Polizei!«

      »Ja, die sind unterwegs«, rief jemand. Er habe gleich von der Telefonzelle aus angerufen.

      Alles war voll von aufgewirbeltem Staub. Es roch nach Schweiß und neuen Gummisohlen.

      Inzwischen bekam Marlene kaum noch Luft. Der Staub hatte sich in ihren Nasenlöchern eingenistet.

      3. Hilfreiche Hände

      »Lasst mich mal durch, ich bin Krankenschwester«, forderte eine junge, energische Stimme. Und während sich die junge Frau durch Menge schob, hatte sie wohl auch manchen etwas unsanft beiseitegeschoben.

      Dagegen verwahrte sich ein Mann mit den Worten: »Trotzdem brauchen Sie mich doch nicht so zu schubsen!«

      Die Krankenschwester kümmerte sich anscheinend nicht weiter um das Gerede. Marlene konnte ihre Nähe spüren und den leichten Duft von Mandeln wahrnehmen. Sie ächzte, als sie sanft auf die Seite gedreht wurde, ihr jemand etwas Glattes, Weiches auf das offenbar verletzte linke Auge drückte. Eine Decke oder etwas Ähnliches wurde ihr unter den Kopf geschoben.

      Es kam ihr selbst merkwürdig vor, wie genau sie alle Geräusche und Gerüche wahrnehmen konnte. Sie hatte den Eindruck, als habe sie ihren Körper verlassen, beobachte alles von Weitem, ein Geschehen, das sie auf gar keinen Fall etwa selbst betraf.

      Ihre größte Sorge galt ihrem Sohn Alex. Was ist mit ihm passiert? Ist er verletzt? Erst dann fragte sie sich, was mit ihr selbst geschehen war, wieso sie nicht einmal aufstehen oder die Augen öffnen konnte, um nach ihrem Jungen zu sehen.

      Und zu guter Letzt, nach all diesen Fragen, traf sie die grausame Gewissheit wie ein Schlag: Sie war hier keineswegs nur eine Beobachterin, sie war tatsächlich selbst betroffen. Doch das empfand sie noch nicht einmal als das Schlimmste. Am schrecklichsten fühlte sich für Marlene an, dass sie keine Möglichkeit sah, jetzt noch irgendetwas von dem Entsetzlichen ungeschehen zu machen.

      Schon von fern war jetzt ein Martinshorn zu hören. Gleich drauf quietschten Bremsen. Der Krankenwagen musste in unmittelbarer Nähe zum Stehen gekommen sein. Es roch nach Abgasen.

      »Lasst doch mal die Ärzte durch«, verschaffte sich die Krankenschwester erneut Gehör. Es klang nicht mehr so nah, also war sie vermutlich ein paar Schritte zur Seite getreten.

      »Gehen Sie bitte weiter!«, forderte eine Männerstimme, in der auch nicht die kleinste Spur von Verständnis für die Gaffer mitschwang. Die meisten Beine schienen sich auch prompt zu bewegen, die Schritte sich zu entfernen.

      Plötzlich fühlte sich Marlene emporgehoben von vier kräftigen Armen. Vorsichtig wurde sie auf die Trage gelegt und in das Innere des Krankenwagens geschoben.

      Der Arzt, Marlene kam die Stimme bekannt vor, hantierte fast geräuschlos. Sie spürte den Einstich in die Vene kaum. Als etwas Festes um ihren Oberarm gelegt und aufgepumpt wurde, hätte sie am liebsten vor Schmerz aufgeschrien.

      »Hören Sie mich, Frau Altmann?«

      Nanu, woher wusste er ihren Namen?

      Darüber schien sich auch ein Sanitäter zu wundern, denn er stellte dieselbe Frage.

      »Das ist doch die Kleine, die in der Betriebszeitung des Glaskombinats arbeitet«, bekam er zur Antwort, »sie hat mich mal interviewt.«

      Ob den anderen das interessierte, bezweifelte Marlene, denn sie hörte nicht einmal mehr ein bestätigendes Brummen.

      Stattdessen entwich die Luft leise zischend aus der Manschette des Blutdruckmessgerätes. Der Motor heulte auf, das Martinshorn dröhnte in ihren Ohren. Es war eine unangenehme Vorstellung, dass jetzt dort draußen alle anderen Fahrzeuge wegen ihr anhalten mussten.

      Ah, jetzt fiel ihr wieder ein, wie der Arzt hieß, der sie kannte: Dr. Grunert, ein Chirurg. Sie war irgendwann einmal wegen eines gebrochenen Knöchels bei ihm gewesen. Und es stimmte, dass sie ihn ein anderes Mal zu seinem Hobby befragt hatte. Ganz stolz hatte er ihr seine Zinnsoldatensammlung vorgeführt.

      Aber was tat das alles momentan zur Sache? Tausende Zinnsoldaten drehten sich in ihrem Kopf. Ihr wurde übel, und sie ließ sich wieder in die boden- und schmerzlose Dunkelheit fallen.

      »Frau Altmann?« Die laute Frage und ein leichtes Klatschen auf die Wangen ließen sie wieder zu sich kommen.

      Marlene konnte die Stimme des Arztes zwar durchaus gut hören, aber antworten konnte sie ihm auch mit äußerster Anstrengung immer noch nicht. Irgendetwas war mit ihrem Mund geschehen. Dr. Grunert tauschte ein paar medizinische Begriffe mit jemandem aus. Fachchinesisch, das sie nicht verstand.

      Eine Antwort hatte wohl sowieso niemand von ihr erwartet.

      Aber fragen wollte sie, musste sie!

      Wo ist mein Junge? Sie formulierte diese für sie so wichtige Frage im Kopf, holte tief Luft, schaffte es aber nicht, die Zunge im Mund zu bewegen. Ein kaum hörbares Röcheln entwich ihrer Kehle. Es war so leise, dass die Männer es gar nicht hätten wahrnehmen können.

      4. Nahtoderlebnis und Wahrsagerin

      »Wir verlieren sie!«, schrie jemand.

      Marlene konnte den Sinn des Rufes und das, was danach geschah, nicht mehr erfassen, denn sie raste schon in einer unglaublichen Geschwindigkeit durch grellbunte Kreise, die sich gegeneinander